19

Es war beinahe Mittag, als sie Worms erreichten. Sie hatten lange gebraucht, die kurze Wegstrecke zurückzulegen: für einen Ritt von weniger als einer Stunde die vierfache Zeit, denn Hagen hatte darauf bestanden, allen anderen aus dem Weg zu gehen. Und es waren viele gewesen, denen sie ausgewichen waren; Worms war voller Menschen, und nicht alle hielten sich an Gunthers Gebot, die unmittelbare Umgebung von Stadt und Burg nicht zu verlassen. Aber irgendwie hatten sie es geschafft, unbehelligt zu bleiben.

Sie ritten nebeneinander, Siegfrieds Pferd mit dem Leichnam des Drachentöters im Sattel zwischen sich. Das Pferd Alberichs hatten sie abgesattelt und davongejagt, den Albenkönig selbst an einer Stelle unweit der Lichtung im Wald verscharrt. Niemand würde den Zwerg vermissen, dachte Hagen mit seltsamer Wehmut Hagen hatte Siegfried zur Quelle getragen und ihn gesäubert, so gut es ging. Siegfrieds Kleider waren mit Blut getränkt, und das eingetrocknete Blut ließ sich schwer entfernen. Vielleicht war es auch nur das Bedürfnis gewesen, sich selbst zu waschen, mit dem Blut und Schmutz von Siegfrieds Körper auch die Schuld von seinen Händen zu waschen. Sie sprachen nicht viel; nur das Allernötigste, während sie sich um Siegfried und Alberich kümmerten, und kaum ein Wort auf dem gesamten Rückweg nach Worms. Hagen empfand dieses Schweigen als Qual, und er spürte, daß es Gunther ebenso erging. Es gab nichts mehr, was mit Worten noch gutzumachen gewesen wäre. Und allen Schaden, den sie mit Worten anrichten konnten, dachte er bitter, hatten sie bereits angerichtet. Trotz der frühen Stunde war das Fest in der Stadt bereits wieder in vollem Gang. Musik und Gelächter wehten ihnen entgegen, lange ehe sie ihre Pferde auf die roh gepflasterte Straße hinauflenkten, eine Horde schmutziger Kinder kam ihnen schreiend entgegengelaufen und zerstreute sich, als sie die beiden Reiter und den Toten zwischen ihnen erkannten.

Wie eine unsichtbare Schleppe zogen sie Schweigen hinter sich nach, wo sie entlangritten, Gelächter und Musik verstummten, und das Schweigen kroch weiter, nahm hinter ihnen Besitz von der Stadt und ihren Menschen, erstickte das Fest und die überquellende Fröhlichkeit. Die Männer und Frauen, die Gunther, Hagen und den Toten erblickten, erstarrten, und dann und wann hörte er eine Stimme, die Siegfrieds oder auch seinen Namen flüsterte, spürte er einen Blick, in dem sich Entsetzen mit Unglauben mischte; doch ebensooft las er Neugierde darin, eine Art teilnahmsloses Interesse. Plötzlich begriff Hagen, wie unwichtig Gunthers Tat im Grunde gewesen war. Was bedeutete es für diese Menschen hier, ob Siegfried von Xanten lebte oder starb, ob er in einem offenen Zweikampf besiegt oder meuchlings ermordet worden war? Möglicherweise - machte er sich mit Entsetzen klar, während sie sich der Burg näherten - war der Tote, den sie heimbrachten, nur der erste in einer langen Reihe: Siegfrieds Tod mochte der Beginn eines Krieges sein, an dessen Ende Worms wieder zu dem Staub geworden war, aus dem es erbaut wurde. Aber auch das spielte keine Rolle. Wie unwichtig waren sie doch alle. Wie unwichtig waren selbst Urd und ihre sterbenden Götter, ja selbst der Christengott, dessen Prediger für ihn und sich die Unsterblichkeit in Anspruch nahmen, die Macht über alle anderen Götter und die Welt erst recht. Auch sie würden vergehen und irgendwann vergessen sein.

»Was hast du, mein Freund?« fragte Gunther leise, während sie am Rande des Gauklerlagers entlangritten. Hagen wurde sich bewußt, daß ihm seine Gedanken deutlich auf dem Gesicht geschrieben standen. »Nichts.« Er lächelte. »Ich... habe vielleicht nur versucht, mich selbst zu beruhigen.«

Gunther zügelte sein Pferd. Er blickte auf den reglosen Körper Siegfrieds hinab und schüttelte schmerzlich den Kopf. »Du haßt mich«, murmelte er.

»Hassen?« Hagen dachte einen Moment ernsthaft über die Frage nach. »Nein. Wie kommt Ihr darauf?«

»Weil ich ein Schwächling bin«, flüsterte Gunther. »Die Götter mögen den Tag verfluchen, an dem ich mich auf den Thron von Worms gesetzt habe.«

Hagen antwortete nicht darauf. Was hätte er auch sagen sollen, was nicht schon hundertmal zwischen ihnen gesagt worden war? Er begriff, daß Gunther ebenso litt wie er, vielleicht mehr. Er tat ihm leid. Aber er schwieg. Ohne ein Wort ritten sie weiter. Sein Blick suchte die Burg. Fallgatter und Tor standen offen wie seit Tagen, und hinter den Zinnen blitzte es hin und wieder rot und silbern auf. Ihr Kommen mußte bemerkt worden sein, so wie die Stille, die sich fast hörbar von Worms aus ausgebreitet hatte. Auch im Lager des fahrenden Volkes war kaum noch ein Laut zu hören, und obwohl Hagen der Versuchung widerstand, den Blick zu wenden und zu den Zelten und Wagen hinüberzusehen, spürte er die zahllosen Augenpaare, die auf ihn und Gunther gerichtet waren. Vielleicht - sicher - würde Kriemhild jetzt schon wissen, daß sie zurückkamen. Der Gedanke schmerzte Hagen. Obwohl er sich mehr davor fürchtete als vor irgend etwas auf der Welt, wollte doch er es sein, der es Kriemhild sagte; kein anderer. »Ich werde die Wahrheit sagen«, sagte Gunther unvermittelt in Hagens Gedanken hinein.

Hagen brachte sein Pferd mit einem harten Ruck am Zügel zum Stehen. »Was?« fragte er scharf. »Die Wahrheit«, wiederholte Gunther. »Daß ich es war, der Siegfried hinterrücks ermordet hat.«

»Seid Ihr verrückt geworden, Gunther?« fragte Hagen heftig. Gunther seufzte. »Nein, mein Freund. Ich war niemals so vernünftig wie jetzt. Du... du bist der einzige Freund, den ich jemals hatte. Ich lasse nicht zu, daß du dich für mich opferst.«

»Ich tue es für Worms!« behauptete Hagen, aber Gunther schnitt ihm mit einer entschiedenen Geste das Wort ab. »Nein, Hagen«, widersprach er. »Ich weiß, was du sagen willst. Heute morgen habe ich dir geglaubt, aber ich habe Zeit gehabt, über alles nachzudenken. Ich will nicht mehr.« »Was?« fragte Hagen böse. »Leben?«

»Lügen«, antwortete Gunther ruhig. »Ich habe zu lange gelogen, Hagen. Ich habe mich selbst belogen, meine Freunde, dich, mein Volk. Mein ganzes Leben ist eine einzige Lüge gewesen.«

»Dann fügt ihm eine weitere hinzu«, sagte Hagen zornig. »Oder Ihr zerstört alles!«

»Nein!« sagte Gunther. Er ballte die Faust »Nein, Hagen. Ich werde die Wahrheit sagen, koste es, was es wolle, zum ersten Mal.« »Dann zwingt Ihr mich, Euch zum ersten Mal der Lüge zu zeihen«, antwortete Hagen kalt. Gunther starrte ihn an. »Du...«

»Ich werde bei dem bleiben, was wir besprochen haben«, fügte Hagen mit fester Stimme hinzu. »Geht hin und sagt, daß Ihr es wart, der Siegfried von Xanten erschlug. Ich werde behaupten, daß ich es war.«

»Sie werden dir nicht glauben, Hagen«, erwiderte Gunther. Er wirkte verstört. »Ich bin der König von Worms. Mein Wort steht gegen deines.« »Ich werde behaupten, Ihr hättet diesen Plan ersonnen, um mein Leben zu schützen«, fuhr Hagen fort. »Ich werde sagen, Ihr vertrautet auf Eure Macht und Eure Unberührbarkeit als König und glaubtet, mir diesen Freundschaftsdienst schuldig zu sein. Jeder wird es mir glauben.« Gunther stöhnte wie unter Schmerzen. »Warum bist du so grausam, Hagen?« flüsterte er. »Warum jetzt auch noch du? Warum nimmst du mir auch noch das Letzte, was mir geblieben ist?«

»Um Euch zu retten. Euch und Worms. Und vielleicht mich. Wie lange, glaubt Ihr, würde ich Euch überleben, wenn sie Euch umbrächten? Eine Stunde? Zwei? Kaum, denn sie würden erst mich töten und dann Euch. Und jetzt kommt weiter. Eure Schwester erwartet uns.« Und damit riß er sein Pferd herum, stieß dem Tier die Absätze in die Flanken und sprengte die letzten hundert Schritte den Weg hinauf und über die Zugbrücke in den Hof hinein.

Wie er erwartet hatte, war ihr Näherkommen bemerkt worden. Eine neugierige Menschenmenge hatte sich auf dem Hof versammelt, und aus dem Haus, aus den Ställen und den Gesindehäusem strömten weitere Männer und Frauen. Sie wissen es, dachte Hagen. Natürlich wußte jeder hier in der Burg, warum Siegfried von Xanten und er Worms vor Sonnenaufgang verlassen hatten. Dinge wie diese ließen sich nicht geheimhalten. Das ungläubige Staunen auf den Gesichtern, die ihm entgegenstarrten, galt einzig dem Umstand, daß er es war, der wiederkam. Er lenkte sein Pferd zwischen der gaffenden Menge hindurch, näherte sich der Treppe und sprang aus dem Sattel. Ein Raunen lief durch die Menge. Jemand rief Siegfrieds Namen. Eine Frau schrie gellend auf. Dann, als hätte sie diesen Moment genau berechnet, trat Kriemhild aus der Tür.

Und Hagen erstarrte.

Die Angst war da. Eine Furcht, die ihm die Kehle zuschnürte, die alles, was er sich auf dem Weg hierher zurechtgelegt hatte, zunichte machte und ihn aufstöhnen ließ. Kriemhild blieb einen Augenblick in der Tür stehen, ehe sie mit einem halb erschrockenen, halb erleichterten Aufschrei die Stufen hinablief und ihm entgegeneilte. Mit wehendem Haar rannte sie auf ihn zu, prallte fast gegen ihn und ergriff ungestüm seinen Arm. »Hagen!« rief sie. »Ihr lebt! Gott sei gedankt, Ihr lebt!« »Ja«, murmelte Hagen. »Ich lebe.« Kriemhilds Gesicht begann vor seinen Augen zu zerfließen wie ein Spiegelbild im Wasser, in das ein Stein geworfen wurde.

»Dann... dann habt ihr nicht gekämpft?« fuhr Kriemhild errregt fort »Siegfried erzählte mir, was geschehen war, und ich hatte solche Angst um Euch und...« Sie verhaspelte sich, brach ab und blickte an Hagen vorbei auf den Hof hinaus, konnte aber offensichtlich in dem Gedränge am Tor weder Gunther noch Siegfried ausmachen. Kurz darauf fuhr sie im gleichen hastigen Tonfall fort: »Ihr wißt nicht, wie ich mich freue, Euch gesund und lebend wiederzusehen! Ich habe Stunde um Stunde gebetet, daß Euch kein Haar gekrümmt wird, Hagen. Ich habe Gott angefleht, daß Ihr nicht kämpfen würdet - und«, fügte sie mit einem verschämten Blinzeln hinzu, »auch ein paar Eurer heidnischen Götter, Hagen von Tronje. Und ich sehe, meine Gebete wurden erhört« Hagens Herz tat weh, so hart schlug es. Seine verwundete Lippe platzte auf. Ein Blutstropfen versickerte in seinem Bart Er merkte es nicht »Ihr... Ihr irrt Euch, Kriemhild«, flüsterte er.

Etwas in Kriemhilds Blick erlosch. In die Erleichterung mischte sich Verwirrung, dann, ganz langsam, aufkeimender Schrecken. »Was meint Ihr damit, Hagen?« fragte sie.

»Eure Gebete waren... umsonst«, antwortete Hagen. Das Sprechen fiel ihm schwer. Seine Zunge wollte ihm den Dienst verweigern. »Wir haben gekämpft.«

»Ihr habt...« begann Kriemhild. Sie brach verwirrt ab, blickte wieder auf den Hof hinaus und starrte Hagen an. Dann fuhr sie zusammen. »O Gott, ja!« flüsterte sie. »Ihr seid verwundet! Ich war so erleichtert, daß ich es im ersten Moment nicht einmal bemerkt habe. Aber Ihr lebt, das allein zählt Was ist geschehen? Hat Siegfried Euch das Leben geschenkt, oder seid ihr beiden Kindsköpfe doch noch rechtzeitig zur Vernunft gekommen?« Sie lachte, aber es klang nicht ganz echt.

Wieso begreift sie denn nicht? dachte Hagen entsetzt. Wieso begreift sie denn noch immer nicht, was geschehen ist?

»Was habt Ihr, Hagen?« fragte Kriemhild. »Warum starrt Ihr mich so an? Was ist geschehen? Antwortet doch endlich. Warum habt ihr aufgehört zu kämpfen, und wo ist Sieg...« Und in diesem Moment begriff sie endlich, was wirklich geschehen war.

Etwas in ihr zerbrach. In ihrem Gesicht regte sich nichts, überhaupt nichts, aber Hagen spürte es wie eine Messerklinge, die ihm ins Herz gestoßen wurde. Etwas in Kriemhild starb im selben Moment, indem sie begriff, was sein Schweigen bedeutete, das Blut auf seinen Kleidern, der goldschimmernde Griff des Balmung, der aus seinem Gürtel ragte. Langsam wich Kriemhild vor ihm zurück Sie blickte auf den Hof, die Menschenmenge, die sich geteilt hatte, um Gunther hindurchzulassen, auf das zweite Pferd, das er am Zügel führte, auf den schlaffen Körper, der über dem Sattel hing, das Gesicht nach unten gewandt und den Schild auf den Rücken geschnallt, um die furchtbare Wunde zu verbergen. Etwas in Kriemhild starb, schnell und für immer, und er konnte sehen, wie es erlosch. Jetzt, das spürte er, hatte er sie endgültig verloren. Es dauerte lange, ehe Kriemhild die Kraft fand, sich von ihrem Platz zu lösen und Gunther entgegenzugehen, und noch länger, eher auch er sich umwandte und ihr folgte. Die Menschen auf dem Hof hatten eine Gasse für Gunther gebildet und diese hinter ihm nicht wieder geschlossen, als wäre der Boden, über den er geschritten war, besudelt Zwei Männer der Torwache hatten Siegfried vom Pferd gehoben und behutsam am Fuße der Treppe niedergelegt Kriemhild war neben ihm auf die Knie gesunken, und Gunther stand ein Stück abseits, dicht bei den anderen, die eine geschlossene Mauer aus Leibern um die schreckliche Szene herum bildeten, und doch unsagbar allein. Kriemhild weinte nicht Ihr Gesicht zeigte nicht die geringste Regung. Nicht einmal ihr Hände zitterten, als sie Siegfrieds Stirn berührte. Erst als Hagen bei ihr anlangte und neben ihr stehenblieb, sah sie auf. Und erst in diesem Moment erwachte der Schmerz in ihr; ganz langsam, zögernd. Ihre Augen wurden dunkel und weit vor Trauer. Aber keine Träne schimmerte darin.

»Ihr habt ihn erschlagen.« Es war kein Vorwurf in diesen Worten. Es war eine reine Feststellung. Vielleicht war es gerade das, was sie für Hagen so entsetzlich machte.

»Ja«, flüsterte er. Das war alles. Keine Bitte um Verzeihung, kein tröstendes Wort. Was hätte es genutzt? Warum schreit sie nicht? dachte er. Warum schlägt sie nicht mit Fäusten auf mich ein? Es wäre ihm eine Erleichterung gewesen.

Aber Kriemhild tat nichts von alledem. »Ihr habt ihn besiegt«, flüsterte sie in ungläubigem Entsetzen. Sie hat es noch nicht begriffen, dachte er. Nicht wirklich. Plötzlich fiel ihm die Stille auf. Der Hof war gedrängt voll mit Menschen, aber nicht der geringste Laut war zu hören. Wo war Brunhild? Und wo Siegfrieds Nibelungenreiter?

»War es... ein guter Kampf?« fragte Kriemhild plötzlich. Hagen erschrak. Ganz sacht schüttelte er den Kopf. »Es gibt keinen guten Kampf, Kriemhild«, sagte er. »Aber er war ein schrecklicher Gegner. Der schlimmste, den ich je ...«

»Mußtet Ihr ihn deshalb töten?« fiel ihm Kriemhild ins Wort. Irgend etwas in ihrer Stimme war anders. Sie klang noch immer ganz ruhig, aber es war eine Kälte darin, die Hagen mit Grauen erfüllte. Kriemhilds Finger glitten zärtlich, fast liebkosend über Siegfrieds geschlossene Augen und über sein Gesicht.

»Er hat gekämpft wie ein Gott, Kriemhild«, flüsterte er. »Ich hatte keine Wahl. Ich habe nie gegen einen Mann gefochten, der besser war.« »Und trotzdem habt Ihr ihn erschlagen«, sagte Kriemhild. »Wie er es gesagt hat« Sie hörte nicht auf, Siegfrieds erstarrtes Gesicht zu streicheln. »Er hat es gewußt. Heute morgen, als er mich verließ, hat er es mir gesagt Ich habe ihm nicht geglaubt Aber ich habe gebetet.« Sie schwieg einen Moment »Für Euch«, fuhr sie dann fort, mit einer Stimme, die wie aus Glas war. »Ich habe für Euch gebetet, Hagen. Für Euch! Ich habe vor Angst gezittert, jeden Augenblick zwischen seinem Fortgehen und jetzt, vor Angst um Euch. Aber Ihr habt ihn erschlagen.«

»Es war ein ehrlicher Kampf, Kriemhild«, mischte sich Gunther ein. Kriemhild beachtete ihn gar nicht »Ihr habt ihn erschlagen«, wiederholte sie tonlos. »Ihr habt mein Leben zerstört, Hagen, wißt Ihr das?«

»Ja, das weiß ich«, antwortete Hagen.

»Er ist tot«, murmelte Kriemhild. Plötzlich sah sie auf und blickte Hagen einen langen Moment ausdruckslos an, dann legte sie die Hand auf die Brust. »Aber er lebt trotzdem«, fuhr sie fort. »Ich trage sein Kind unter dem Herzen, Hagen. Siegfrieds Sohn. Werdet Ihr ihn auch töten, wenn er alt genug ist, ein Schwert zu führen?« »Sein Kind?« fragte Gunther fassungslos. »Du bist...« »Ich trage Siegfrieds Sohn in mir«, sagte Kriemhild ganz leise. »Seinen Erben, Hagen. Er wird seinen Vater rächen, wenn er alt genug dazu ist.« Hagen lächelte. »Ich werde nicht mehr leben, wenn er alt genug ist, mich zu fordern, Kriemhild«, sagte er sanft. »Ich bin ein alter Mann.«

»O doch, Hagen, das werdet Ihr«, widersprach Kriemhild. »Ihr werdet bezahlen für das, was geschehen ist. Und wenn nicht meinem Sohn, dann mir. Das verspreche ich Euch.«

»Schweig«, sagte Gunther streng. Hagen warf ihm einen flehenden Blick zu, aber Gunther übersah ihn. Er trat mit einem herrischen Schritt zu Kriemhild und streckte den Arm aus, wie um sie in die Höhe zu ziehen. »Es war ein ehrlicher Zweikampf, wie ich noch keinen gesehen habe. Wer gibt dir das Recht...«

»Oh, du hast zugesehen?« unterbrach ihn Kriemhild, noch immer in diesem leisen, verletzenden Tonfall. »Hast du in die Hände geklatscht, als er ihm das Schwert ins Herz gestoßen hat, Bruder?« Gunther erbleichte. Seine ausgestreckte Hand ballte sich zur Faust »Laßt sie«, sagte Hagen rasch. »Der Schmerz verwirrt ihre Sinne.« Kriemhild fuhr mit einem wütenden Laut herum. »Schmerz?« rief sie. »O nein, Hagen. Ihr irrt, wenn Ihr glaubt, daß Ihr noch imstande wäret, mir weh zu tun.« Sie stand auf. »Nie mehr.«

»Kriemhild«, begann Hagen. Aber er sprach nicht weiter, als er ihrem Blick begegnete.

»Ihr habt ihn erschlagen!« Ein Lächeln, das Hagen schaudern ließ, erschien auf ihren Lippen. Ihr Blick flackerte. »Er hat es mir gesagt. Er... er hat gesagt, daß Ihr es sein werdet, der ihn tötet, eines Tages. Immer wieder hat er es mir gesagt, aber ich ... ich habe ihm nicht geglaubt« »Kriemhild, er war es nicht wert«, sagte Hagen leise. »Ich verlange nicht, daß du mir jetzt glaubst, aber er... er war nicht das, wofür du ihn gehalten hast«

»Was war er nicht?« fragte Kriemhild, und noch immer lag dieses entsetzliche, kalte Lächeln auf ihren Zügen. »Ein Mann, Hagen? Der Mann, den ich geliebt habe?«

»Er hat dich betrogen, Kind«, sagte Hagen. »In eurer Hochzeitsnacht Vielleicht sogar schon vorher.«

»Und?« fragte Kriemhild stolz. »Wer gibt Euch das Recht, darüber zu richten?«

»Hörst du denn nicht, was Hagen sagt, du dummes Weib?« fuhr Gunther wütend dazwischen. »Er hat dich betrogen. Dich und mich. Er hat deine Ehre beschmutzt und meine in den Kot gezogen. Was erwartest du?« »Betrogen?« Kriemhild lachte leise. »Du Narr. Siegfried hat mir erzählt, was geschehen ist.«»Er hat - was?« wiederholte Hagen fassungslos.

»Es war nicht seine Schuld«, sagte Kriemhild. »Die Walküre hat ihn mit ihren Hexenkräften bezaubert. Er konnte sich nicht wehren. Kein Mann aus Fleisch und Blut kann dem Zauber Brunhilds widerstehen, das solltet Ihr doch wohl wissen. Siegfried kam zu mir, ehe er Worms verließ. Er... er hat geweint vor Scham, Hagen. Er hat mir alles erzählt Er kam hierher, um Worms zu erobern, aber dann sah er mich, und er liebte mich vom ersten Moment an, so wie ich bin. Er wollte die Walküre nicht mehr. Aber sie hat ihn gezwungen. Sie hat ihn behext, damit er in ihr Bett kam, statt in das meine.«

»Und das glaubst du, du dummes Kind?« fauchte Gunther. Aber seine Stimme war unsicher. »Ich weiß, daß es so war«, sagte Kriemhild ruhig. Einen Moment hielt Hagen ihrem Blick noch stand, dann drehte er sich um und lief ins Haus, so schnell er nur konnte. Als er durch die Tür stürmte, gewahrte er ein flüchtiges Blitzen von Gold im Schatten des Tores, und obwohl es so rasch verschwand wie ein zurückgeworfener Lichtstrahl auf bewegtem Wasser, wußte er, daß es Brunhild gewesen war. Und daß sie jedes Wort gehört haben mußte, das Kriemhild gesprochen hatte. Und daß es die Wahrheit gewesen war.

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