Durch das Fenster wehte der Klang der Glocken herein, und wenn man genau hinhörte, konnte man zwischen den metallischen dumpfen Schlägen das Raunen einer großen Menschenmenge vernehmen, die sich auf dem Platz vor dem Münster versammelt hatte, die engen Straßen der Stadt füllte und lange bunte Arme wie ein gewaltiges Tier bis zum Burggraben und über die Brücke bis in den Burghof hinaufstreckte. Worms platzte aus allen Nähten vor Menschen, und es waren nicht nur die Bewohner der Stadt und der umliegenden Dörfer, die Gunthers Einladung gefolgt waren, sondern Hunderte und Aberhunderte, die aus weitem Umkreis herbeigeströmt waren, mit den Burgundern den Sieg über die vereinten Heere der Sachsen und Dänen zu feiern. Hagen wandte sich mit einem Seufzer vom Fenster ab und griff nach seinem Mantel, der ordentlich zusammengefaltet über dem Stuhl neben seinem Bett hing. Er hatte eine Stunde oder länger am Fenster gestanden und auf das Treiben im Hof hinuntergeblickt, ohne sich darüber klargeworden zu sein, welches der beiden widerstreitenden Gefühle in seinem Inneren das stärkere war. Zum einen hatte er das Pfingstfest herbeigesehnt und ungeduldig die Stunden gezählt, bis es endlich soweit war; zum anderen hatte er dem Tag mit banger Erwartung, ja mit Furcht entgegengesehen.
Es war der zweite Tag der kirchlichen Pfingstfeiern, und die Glocken des Münsters unten in der Stadt riefen zum vorletzten Male zum Gebet; die ersten beiden der insgesamt zwölf Tage, über die sich das Fest erstreckte, gehörten dem christlichen Gott, und das Gaukler- und Spielmannsvolk, das in einem Lager aus Zelten und zu Kreisen zusammengestellten Wagen unten am Fluß zusammengekommen war, würde erst heute spät am Abend Gelegenheit haben, seine Künste vorzuführen. Hagen war froh gewesen, seinen geschwächten Zustand zum Vorwand nehmen zu können, dem Fest während des ersten Tages fernzubleiben. »Seid Ihr bereit, Radolt?« fragte er.
Der grauhaarige Alte blickte von der Schriftrolle auf, über die er seit zwei Stunden gebeugt saß und so tat, als würde er darin lesen. Er deutete ein Nicken an und erhob sich. Es hatte Hagen viel Überredungskunst gekostet, Radolt dazu zu bewegen, ihn zum Münster hinabzubegleiten; wie er hing Radolt nicht dem christlichen Glauben an und betrat niemals eine Kirche. Es war Hagen nicht gelungen, mehr darüber aus ihm herauszubekommen. Er vermutete aber, daß er und der Heilkundige sich in diesem Punkt ähnelten und Radolt im Grunde seines Herzens wohl gar keinen echten Glauben hatte; oder allerhöchstens den an einen gesichts- und namenlosen Gott der Grausamkeit und Härte. Wie auch anders, nachdem er sein Leben damit verbracht hatte, geschlagene Wunden zu heilen und Menschen eines gewaltsamen Todes sterben zu sehen. »Ich bin bereit, Herr«, sagte Radolt und griff nach seinem Umhang. Er war schwarz wie Hagens Mantel, aber glatt und schmucklos. Schlug er die dazugehörige Kapuze hoch, ähnelte er mehr einem Mönch als einem Arzt. »Wenn Ihr es auch seid.«
»Es gefällt dir nicht, wie?« fragte Hagen, während er vorsichtig seinen Helm überstreifte und mit den Fingerspitzen über die schwarze Augenklappe fuhr, die er jetzt anstelle des Verbandes trug. Von Zeit zu Zeit schmerzte die Narbe noch, und wie Radolt ihm gesagt hatte, würde sie das auch bis ans Ende seines Lebens tun; insbesondere vor einem Wetterumschwung oder bei strenger Kälte. Aber dieser Schmerz war erträglich. »Du würdest lieber hierbleiben.«
Radolt antwortete nicht, sondern wandte sich mit einem stummen Achselzucken ab, wie er es stets getan hatte in den vergangenen drei Wochen. Er war nicht von Hagens Seite gewichen und hatte ihn aufopfernd gepflegt, aber er war jedem Versuch Hagens, ein persönliches Wort an ihn zu richten, ausgewichen. Hagen wurde nicht recht klug aus ihm. Es war sehr warm, als sie auf den Hof hinaustraten. Das Raunen der Menge war hier deutlicher zu hören als oben, und Hagen konnte die heiter-gelöste Stimmung spüren, die von den Menschen Besitz ergriffen hatte. Radolt bot ihm den Arm, um ihn zu stützen, als sie die Treppe hinuntergingen, aber Hagen schlug seine Hilfe aus und ging aus eigener Kraft, wenn auch langsam und sehr vorsichtig. Ein paar Blicke wandten sich ihm zu, hier und da wurde eine Hand zum Gruß erhoben, und er sah lächelnde Gesichter, aber er sah auch, wie sie die Köpfe zusammensteckten und zu tuscheln begannen, wenn sie glaubten, er sähe es nicht Er wünschte sich, ihre Gedanken lesen und die geflüsterten Worte verstehen zu können. Wahrscheinlich würde man ihn ab nun den Einäugigen nennen, und das Netz aus düsteren Geschichten, das sie um ihn spannen, würde damit noch ein wenig dichter werden. Sie überquerten den Hof, traten aus dem Tor und gingen langsam den Weg zur Stadt hinab. Die schmale Straße war überfüllt mit Menschen, und; der Regen, der mit dem Frühjahr ins Land gezogen war, hatte die Wieset rechts und links des gepflasterten Weges morastig werden lassen, so daß Hagen das Gehen doppelte Mühe bereitete. Als sie den Festplatz erreichten und das Münster vor ihnen auftauchte, war er fast versucht, Radolts Angebot, sich auf ihn zu stützen, doch noch anzunehmen, aber natürlich tat er es nicht. Niemand in Worms würde erleben, daß sich Hagen von Tronje auf einen Greis stützte, weil er nicht mehr die Kraft hatte, allein zu gehen. Die Menge wich respektvoll auseinander, als er den Platz betrat und sich dem Sitz des Königs näherte. Die Zimmerleute hatten längs des gepflasterten Gevierts große, hölzerne Podeste mit Sitzbänken errichtet, immer acht oder zehn stufenförmig versetzt übereinander, so daß auch die zuhinterst Sitzenden einen guten Blick auf den Platz hatten. Alles war mit bunten Girlanden geschmückt Mehr als drei Dutzend verschiedene Wimpel flatterten im Wind, der vom Rhein heraufwehte, und die Männer und Frauen, die auf den Bänken Platz genommen hatten, boten ein farbenfrohes Bild. Hagen sah die Wappen der Städte und Burgen, die mit Worms in Freundschaft verbunden waren, und dazu noch andere, auf die dies nicht unbedingt zutraf.
Vor ihnen war ein wogendes Meer von Köpfen, aber Gunthers Thron war trotzdem deutlich sichtbar - er stand auf einem eigenen Podest zwischen den Plätzen der Gäste. Rechts und links davon schloß sich eine Reihe niedrigerer Stühle an, auf denen der Hofstaat von Worms Platz nahm. Die Edlen waren noch nicht vollzählig versammelt, manche mochten auch bereits im Münster sein, obgleich die Messe noch nicht begonnen hatte und die Glocke weiter nach den letzten säumigen Betern rief; kaum die Hälfte der Plätze war besetzt, und auch Gunther selbst war nirgends zu sehen.
Radolt zögerte, als Hagen die Stufen zum Podest hinaufging und eine einladende Geste machte, und es war deutlich, daß er sich nicht sehr wohl in seiner Haut fühlte.
»Nun komm schon«, sagte Hagen. »Du hast mein Leben gerettet, sogar zweimal. Der Platz an meiner Seite steht dir zu.« Rings um sie herum erreichte das Treiben langsam seinen Höhepunkt Der Platz füllte sich weiter mit Menschen, aber gleichzeitig mehrte sich das Blitzen von Helmen und Speerspitzen zwischen den buntgekleideten Gästen, und nach und nach schufen die Wachen einen breiten, schnurgeraden Korridor quer über den Münsterplatz, der bis vor die Stufen der Kirchentreppe führte. Die Tore des Münsters standen jetzt weit offen, aber die Wachen sorgten dafür, daß nur wenigen, sorgsam ausgewählten Gästen Zutritt zu dem Gotteshaus gewährt wurde; das Münster war nicht groß genug, auch nur den zehnten Teil der Menge aufzunehmen, die auf dem Platz versammelt war. Später, wenn die Könige und Edlen unter den Gästen ihr Gebet verrichtet und den Segen empfangen hatten, würde ein zweiter Gottesdienst unter freiem Himmel stattfinden, an dem teilnehmen mochte, wer wollte.
Hagen begann sich unruhig umzusehen. Er spürte, daß er angestarrt wurde, und zum ersten Mal in seinem Leben machte es ihn nervös. Immer wieder glitt sein Blick zur Festung hinauf und blieb auf dem offenstehenden Burgtor haften.
Endlich erschien Gunther. Sein Kommen wurde von einem weithin schallenden Hornsignal angekündigt, das die wartende Menge auf dem Platz zum Verstummen brachte, wenn auch nur für einen Augenblick, um sie sodann in um so lebhaftere Erregung zu versetzen. Die Wachen verbreiterten mit unsanften Speer- und Schildstößen hastig die Schneise, die sie quer über den Platz gebahnt hatten, und ein zweiter, länger anhaltender Hornstoß erklang, als Gunther an der Spitze seines Hofstaates auf den Münsterplatz ritt.
Selbst Hagen war für einen Moment von der Erscheinung Gunthers beeindruckt Der König der Burgunder ritt ein kräftiges, einfach aufgezäumtes Schlachtroß, dessen einziger Schmuck ein dünnes silbernes Stirnband war. Er trug weder Schild noch Schwert, und um seine Schultern lag kein kostbarer Prunkumhang, wie ihn seine Begleiter und die meisten seiner Gäste trugen, sondern der einfache rote Mantel der burgundischen Reiterei. Auf seinem Haupt saß die dünne sechsstrahlige Krone von Worms, und als einziges Schmuckstück trug er an diesem Tage eine dünne Silberkette mit einem kaum fingerlangen, ebenfalls aus Silber gearbeiteten Kreuz. Von dem guten Dutzend Reiter, an deren Spitze er ritt, war er am schlichtesten gekleidet, und trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - war er in diesem Moment mehr denn je ein König. Im stillen zollte ihm Hagen Respekt für seinen Entschluß, all den aufgehäuften Prunk und Pomp, der in diesen Tagen in Worms zur Schau getragen wurde, nicht noch übertreffen zu wollen, sondern das Gegenteil zu tun und sich damit um so wirkungsvoller abzuheben. Gunther ritt in gemessenem Tempo bis zur Mitte des Platzes, verhielt sein Pferd und blickte - ein wenig übertrieben - hoheitsvoll in die Runde, ehe er sich aus dem Sattel schwang und wartete, bis ihm ein Knecht die Zügel seines Pferdes abgenommen und das Tier davongeführt hatte. Nacheinander saßen auch seine Begleiter ab, allen voran Giselher und Gernot. Die Hochrufe und der Jubel, der sie begrüßte, hielten sich in Grenzen, und Hagen mußte sich in Erinnerung rufen, daß das Fest bereits anderthalb Tage währte und der Anblick der drei königlichen Brüder und ihres Gefolges für das versammelte Volk nichts Neues mehr war. Und obgleich Gunther jetzt gekommen war, lag noch immer eine spürbare Erwartung in der Luft.
Hagen stand auf, trat die wenigen Stufen vom Podest herab und erwartete Gunther und seine beiden Brüder stehend, und auch die Gäste auf den Ehrentribünen beiderseits des Platzes erhoben sich, bis Gunther auf Armeslänge vor Hagen stehengeblieben war und mit der Hand ein Zeichen gab. »Freund Hagen«, sagte er, ein wenig steif und laut genug, daß jedermann auf dem Platz seine Worte vernehmen konnte. »Wie freuen wir uns alle. Euch wieder gesund und bei Kräften unter uns zu sehen.« Hagen neigte das Haupt, sank kurz vor dem König ins Knie und berührte seine Rechte mit den Lippen. Gunther ließ es geschehen, aber in seinen Augen blitzte es spöttisch, als sich Hagen wieder erhob und ihn ansah.
»Kommt, Hagen von Tronje«, sagte Gunther. »Begleitet Euren König bis vor das Tor des Gotteshauses, das zu betreten Ihr Euch noch immer weigert.« Hagen, der darauf nicht vorbereitet war, wandte sich zögernd um und schritt an Gunthers Seite auf das weit offenstehende Tor des Münsters zu. Giselher und Gernot folgten ihnen dicht auf, während der Rest des Hofstaates respektvoll fünf Schritte Abstand hielt, bis sie die Treppe erreicht hatten und Gunther auf halber Höhe stehenblieb. Hagens Blick begegnete dem Blick von Pater Bernardus, der in seiner schwarzen Kutte unter dem Kirchenportal stand und die Gäste einzeln begrüßte. Zwischen den Brauen des Priesters erschien eine tiefe Falte. Hagen hatte sich niemals ernsthaft Gedanken über ihr Verhältnis gemacht Aber ihm war klar, daß der Geistliche eine gewisse Bedrohung in ihm sehen mußte. Ein Mann von Hagens Position und Einfluß, der kein Freund der Kirche war, mußte in ihren Augen ihr Feind sein. Einen Moment lang war Hagen versucht, an Gunthers Seite das Münster zu betreten, und sei es nur, um zu sehen, wie Bernardus reagierte. Aber natürlich würde er es nicht tun. Er hatte schon zu viele Feinde, um sich noch mit einem so mächtigen Gegner wie dem Christengott anzulegen; oder mit denen, die behaupteten, seinen Willen zu predigen.
Gunther berührte ihn am Arm, und Hagen drehte sich um und blickte über den Platz zurück. Siegfried kam. Das hieß, verbesserte sich Hagen, er kam nicht, er erschien. Vorhin, als Gunther auf den Münsterplatz geritten war, hatte Hagen sich einen Augenblick lang gewundert, ihn nicht in Begleitung des Xanteners zu sehen; jetzt, als er den Herrscher des Nibelungenreiches an der Spitze seiner zwölf Gefolgsleute auf den Platz reiten sah, begriff er, warum Siegfried allein kam.
Was Gunther sich an königlicher Einfachheit gestattet hatte, das überbot Siegfried zehnfach an Prunk Er ritt ein gewaltiges, strahlendweißes Schlachtroß, in dessen Mähne und Schweif dünne goldene Bänder eingeflochten waren und dessen Hufe im Sonnenlicht blitzten, als wären sie aus reinem Silber. Sattelzeug und Geschirr waren aus feinstem, weiß eingefärbtem Leder gearbeitet, und passend dazu und zu seinem Roß war auch Siegfried selbst vollständig in Weiß gekleidet. An seinem linken Arm hing ein fast mannsgroßer dreieckiger Schild, auf dem die Krone Xantens und der Drache des Nibelungenreiches prangten, und selbst die Scheide des Balmung, der an seinem Gürtel hing, war mit einer Hülle aus kostbarem weißem Leder überzogen. Sein Mantel floß weit über die Kruppe seines Pferdes dahin, weiß wie seine übrige Kleidung und wie der Schild mit dem Abbild eines sich windenden Lindwurms verziert; eine Stickerei in Gold und Silber, wie sie Hagen noch nie zuvor in solcher Kunstfertigkeit erblickt hatte. Seine blonden Locken waren unter einem wuchtigen Helm mit Nacken- und Stirnschutz verborgen, dessen hochgeklapptes Visier die Form eines Drachenkopfes hatte. Auf der Brust des Nibelungen hing ein Kreuz, wie auch Gunther eines trug, aber anders als das des Burgunderkönigs war es so groß wie Siegfrieds Hand und aus Gold, mit kostbaren Edelsteinen besetzt. Und um seine Erscheinung noch zu unterstreichen, war das Dutzend Reiter, das ihn begleitete, ganz in Schwarz gekleidet, und auch ihre Pferde hatten die Farbe der Nacht, als wären sie allesamt der Schatten, den ihr Herr warf. Vielleicht waren sie es. »Beeindruckend, nicht?« raunte Gunther, nur für Hagens Ohren bestimmt. Giselher vind Gernot hätten es wohl auch nicht gehört, hätte er lauter gesprochen, denn beide waren völlig in den Anblick Siegfrieds versunken und starrten wie gebannt auf ihn und seine zwölf Begleiter hinab. Hagen blickte einen Moment in Giselhers Gesicht und sah genug. Die Augen des jungen Königs brannten; er fieberte vor Erregung. »Er weiß sich zur Geltung zu bringen, unser junger Freund«, fuhr Gunther fort. »Ich hoffe nur, er behält seine Fassung auch so vorbildlich, wenn er die Antwort auf die Frage bekommt, die er mir stellen wird.« »Hat er Kriemhild schon gesehen?« flüsterte Hagen. Gunther verneinte mit einem leichten Schütteln des Kopfes. Dann bedeutete er Hagen, beiseite zu treten, und wich selbst zur anderen Seite der Treppe zurück. Auch Giselher und Gernot traten rasch zur Seite. Gunthers Wink hatte nicht dem Zweck gedient, Platz für Siegfried zu schaffen. Als Hagen den Kopf wandte und wieder zum Portal hinaufblickte, sah er, daß auch Pater Bemardus zur Seite gewichen war und das Haupt gesenkt hatte. Hinter ihm trat eine schmalschultrige kleine Gestalt aus dem Gotteshaus und blieb auf der obersten Treppenstufe stehen. Es war Kriemhild. Sie trug ein schmuckloses graues Gewand aus schimmernder Seide. Ihr Gesicht war hinter einem dünnen, von einer bronzenen Spange gehaltenen Schleier verborgen, und wie Gunther trug sie als einziges Schmuckstück ein kleines silbernes Kreuz auf der Brust Der Xantener hatte sein Pferd bis zehn Schritte vor die Treppe gelenkt und war abgesessen. Reglos wartete er, bis einer der Diener ihm Zügel und Schild abnahm, trat einen Schritt vor und hob die linke Hand, und in einer einzigen Bewegung schwangen sich auch seine zwölf Begleiter aus den Sätteln. Hagen fühlte seltsame Beklemmung, als sich das Dutzend schwarzgekleideter Riesen zu einem geschlossenen Halbkreis hinter ihrem Herrn formierte. Unwillkürlich mußte er an den Abend vor der Schlacht gegen die Dänen denken, als Siegfried außerhalb des Lagers mit ihm gesprochen hatte. Obwohl die Situationen grundverschieden waren, war doch etwas Vergleichbares daran. Damals wie heute hatte Siegfried die Hand ausgestreckt, damals in dargebotener Freundschaft zu Hagen, jetzt in Demut zu Gunther. Und damals wie heute ballte er die andere zur Faust. Hagen schauderte. Seine Hand tastete ungewollt zum Gürtel und suchte das Schwert, aber seine Seite war leer, so wie die Gunthers und Giselhers und aller anderen. Außer den Wachen und dem Dutzend Reitern aus Gunthers Leibgarde, die sich beiderseits der Treppe zu einer stummen Ehrenwache aufgestellt hatten, waren Siegfried und die Seinen die einzigen, die Waffen trugen.
Gunther warf Hagen einen raschen, warnenden Blick zu, zauberte ein Lächeln auf seine Züge und trat dem Xantener entgegen. Siegfried wartete reglos, bis Gunther die wenigen Stufen hinabgegangen und vor ihm stehengeblieben war, dann trat er ihm seinerseits entgegen, neigte das Haupt und beugte - in einer nur angedeuteten Verbeugung - das Knie. »Mein König«, sagte er. »Euer treuester Diener erwartet Eure Befehle.« Gunther antwortete in dem gleichen gezwungen höflichen und vollkommen unpersönlichen Ton, aber Hagen hörte nicht, was er sagte. Der Anblick, der sich ihm bot, hatte ihn vollkommen in seinen Bann geschlagen. Wie gelähmt starrte er auf Siegfried und die zwölf stummen Riesen hinter ihm hinab, und doch sah er den Nibelungen kaum. Aber er sah etwas anderes, er sah, was Dankwart gemeint hatte, als er sagte: Er stiehlt uns Worms. Er sah und fühlte, weshalb Gunther plötzlich Angst vor Siegfried hatte und weshalb Ortwein von Metz willens war, einen feigen Mord zu begehen, wenn ihm kein anderer Ausweg blieb. Siegfrieds Erscheinen hatte nicht nur Giselher und Gernot verzaubert und nicht nur seine eigenen Gedanken gelähmt. Vorhin, als Gunther erschienen war, hatte Hagen vereinzelte Hochrufe gehört, hatte lachende Gesichter gesehen und Hände, die zum Gruß erhoben waren und winkten. Er hatte den Respekt gespürt und die fast brüderliche Liebe, die das Volk von Worms seinem Herrscher entgegenbrachte, das Vertrauen, das sie ihm zeigten, vielleicht gerade weil sie bei seinem Kommen nicht in Begeisterungsstürme ausbrachen. Siegfrieds Erscheinen ließ die Menge in Bewunderung und Ehrfurcht erstarren. Schweigen breitete sich über den überfüllten Platz, das auch vom Letzten Besitz ergriff, eine unnatürliche, fast unheimliche Stille, als hielte die Welt selbst für einen Moment den Atem an. Gunther, ihren König und rechtmäßigen Herrscher, liebten und respektierten sie, die Menschen von Worms und die, die gekommen waren, um Gunther ihre Freundschaft zu bekunden. Siegfried verehrten sie.
Es dauerte lange, bis sich der Bann löste und Hagen wieder in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Er war erschüttert bis auf den Grund seiner Seele, fast noch mehr als an jenem Morgen, als er Siegfried zum ersten Mal im Kampf erlebt hatte. Gunther und Siegfried schritten Seite an Seite die breiten Stufen der Treppe hinauf. Gunthers Kleider, die soeben noch von hoheitsvoller Schlichtheit gewesen waren, schienen mit einem Male schäbig und arm neben dem strahlendweißen Prachtgewand des Xanteners. Langsam näherten sich Gunther und Siegfried Kriemhild. Gunthers Schwester trat einen Schritt zurück und senkte züchtig den Blick, als Siegfried auf der obersten Treppenstufe verharrte, nur Gunther ging weiter, blieb neben seiner Schwester stehen und ergriff ihre Hand. Das gebannte Schweigen hielt an. Aller Aufmerksamkeit konzentrierte sich jetzt auf Kriemhild, Gunther und den Xantener. Siegfrieds Begleiter waren verschwunden, ohne daß Hagen es bisher bemerkt hätte; lautlos wie Schatten, die sich im Licht der Sonne aufgelöst hatten. Für eine ganze Weile geschah nichts. Siegfried und Kriemhild sahen sich nur durch Kriemhilds Schleier hindurch, und es war mehr in diesem Blick als im Blick zweier Menschen, die sich noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen haben. Hagen verspürte Zorn, als er Gunther ansah, der reglos und steif neben seiner Schwester stand und ihre Hand hielt Für wie dumm hielten sie Gunther, sich im Ernst einzubilden, er würde nichts von dem merken, was zwischen Kriemhild und dem Nibelungenherrscher vorging?
Schließlich war es Gunther, der das Schweigen brach. »Siegfried von Xanten«, sagte er. »Ich gebe mir die Ehre, Euch Kriemhild vorzustellen, die Schwester der Könige von Worms und Prinzessin von Burgund.« Er trat dem Xantener einen halben Schritt entgegen, hob den Arm seiner Schwester und legte ihre Hand in die Siegfrieds. Kriemhilds zarte weiße Finger verschwanden fast in der gewaltigen Pranke des Xanteners, aber Hagen bemerkte sehr wohl, daß Siegfried ihre Hand kurz und vertraut drückte, und auch das kaum merkliche Nicken ihres Kopfes. Fast bewunderte er sie; von Siegfried hatte er nichts anderes erwartet, aber Kriemhild bewies ein Maß an Selbstbeherrschung, das er ihr nicht zugetraut hätte. Gleichzeitig wuchs sein Groll. Sie machten Gunther vor aller Augen zum Narren, und auch wenn außer ihnen, Gunther selbst und Hagen niemand davon wußte, war die Beleidigung um nichts geringer. Einen Atemzug lang hielt Siegfried Kriemhilds Hand, dann ließ er sich mit einer wohleinstudierten Bewegung auf die Knie fallen, nahm seinen Helm ab, klemmte ihn unter den linken Arm und ergriff mit der Rechten wieder Kriemhilds Hand. Ihrer beiden Gesichter waren jetzt nahezu auf gleicher Höhe.
Kriemhild hielt dem durchdringenden Blick seiner blauen Augen sekundenlang stand, dann hob sie langsam die Linke und löste die bronzene Spange, die ihren Schleier hielt. Ein erstauntes Raunen ging durch die versammelte Menge auf dem Münsterplatz, als Kriemhilds Schleier fiel und Siegfried ihr Gesicht sehen konnte. Es war eine wohlerwogene Geste, und ihre Bedeutung war klar. Hagen sah, wie Gunther überrascht die Augenbrauen hochzog, ehe er seine Züge wieder unter Kontrolle brachte. »Meine Königin«, sagte Siegfried. »Die Mär von Eurer Schönheit und Anmut hat mein Herz erobert, lange bevor ich Euch sah. Doch jetzt weiß ich, daß Worte nicht ausreichen, um Eure Schönheit zu beschreiben.« Kriemhild lächelte, und momentlang blickte noch einmal das Kind, das Hagen gekannt hatte, aus ihren Augen.
»Ich ... danke Euch für Eure Worte, hochedler Ritter«, antwortete sie. »Auch ich habe viel über Euch und Eure Taten gehört.« Siegfried führte ihre Finger an seinen Mund und berührte sie flüchtig mit den Lippen. »Es geschah nur zu Eurem Ruhm, edles Fräulein«, erwiderte er. »Und es war nichts. Hätte ich geahnt, wie schön und edel Ihr in Wahrheit seid, hätte ich tausendmal wütender gegen die gefochten, die es wagten, die Hand gegen Euer Reich und die Euren zu erheben.« Gunther beherrschte sich nur noch mit Mühe, das sah Hagen. Hagen räusperte sich, so leise, daß keiner, der mehr als ein paar Schritte entfernt stand, es hören konnte, aber doch laut genug, um Siegfried und Kriemhild mit Nachdruck an seine Anwesenheit zu erinnern. Kriemhild zuckte leicht zusammen. Ihre Selbstsicherheit war nur gespielt; wie Siegfried hatte sie jede Sekunde ihres Zusammentreffens genau geplant und in Gedanken tausendmal durchlebt, ehe es wirklich soweit war. Aber zum Unterschied von Siegfried war ihre Kraft beschränkt; ein Räuspern genügte, die Maske zu lüften, hinter der sie sich verbarg. Ihre Blicke trafen sich, und in Kriemhilds Augen war ein verzweifeltes Flehen. »Laßt uns gehen«, sagte Gunther. »Die Messe beginnt, und nicht einmal Königen ist es erlaubt, Gott unseren Herrn warten zu lassen.« Kriemhild atmete sichtlich erleichtert auf, während sich Siegfried, ohne ihre Hand loszulassen, mit einer kraftvollen Bewegung erhob und neben sie trat. Gemessenen Schrittes verschwanden sie im Halbdunkel der Kirche. Hagen verharrte reglos auf der Stelle, bis sich das Kirchenportal geschlossen hatte und das dumpfe Murmeln der Betenden durch das schwere Eichenholz drang. Erst dann wandte er sich um, ging die Treppe wieder hinunter und ging zu seinem Platz auf der Ehrentribüne. Aber er betrat das hölzerne Podest nicht, sondern kehrte nach kurzem Zögern der Tribüne den Rücken und verließ den Münsterplatz und die Stadt.