18

Hagen fror. Es war noch früh, die Sonne war noch nicht vollends aufgegangen, und im Moos und auf den Wetterseiten der Bäume glitzerte Tau. Ein Teil von ihm hatte erbärmliche Angst, und ein anderer war von einer Kälte erfüllt, die fast schlimmer war. Er versuchte vergeblich, seine Gedanken auf den bevorstehenden Kampf zu konzentrieren, seinen Schädel leerzufegen und die Bilder vom vergangenen Abend zu verscheuchen. All seine Erfahrungen, all die kleinen Kunstgriffe, die tausend winzigen Unterschiede, die in ihrer Gesamtheit seine Überlegenheit ausmachten und die er so lange geübt und sich immer und immer wieder eingehämmert hatte, bis sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren wie die Instinkte eines Raubtieres, waren dahin. Er fühlte sich hilflos, und er war nervös, zum ersten Mal vor einem Kampf. Es war sonderbar: Hagen hatte sich stets eingebildet, keine Angst vor dem Tod zu haben. Angst - das hatte er sich oft selber sagen hören - hatte er allenfalls vor dem Sterben, nicht vor dem Tod. Jetzt begriff er, daß es keinen Unterschied machte.

Hinter ihm knackte ein Zweig, und Hagen fuhr erschrocken herum. Aber es war nur Alberich, der auf die Lichtung hinausgetreten war und am jenseitigen Ufer des kleinen Quellsees stehenblieb. Alberich bemerkte Hagens Unsicherheit wohl, überging sie jedoch. Auch der Zwerg war nervös. Und auch er hatte Angst »Er kommt«, sagte er leise.

»Schon?« Hagen betrachtete prüfend den Himmel, der noch immer mehr grau als blau war, und blickte dann in die Richtung, in der Worms lag. »Er hat es eilig.« Alberich lächelte schmerzlich. Er lief mit kleinen trippelnden Schritten um den See herum und ließ sich auf einer abgestorbenen Baumwurzel nieder. »Er erträgt das Warten so wenig wie Ihr, Hagen von Tronje«, murmelte er.

Hagen antwortete nicht. Er hockte sich am Ufer nieder, tauchte die Hände bis über die Gelenke in das eiskalte Wasser und wartete darauf, daß die Kälte die Taubheit aus seinen Gliedern - und aus seinen Gedanken - vertrieb. Alberich war die ganze Nacht über bei ihm gewesen und hatte Wache gehalten, und wenn er, oft genug, aus unruhigem Schlaf erwacht war, hatten sie geredet. Hagen erinnerte sich nicht mehr, was sie geredet hatten. Sie waren sich nähergekommen in dieser Nacht, näher als in den zwei Jahren zuvor, und deutlicher denn je spürte Hagen jetzt, wie ähnlich sie sich, bei aller Verschiedenheit, waren. Er haßte den Zwerg allein deshalb, weil er mit Siegfried gekommen war und mit seiner Düsternis und seiner finsteren Erscheinung alles versinnbildlichte, was Siegfried von Xanten für Hagen war. Zugleich empfand er eine tiefe, fast brüderliche Zuneigung zu Alberich. Vielleicht war es auch nur die Angst, die sie zusammenschmiedete.

»Werdet Ihr Siegfried besiegen?« fragte Alberich unvermittelt. Hagen sah ihn nicht an, sondern fuhr fort, die Hände im Wasser aneinanderzureihen und seine Finger geschmeidig zu machen, aber er sah das Spiegelbild Alberichs im klaren Quellwasser des Sees, und obwohl es verzerrt war und sich seine Züge immer wieder in zuckende Splitter auflösten, schien es ihm menschlicher und vertrauter denn je. »Ich weiß nicht«, antwortete er nach einer Weile. Er richtete sich auf, rieb die Hände an seinem Mantel trocken und legte die Rechte auf den goldenen Knauf des Balmung. »Mit dieser Waffe vielleicht«, sagte er. »Warum fragst du? Du weißt, wie die Chancen stehen.«

»Und es macht mir Angst.« Alberichs Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, die Hagen nur zu gut kannte. »Ihr habt gestern abend nicht nur Euer Schwert weggeworfen, sondern wahrscheinlich Euer Leben. Ihr wißt, daß Ihr Siegfried im offenen Kampf nicht gewachsen seid.« »Vielleicht«, antwortete Hagen auch jetzt. »Aber wovor hast du Angst, Zwerg? Ich spiele dein Spiel.«

Alberichs Augen funkelten. »Das mag sein«, sagte er. »Aber Ihr habt den Einsatz eigenmächtig erhöht.« »Um dein Leben, ich weiß.«

»Nicht nur um mein Leben!« sagte Alberich zornig. »Sondern auch um das Gunthers und seiner Brüder. Glaubt Ihr wirklich, Siegfried könnte sie am Leben lassen, wenn er Euch erschlägt?« Hagen erschrak Das war etwas, woran er noch nicht gedacht hatte. Alberich hatte recht. Gleich, wie dieser Kampf ausging, er würde mehr als nur ein Leben fordern, denn weder konnte Siegfried Gunther und seine beiden Brüder am Leben lassen, wenn Hagen fiel, noch würden, falls Siegfried getötet würde, seine Nibelungen den Tod ihres Herrn ungerächt lassen. Hagen begriff nicht, daß er Alberich dazu gebraucht hatte, um sich das klarzumachen. Aber er antwortete nicht, sondern schüttelte nur stumm den Kopf. Mit Bedacht löste er die Spange seines Umhanges, zog den Balmung aus dem Gürtel und machte ein paar spielerische Ausfälle gegen einen Baum, um sich an das Gewicht der Klinge zu gewöhnen. Es war wie beim ersten Mal, als er den Balmung in der Hand gehabt hatte, damals in der kleinen Kapelle im Wald, in der er um ein Haar Siegfried und Kriemhild überrascht hätte: Nach ein paar Augenblicken spürte er das Schwert kaum noch; die Klinge schien vielmehr eine natürliche Verlängerung seines Armes zu sein statt eines Stückes geschliffenen Stahles, und sie schien viel besser und schneller seinem Willen zu gehorchen als dem Druck seiner Hand. Selbst im harmlosen Ausprobieren schien sich der Balmung in einen flirrenden Lichtstrahl zu verwandeln, der wie ein gefangener Blitz hin und her zuckte, schneller, als ihm das Auge zu folgen vermochte. Welche Wunder mochte diese Klinge in der Hand Siegfrieds vollbringen?

Nach einer Weile steckte er das Schwert wieder ein, ging um den See herum auf die andere Seite der kleinen Lichtung und drehte sich einmal um seine Achse. Aufmerksam tastete sein Blick über jeden Zweig, jede Wurzel, die sich unter losem Blattwerk verbergen mochte, über jede Unebenheit des Bodens, und mit einem Male war Hagen wieder er selbst, der Kämpfer; er prägte sich jedes noch so winzige Detail seiner Umgebung ein, erkannte, was für den Kampf von Vorteil war und worauf er achten mußte, in welche Richtung er Siegfried treiben und wohin er sich von ihm lenken lassen konnte, um einen noch immer winzigen, aber vielleicht entscheidenden Vorteil zu haben. Jener reißende Wolf in ihm, der die Kontrolle über sein Denken und über seinen Körper übernahm, wenn er kämpfte, war längst nicht so stark wie früher, aber er war da, und Hagen spürte, daß er ihm beiseite stehen würde, wenn es ernst wurde. Er wußte nur nicht, ob er stark genug sein würde. »Er kommt«, sagte Alberich.

Hagen lauschte, hörte jedoch weder Schritte noch sonst ein verdächtiges Geräusch. Aber er glaubte Alberich. Der Zwerg hatte mehr als einmal bewiesen, um wieviel schärfer seine Sinne waren als die eines Menschen. »Ist er allein?« fragte er. Alberich nickte. »Ja. Und er geht sehr schnell.«

Hagen sah den Zwerg an. Auch auf Alberichs Zügen malte sich Furcht. »Warum gehst du nicht?« fragte er. »Wenn Siegfried dich bei mir findet, wird er dich töten.«

»Wenn er mich nicht bei Euch findet, auch«, antwortete Alberich. Er schüttelte den Kopf. »Ihr werdet auch um mein Leben kämpfen müssen, Hagen von Tronje. Wenn Ihr sterbt, sterbe auch ich.«

»Unsinn!« widersprach Hagen. »Du kannst meilenweit fort sein, ehe der Kampf zu Ende ist«

»Fortlaufen? Vor Siegfried?« Alberich lachte bitter. »Mir scheint, Ihr kennt den Drachentöter noch immer nicht, Hagen. Niemand kann vor Siegfried von Kanten davonlaufen. Auch ich nicht.« Endlich gewahrte Hagen einen Schatten zwischen den Büschen. Und dann trat der Nibelunge auf die Lichtung heraus. Hagen war überrascht, als er Siegfried sah. Er hatte keine klare Vorstellung gehabt, aber irgendwie hatte er wohl erwartet, daß der Nibelunge in einer Prachtrüstung in Gold und Silber erscheinen würde. Aber Siegfried trug nur ein einfaches, dunkelbraunes Lederwams, darunter Hosen aus dem gleichen Material und kniehohe Stiefel. Weder Helm noch Kettenhemd, ja nicht einmal Handschuhe. Dann begriff Hagen, daß es der Balmung war, der Siegfried bewogen haben mußte, auf jegliche Rüstung zu verzichten. Gegen die Wunderklinge schützte kein Kettenpanzer, und wie leicht sie einen Helm spaltete, hatte Hagen mit eigenen Augen gesehen. So hatte Siegfried auf jegliche Panzerung verzichtet und setzte auf die einzige Gegenwehr, die es gegen den Balmung gab: seine Schnelligkeit.

»Ihr seid früh«, sagte er.

Siegfried starrte ihn an, dann das Schwert an seiner Seite. »Ich konnte es nicht erwarten, Euch wiederzusehen, Hagen«, antwortete er. Statt einer Antwort zog Hagen das Schwert aus dem Gürtel, berührte mit der Breitseite der Klinge seine Stirn und deutete eine Verbeugung an. Siegfrieds Augen glitzerten.

Der Kampf begann ohne Vorwarnung. Ohne Vorbereitung und ohne das einem jeden Schwertkampf vor Zuschauem vorausgehende Vorgeplänkel. Sie waren einfach nur zwei Männer, die einander töten wollten. Und das waren sie im Grunde ja auch immer gewesen. Sie griffen an. Beide im gleichen Augenblick Hagen sprang mit einem gewaltigen Satz auf Siegfried zu, schwang den Balmung nach dessen Schädel und drehte sich im letzten Augenblick halb herum, um Siegfrieds Klinge zu entgehen und seinem eigenen Hieb im allerletzten Moment noch eine andere Richtung zu geben. Siegfrieds Klinge schrammte über seine Seite, zerschnitt sein Hemd und glitt an dem Kettenpanzer ab, den er darunter trug; trotzdem brachte ihn allein die Wucht des Schlages aus dem Gleichgewicht.

Aber auch Siegfried taumelte. Der Balmung hatte sein Ziel verfehlt, aber der tödliche Stahl zwang ihn zu einem komisch anmutenden Hüpfer, wollte er nicht den linken Arm oder gleich die ganze Schulter einbüßen. Doch so schnell sie voreinander zurückgewichen waren, so rasch drangen sie wieder aufeinander ein. Siegfrieds Klinge züngelte nach Hagens Gesicht, gleichzeitig fuhr der Balmung einen fingerbreit vor Siegfrieds Kehle zischend durch die Luft, und abermals taumelten die beiden Gegner auseinander, um sofort erneut aufeinander einzudringen. Siegfried kämpfte auf völlig andere Art, als Hagen es jemals bei ihm beobachtet hatte. Jede einzelne seiner Bewegungen zeigte Hagen, welchen Respekt der Nibelunge vor dem Zauberschwert hatte. Zum ersten Mal, seit Hagen ihn kannte, vertraute er nicht auf seine übermenschlichen Kräfte, sondern tänzelte mit unglaublich schnellen Bewegungen vor Hagen auf und ab, das Schwert immer wieder von der einen in die andere Hand wechselnd und ängstlich darauf bedacht, außerhalb der Reichweite des Balmung zu bleiben. Und trotzdem brachten seine Gegenschläge und suche Hagen mehr als einmal in arge Bedrängnis. Hätte er nicht Helm und Kettenhemd getragen, wäre er trotz allem schon nach wenigen Augenblicken getroffen und verwundet worden.

Aber auch so begann der Kampf bald an seinen Kräften zu zehren. Siegfried wich immer wieder vor ihm zurück und versuchte nur selten, seine Hiebe mit der eigenen Klinge aufzufangen, und der Vorteil, den das Zauberschwert Hagen verlieh, wurde rasch kleiner, denn Hagen spürte selbst, wie seine Bewegungen an Schnelligkeit und Kraft verloren. Sein Atem ging keuchend, und der Balmung schien plötzlich nicht mehr gewichtslos, sondern zentnerschwer zu sein.

Siegfried nutzte Hagens Schwäche gnadenlos aus. Blitzartig sprang er vor, tauchte geschickt unter dem heruntersausenden Balmung hindurch und stach nach Hagens Kehle. Hagen drehte im letzten Augenblick den Oberkörper zur Seite, so daß die Klinge ihr Ziel verfehlte, der Ruck brachte ihn aus dem Gleichgewicht; er strauchelte, fiel nach hinten und prallte gegen einen Baum. Siegfried schrie triumphierend auf, setzte ihm nach und schwang die Klinge mit beiden Händen. Der Balmung zuckte wie ein lebendes Wesen in Hagens Hand. Gleichsam ohne sein Zutun sirrte die Klinge hoch, schlug Siegfrieds Schwert beiseite, mit einer Wucht, daß es ihn gleichzeitig von den Füßen riß. Der Nibelunge verlor den Halt und taumelte rückwärts bis zum Seeufer zurück. Hagen starrte ihn an. Ihn schwindelte. Für einen Moment erfaßte ihn eine tiefe, übermächtige Schwäche. Siegfrieds Gestalt verschwamm vor seinen Augen. Und dann geschah etwas Seltsames.

Es war, als begänne die Klinge in seinen Händen zu pulsieren - zu schlagen wie ein lebendiges, finsteres Herz, und eine Woge ungeheuerlicher Kraft floß aus dem Griff des Zauberschwertes in seinen Arm, die alle Schwäche und alle Furcht davonschwemmte und einen einzigen Gedanken, einen einzigen Wunsch in ihm zurückließ: Siegfried, den Unbesiegbaren, zu töten.

Hagen riß den Balmung hoch - und rammte das Schwert handbreit tief vor sich in den Boden. Es kostete ihn schier übermenschliche Kraft. Es schien, als wehre sich die Klinge gegen ihn wie er sich gegen sie. Doch nein - es durfte nicht sein! Nicht so! Er wollte es nicht Er wollte nicht, daß das dämonische Schwert Macht über ihn gewann. Und doch schrie es ihm zu: Töte ihn! Töte ihn! Als er aufsah, den Griff des Schwertes mit zitternden Händen umklammernd, begegnete er Siegfrieds Blick. Sein innerer Kampf hatte nur einen Atemzug lang gedauert. Der Nibelunge war mit einem Satz wieder auf die Füße gekommen. Haß und Zorn und Furcht spiegelten sich in seinem Blick - aber auch etwas wie höhnischer Triumph. »Nun, Hagen?« fragte er lauernd, den Blick nicht von dem Schwert in Hagens Händen lassend. »Was fühlt Ihr« - seine Stimme zitterte etwas - »was empfindet Ihr jetzt, nachdem Ihr die wahre Macht des Balmung zu spüren bekommen habt?«

Blitzschnell bückte er sich, seine eigene Waffe aufzuheben. Hagen packte den Bahnung fester, zog die Klinge mit einem Ruck aus dem Boden. Wieder war es ihm, als riefe das Schwert ihm zu: Töte ihn! »Wehrt Euch ruhig!« höhnte Siegfried. »Kämpft dagegen, wie ich es tat, beim ersten Mal. Ihr werdet verlieren. Ihr habt seine Macht entfesselt, und nun müßt Ihr den Preis bezahlen. Tötet mich - oder sterbt selbst!« Und damit riß er sein eigenes Schwert mit beiden Händen über den Kopf und griff mit ungestümer Wut an. Hagen reagierte im allerletzten Moment Er ließ sich zur Seite fallen, rollte über die Schulter ab, sah Siegfrieds Klinge nach seinem Gesicht stechen und trat nach den Knien des Nibelungen. Er traf, und der Tritt brachte Siegfried tatsächlich aus dem Gleichgewicht Der kurze Moment genügte, Hagen auf die Füße kommen zu lassen. Was folgte, war kein Zweikampf. Es war ein Alptraum. Siegfried griff Hagen rücksichtslos an, und in jedem einzelnen seiner Hiebe lag die ganze gewaltige Kraft seines Götterkörpers, so daß Hagen trotz der Zauberklinge Schritt für Schritt vor ihm zurückweichen mußte. Mehr als einmal war es, als schlüge Balmung tiefe, unsichtbare Wunden in Siegfrieds Fleisch, die den Nibelungen aufschreien ließen, ihn momentlang aus dem Gleichgewicht brachten. Doch nur, um sich sodann um so wütender auf ihn zu stürzen. Hagen kämpfte wie niemals zuvor in seinem Leben. Er fühlte keine Angst mehr. Er machte mit Erfahrung und immer gezielteren Angriffen und Hieben wett, was Siegfried ihm an Kraft und Schnelligkeit voraus hatte. Es war kein Kampf Mann gegen Mann mehr, kein Ringen zwischen Hagen von Tronje und Siegfried von Xanten, sondern das Aufeinanderprallen zweier Giganten.

Und irgendwann begriff Hagen, daß er verlieren würde. Siegfrieds Gesicht war vor Anstrengung und Wut verzerrt, aber seine Kraft war ungebrochen. Immer schneller hagelten seine Schläge auf Hagen herab, und immer öfter traf die schon schartig gewordene Klinge ihr Ziel, wenngleich die meisten der Hiebe von Hagens Helm und Kettenhemd aufgefangen wurden. Aber jeder Hieb zehrte an Hagens Kraft, jeder Schlag, den er mit dem Balmung auffing, ließ eine neue Welle von Schmerz durch seinen Leib rasen. Siegfried schrie unentwegt, seine Hiebe kamen so rasch, daß Hagen sie kaum mehr sah, und obwohl die Zauberklinge des Balmung immer und immer wieder mit scheinbar tödlicher Sicherheit ihr Ziel traf, schien der Nibelunge unempfindlich gegen Schmerz und Müdigkeit zu sein. Vielleicht war er schon tot, dachte Hagen entsetzt, aber er kämpfte weiter wie ein rasender Dämon, der nicht einhalten würde, ehe sein Gegner erschlagen zu seinen Füßen lag. Schließlich hatte Siegfried ihn bis zum Waldrand zurückgetrieben. In seinem Rücken war ein Baum, zu beiden Seiten dichtes, verfilztes Gestrüpp, nirgendwo mehr eine Lücke, in die er zurückweichen, nirgends mehr Platz, wo er Siegfrieds wütenden Hieben ausweichen konnte. Noch einmal versuchte Hagen, all seine Kräfte zusammenzuraffen, und tatsächlich gelang es ihm, Siegfrieds Angriff durch eine blitzschnelle Wendung der Zauberklinge zu parieren. Im nächsten Moment bewegte sich Siegfrieds Schwert in einer unnachahmlichen, kreiselnden Bewegung um die Klinge des Balmung herum, zuckte in einer engen Spirale nach Hagens Hand und prellte ihm mit fürchterlicher Wucht das Schwert aus den Fingern. Hagen schrie auf, brach in die Knie und fing den Sturz im letzten Moment mit der Linken ab. Seine rechte Hand war taub, der Balmung lag meterweit entfernt, unerreichbar, vor seinen Augen wirbelten blutige Schleier, und jeder Atemzug schmerzte. Siegfried stand hoch aufgerichtet vor ihm. Hagen sah, wie sich seine Muskeln spannten, zu einem letzten, wütenden Hieb, der ihm den Kopf von den Schultern trennen mußte. Aber Siegfried schlug nicht zu. Plötzlich bäumte er sich auf, seine Augen wurden groß. Blut sickerte vorne unter seinem Wams hervor. Sein Schwert fiel zu Boden. Langsam, so langsam, als würde er von unsichtbaren Fäden gehalten, brach er in die Knie, die Hände um die blutige Speerspitze gekrampft, die zwischen seinen Schulterblättern eingedrungen war und dicht unterhalb seines Herzens seine Brust durchbohrt hatte. Ein Ausdruck ungläubigen Staunens trat auf sein Gesicht Dann fiel er, mit einem letzten, wie erleichterten Seufzer nach vorne und lag still. Sein Rücken färbte sich rot, und bald lag er in einer Lache von Blut, ehe der Strom, der aus der Wunde in seinem Rücken drang, allmählich versiegte.

Hagen starrte auf Siegfrieds reglosen Körper. Er atmete nicht Sein Herz schlug nicht Er dachte nicht. Er war betäubt, von einem Entsetzen gepackt, das schlimmer war als das Begreifen seines eigenen, unausweichlichen Todes. Er wußte, was geschehen war, aber er weigerte sich, es zu glauben. Es war unmöglich. Es durfte nicht sein. Aber sein Flehen wurde nicht erhört. Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten des Waldrandes, den rechten Arm, mit der sie den Ger geschleudert hatte, triumphierend erhoben.

Mit einem Schrei, der so laut war, daß er fast seine Kehle zerriß, sprang Hagen auf die Füße und warf sich auf Gunther. Er packte ihn, riß ihn herum, schleuderte ihn gegen einen Baum und schlug zu, nicht mit der flachen Hand und aus einem Reflex heraus, wie vor drei Tagen in Worms, sondern hart und gezielt und mit der vollen Absicht, zu verletzen, vielleicht zu töten. Umsonst! hämmerten seine Gedanken. Es war alles umsonst gewesen! Alles! Gunther hatte mit einer einzigen Bewegung seines rechten Armes alles zerstört, das Opfer, das er bereit gewesen war zu bringen, zunichte gemacht Gunther ging schon unter seinem ersten Hieb zu Boden, aber Hagen riß ihn wieder hoch, traf ihn ein zweitesmal und mußte all seine Willenskraft aufbieten, nicht selbst dann noch auf ihn einzuschlagen, als er sich zu seinen Füßen krümmte und vor Schmerz und Furcht zu wimmern begann.

Dann war es vorbei. Die Wut, dieser unbeherrschbare, rasende Zorn, erlosch ebenso schnell wieder, und seine Hände, zum Schlag erhoben, hatten plötzlich keine Kraft mehr. Er stand da, die Augen voller Tränen, starrte auf Gunther hinab und versuchte vergeblich, das krampfhafte Schluchzen zurückzuhalten, das ihn erschütterte. Gunther blickte zu ihm auf. Seine Unterlippe war gerissen, wo ihn Hagens Faust getroffen hatte. Blut lief über sein Kinn, und sein rechtes Auge begann sich zu schließen; so rasch, daß man dabei zusehen konnte. Aber in seinem Blick war kein Schmerz, kein Zorn, sondern nur dieser grausame, unmenschliche Triumph.

»Ich habe ihn getötet«, flüsterte er. »Er ist tot, Hagen. Der Hund ist endlich tot!« Er versuchte aufzustehen, glitt auf dem feuchten Laub aus und fiel wieder zur Seite. Mit schmerzverzerrtem Gesicht setzte er sich auf, suchte mit der Linken an der Rinde des Baumes Halt und streckte Hagen die andere Hand entgegen. Hagen rührte sich nicht »Er ist tot«, wiederholte Gunther. Ein fragender Ausdruck war in seinem Blick. Eine Art Furcht, die Hagen zunächst nicht verstand. »Siegfried ist tot! Begreifst du denn nicht, Hagen? Er ist tot! Wir haben ihn besiegt Der Nibelunge ist geschlagen!«

Hagen starrte ihn an. In seinem Herzen war nicht das mindeste Gefühl. »Das hättet Ihr nicht tun dürfen, mein König«, sagte er endlich. Langsam wandte er sich um, hob den Balmung vom Boden auf und schob ihn in seinen Gürtel. Dann trat er zu Siegfried, riß mit einem harten Ruck den Speer aus seinem Rücken und schleuderte ihn fort. Siegfried lebte noch, als Hagen sich neben ihm auf die Knie sinken ließ und ihn auf den Rücken drehte. Er war schwer. Sein Gesicht war bleich wie der Tod, und der Strom hellen Blutes aus seiner einen, einzigen Wunde hatte bereits nachgelassen. Sein Körper war schon tot, aber irgend etwas hielt ihn noch am Leben, eine Kraft, die nicht mehr menschlich sein konnte.

»Es tut mir leid, Siegfried«, flüsterte Hagen. »Ich weiß nicht, ob Ihr es verstehen könnt. Aber das habe ich nicht gewollt« Siegfried blickte ihn an. Seine Augen begannen sich schon zu trüben, aber Hagen spürte trotzdem, daß er ihn erkannte. »Ihr ... wart ein ... würdiger Gegner, Hagen«, sagte Siegfried. Er sprach sehr leise. »Aber Ihr habt mich besiegt«, antwortete Hagen. »Ihr hättet mich getötet« Ein Laut, der wohl ein Lachen sein sollte, kam aus Siegfrieds Kehle. »Ihr wart... so gut wie ... wie keiner vor Euch«, flüsterte er. »Wir hätten uns ... gegenseitig umgebracht So, wie ... wie es ... bestimmt war.« Er hustete qualvoll, versuchte den Kopf zu heben und sank mit einem röchelnden Laut wieder zurück »Kann ich noch irgend etwas für Euch tun?« fragte Hagen. Siegfried rang nach Luft Es dauerte eine Weile, bis er antworten konnte. »O nein, Hagen, Ihr ... habt schon ... mehr getan, als ... Ihr ahnt Oh, dieser Narr! Ich sterbe, aber ich ... ich habe trotzdem gewonnen. Mein Gott, es ist... so kalt... so...« Seine Hand tastete nach Hagens Hand. Die Berührung war widerlich: feucht und klebrig. Trotzdem zog Hagen seine Hand nicht zurück.

»... kalt«, stammelte Siegfried. »Mir ist so ... kalt. Dieser Narr. Er ... er hat mir den Sieg ... Kriemhild. Mein Gott - Kriemhildh« Und damit bäumte er sich auf und starb. Seine Augen brachen, noch bevor er ins Gras zurücksank Siegfried von Xanten, der Drachentöter, der König der Nibelungen, war tot.

Ein Schatten legte sich über Siegfrieds erloschenes Gesicht Hagen sah nicht auf.

»Ihr hättet es nicht tun dürfen«, flüsterte er. »Ihr habt alles zerstört Jetzt ist alles umsonst gewesen.« Gunther antwortete nicht, aber als Hagen schließlich aufsah und ihm ins Gesicht blickte, war der Triumph in seinen Augen erloschen. Und nun tat Hagen etwas, was er im ersten Moment selbst nicht verstand. Er zog den Balmung aus dem Gürtel, hielt die Waffe einen Herzschlag lang auf ausgestreckten Armen über Siegfrieds Leiche und legte sie dann auf seine Brust, den edelsteinbesetzten Griff nach oben, seinem Gesicht zugewandt. Er kniete neben dem Toten nieder. Siegfrieds Haut fühlte sich noch immer so warm und weich wie die eines Lebenden an, als er seine Hände nahm und über der Schwertklinge faltete.

»Niemand darf es erfahren«, sagte plötzlich eine Stimme neben ihm. Es war Alberich.

»Nein«, antwortete Hagen. »Niemand wird ihn finden. Es wird so sein, wie ich es gestern abend sagte - er wird einfach nicht wiederkommen. Und ich auch nicht.« »Ihr geht fort?«

»Nach Tronje«, bestätigte Hagen. »Ich hätte es niemals verlassen sollen.« Alberich versank in Schweigen. Minuten vergingen; während er überlegte. »Ihr habt recht«, sagte er schließlich. »Gunther soll Eurem Bruder Bescheid geben, daß er Euch folgt, sobald sich die Aufregung über Siegfrieds Verschwinden gelegt hat Ich werde Euch begleiten.« Hagen sah ihn überrascht an. »Du?«

Alberich nickte. »Ich habe hier nichts mehr verloren«, sagte er. »Das stimmt.« Hagen lachte bitter. »Deine Aufgabe ist erfüllt. Ich hoffe, du warst erfolgreich.«

Alberich ging nicht auf seinen Spott ein. »Das wird die Zukunft zeigen«, antwortete er ernst. »Du ... kannst nicht gehen«, warf Gunther plötzlich ein. Hagen sah ihn fragend an. »Kriemhild weiß, was geschehen ist« Hagen erbleichte. »Sie ... sie weiß ...?«

Gunther deutete auf Siegfried. »Dieser Narr hat es ihr gesagt, ehe er Worms verließ.« Er schürzte trotzig die Lippen. »Warum, denkst du wohl, bin ich hier? Kriemhild kam zu mir, kaum daß Siegfried aus dem Tor galoppiert war, und begann mich mit Vorwürfen zu überhäufen! Sie hat geweint und geschrien und gesagt, daß sie mich für deinen Tod verantwortlich machen wird, wenn dir etwas geschieht.« »Wer weiß noch davon?«

Gunther seufzte. »Der halbe Hof. Kriemhild war nicht gerade leise. Sie hat so laut gejammert und lamentiert, daß die halbe Burg davon aufgewacht sein muß! Und sicher ist sie hinterher herumgelaufen und hat es jedem erzählt.«

Hagen schwieg einen Moment. Und dann geschah etwas Sonderbares. Aller Schmerz und alle Niedergeschlagenheit wichen von ihm, und plötzlich fühlte er wieder die alte, kühle Überlegenheit, plötzlich liefen seine Gedanken wieder in nüchternen Bahnen, wie er es gewohnt war. Vielleicht war es diese neuerliche Herausforderung, die Falle, die Siegfried ihm noch über seinen Tod hinaus gestellt hatte, ihm und Gunther und seinen Brüdern. Mit einem Male wußte er, was er zu tun hatte. Selbst das Entsetzen über Gunthers ungeheuerliches Tun war von ihm gewichen, wenn auch nicht für immer. Es würde wiederkehren, und wahrscheinlich hatte Gunther mehr zerstört, als jemals wieder gutzumachen war. Doch damit und mit allem anderen konnte er sich später beschäftigen.

»Dann bringen wir ihn zurück«, sagte er bestimmt. »Es soll so sein, wie Siegfried es wollte. Und Ihr werdet es bestätigen, Gunther. Siegfried und ich haben gekämpft, und ich habe ihn erschlagen.«

»Du?« Gunther erschrak »Das ... das kann ich nicht annehmen. Warum willst du für etwas bezahlen, was ich tat?«

»Ihr habt Siegfried hinterrücks getötet Das ist es, was Ihr getan habt Wollt Ihr Euch dessen vor aller Welt rühmen?« Gunther zuckte zusammen. Seine Augen flackerten. »Ihr würdet Siegfried im nachhinein den Sieg schenken«, fügte Hagen unbarmherzig hinzu.

»Und wenn es so wäre?« sagte Gunther trotzig. »Du, mein Freund, sollst nicht für etwas büßen, was du nicht getan hast. Kriemhild würde dich hassen!«

»Elender Narr!« krächzte Alberich. »Denkt Ihr etwa, Ihr könntet Euch damit rühmen, Siegfried erschlagen zu haben? Wenn Ihr auf Ruhm aus seid, hättet Ihr mit dem Schwert in der Hand gegen ihn kämpfen und Euch erschlagen lassen sollen! Ihr seid nichts als ein feiger Mörder, und genau das wird man Euch nennen!«

»Nein«, sagte Hagen, »das wird man nicht. Niemand wird je erfahren, was hier wirklich geschah. Niemand weiß es außer dir und mir.« Während er dies sagte, löste er behutsam das Schwert aus Siegfrieds erstarrenden Fingern.

Alberich fuhr herum. Sein Begreifen kam zu spät Der Balmung streichelte seine Kehle in einer leisen, fast zärtlichen Berührung und trennte seinen Kopf von den Schultern.

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