15

Er fand Siegfried am anderen Ende des Lagers. Der Xantener saß bereits im Sattel, obwohl noch einige Zeit bis zum endgültigen Aufbruch des Heeres verstreichen würde. Er war von den zwölf mächtigen Gestalten seiner Nibelungenreiter umgeben wie von einem lebenden Schutzwall. Hagen spürte einen seltsamen Schauer, als er das Dutzend Reiter im schwindenden Licht der Dämmerung sah. Vor dem immer blasser werdenden Himmel wirkten sie kaum wie Menschen, sondern vielmehr wie riesige finstere Göttergestalten, nicht dem Schoß einer Frau entsprungen, sondern der Phantasie des Menschen; Überwesen - oder richtiger: Gestalt gewordene Furcht. Vielleicht existierten sie überhaupt nur in ihrer aller Vorstellung. Hagen dachte daran, daß niemand in Worms ihre Namen kannte, geschweige denn ihre Herkunft Niemand hatte sie je danach gefragt. Und ihm fiel ein, daß er keinen von ihnen je hatte essen sehen ... Vielleicht waren sie keine Edelleute aus Xanten oder den Niederlanden, wie jeder insgeheim annahm, sondern entstammten wirklich dem sagenumwobenen Geschlecht der Nibelungen. Vielleicht nicht einmal das. Vielleicht waren sie gar keine Menschen, sondern Dämonen, die Siegfried heraufbeschworen hatte, ihn zu beschützen, und vielleicht war in diesem Zusammenhang alles wahr, was man sich über Siegfried erzählte.

Als hätte er Hagens Gedanken gelesen, drehte einer der Reiter den Kopf und sah ihn an. Hagen erschauerte unter seinem Blick Die Augen des Mannes waren kalt, eisig. Ihre Farbe war in der einbrechenden Dunkelheit nicht mehr zu erkennen; sie glänzten wie zwei polierte Kugeln aus Stahl. Hagen fröstelte.

Siegfried, der ihm bisher den Rücken zugedreht und reglos ins Land geblickt hatte, wandte sich im Sattel zu ihm um. »Alberich hat Euch also gefunden.«

»Alberich findet jeden«, knurrte Hagen. »Deshalb begleitet er mich«, sagte Siegfried lächelnd. »Was wollt Ihr von mir?« fragte Hagen. Er ging an dem Nibelungenreiter vorbei und trat näher an Siegfried heran, sein Pferd noch immer am Zügel hinter sich herführend. Aber er spürte seine Blicke weiter im Rücken. Entschlossen schüttelte er sie ab und sah herausfordernd zu Siegfried hoch. »Ich habe zu tun.«»Ich wollte mit Euch reden«, sagte Siegfried. In seiner Stimme war ein nachdenklicher, fast versöhnlicher Ton, der Hagen aufhorchen ließ. Der Xantener schien in ungewöhnlich guter Stimmung zu sein, auch wenn er einen sonderbaren Zeitpunkt dafür gewählt hatte. Siegfried machte keine Anstalten, vom Pferd zu steigen, und da Hagen keine Lust hatte, die ganze Zeit zu ihm aufzusehen, stieg er ebenfalls in den Sattel. Zwei der Reiter, die Siegfried flankierten, wichen lautlos zur Seite, und Hagens Pferd setzte sich ohne sein Zutun in Bewegung und stellte sich neben dem des Xanteners auf. Hinter ihm schloß sich der Kreis wieder.

Siegfried sah Hagen lange schweigend an. Es war etwas in diesem Blick, was Hagens Neugier in Unbehagen, wenn nicht in Furcht verwandelte. Plötzlich wurde er sich des Umstandes bewußt, daß er von Siegfrieds Männern wie von einer undurchdringlichen Mauer umgeben war und daß sie sich zudem ein Stück abseits des eigentlichen Heeres befanden. Was immer im Inneren dieses lebenden Kreises geschah, es würde von keiner Menschenseele draußen bemerkt werden. Siegfried sagte und tat nichts, aber Hagen fühlte die Drohung. Er wußte, daß Siegfried ihm nichts antun würde, nicht einmal andeutungsweise, aber die stumme Gegenwart seiner Reiter sagte genug. Deutlicher als alle Worte zeigte sie ihm, daß er in Siegfrieds Hand war. Siegfried drehte sich wieder um und blickte wortlos weiter ins Land hinaus, nach Norden, dorthin, wo unter dem Mantel der Nacht das Lager der Dänen verborgen lag. Die Ebene fiel sanft vor ihnen ab und stieß nach etwa zehn Pfeilschußweiten an einen schmalen Waldstreifen, den die Dämmerung zu einer dichten schwarzgrünen Masse zusammengebacken hatte. »Morgen um diese Zeit«, begann Siegfried nach einer Ewigkeit und ohne ihn anzublicken, »wird vielleicht einer von uns nicht mehr am Leben sein, Hagen. Vielleicht beide.«

»Vielleicht.« Hagen lachte rauh, es hörte sich wie ein Krächzen an, wie der mißtönende Schrei einer schwarzen Krähe. - Wieso fiel ihm gerade jetzt dieser Vergleich ein? - »Wenn Ihr das glaubt, Siegfried, dann solltet Ihr die Zeit nutzen, um zu beten«, antwortete er. »Warum seid Ihr nicht beim Priester wie die anderen und laßt Euch den Segen geben?« »Wer sagt Euch, daß ich es nicht bereits getan habe?« »Habt Ihr es denn?«

Siegfried verneinte. »Ihr kennt die Antwort doch, Hagen. Es ist der gleiche Grund, aus dem auch Ihr niemals betet«

»Vielleicht bete ich. Auf meine Weise und zu meinen Göttern. - Ich glaube nicht an den Gott der Christen«, fügte Hagen hinzu, als wäre es die Antwort auf eine Frage, die ihm oft gestellt wurde. Er war verwirrt. Was wollte Siegfried?

»Dann eben an Thor oder Odin oder wie immer sie heißen mögen«, sagte Siegfried, »das macht keinen Unterschied.« »Vielleicht doch. Unsere Götter sind keine Götter für Schwächlinge, Siegfried. Sie helfen nur dem Starken, und sie versprechen auch nicht dem Sanftmütigen das Paradies. Du kannst zu ihnen beten, aber wenn sie die Furcht in deinem Herzen sehen, dann wird es vergebens sein.« Siegfried fühlte sich nicht betroffen. Er lachte sogar. »Dann laßt Euch sagen, daß der Gott der Christen sich nicht so sehr von Odin unterscheidet, Hagen.« Er drehte sich halb im Sattel um und wies mit einer weitausholenden Geste über das Lager. »Für diese Männer mag Gott gut sein, so wie sie ihn kennen. Sie brauchen ihn. Sie brauchen einen Gott, der ihnen Mut und Kraft gibt, die sie selbst nicht haben.«

»Ein Gott für ...« Hagen benutzte absichtlich ein Wort seiner Muttersprache: »Skärlinge.«

Siegfried lachte. »Warum nicht? Es waren die Schwachen und die Verfolgten, die das Christentum für sich entdeckten, Hagen. Und heute? Seht sie Euch an. Sie haben selbst Rom erobert, Eure Skärlinge, und bald werden sie die Welt erobert haben. Ihr Gott hat sie stark gemacht.« »Selbst wenn es so sein sollte«, sagte Hagen, »so gehört Ihr doch der falschen Religion an. Ein Gott der Schwächlinge ist nichts für Euch.« »Ihr habt recht, Hagen«, erwiderte Siegfried, »diesen Gott brauche ich nicht, und er braucht mich nicht. Ich glaube an einen anderen Gott, an einen, der Eurem Thor sehr ähnlich ist. Vielleicht ist es der gleiche.« »Ihr macht es Euch sehr leicht«, sagte Hagen voll Verachtung. »Ihr sucht Euch aus jedem Glauben heraus, was Euch gefällt und in Eure Pläne paßt. Aber das habt Ihr ja schon immer getan, nicht?« Er wies mit einer zornigen Bewegung nach Süden. »So, wie Ihr vor einem Jahr nach Worms gekommen seid, um es Euch zu nehmen. Ist es das, weshalb Ihr uns helft, die Dänen und Sachsen zu schlagen? Ist es vielleicht gar kein Freundschaftsdienst, sondern tut Ihr es für Euch, weil sie Euch Euer Eigentum wegnehmen wollen?« Siegfrieds Blick wurde hart. »Das sind ehrliche Worte«, sagte er. »Und um sie zu hören, habe ich Euch gerufen. Kommt - reiten wir ein Stück.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er sein Pferd antraben, und nach kurzem Zögern folgte ihm Hagen. Siegfrieds Wachen blieben hinter ihnen zurück, und eine seltsame Stille umfing sie, als sie in das Tal hineinritten. Der frisch gefallene Schnee dämpfte das Geräusch der Hufschläge und erhellte die Nacht mit einem unwirklichen Schimmer. Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinander. »Vor morgen«, sagte Siegfried schließlich, »bevor sich unser Schicksal entscheidet, möchte ich wissen, woran ich mit Euch bin, Hagen. Ihr haßt mich, nicht wahr?« Hagen ließ einige Zeit verstreichen, ehe er antwortete. »Nein«, sagte er dann. »Jedermann glaubt, daß ich Euch hasse, Siegfried. Aber das stimmt nicht.«

»Und doch habt Ihr zu Kriemhild gesagt, Ihr würdet mich töten, wenn...«

Hagen verhielt sein Pferd mit einem harten Ruck, so daß das Tier erschrocken schnaubte und zu tänzeln begann. »Ihr habt euch also wiedergesehen?«

»Natürlich«, antwortete Siegfried ungerührt und zügelte ebenfalls sein Pferd. »Sie hat mir von eurer Abmachung erzählt. Ihr wißt also alles, Hagen. Was wir getan haben, war nicht sehr klug. Wir hätten uns nicht wie Diebe aus dem Haus schleichen und heimlich treffen sollen.« »Diese Einsicht kommt ein wenig spät, nicht? Immerhin habt ihr dabei nicht weniger als euren Kopf aufs Spiel gesetzt.« »Und doch war es gut so«, fuhr Siegfried fort. »Ich will Euch nicht belügen, Hagen. Ich kam nach Worms, um es zu erobern...« »Und als Ihr gemerkt habt, daß dieser Bissen zu groß für Euch ist und Ihr daran ersticken könntet, habt Ihr Euch an Kriemhild herangemacht, um Burgunds Thron zu heiraten«, stellte Hagen nüchtern fest. »Ich leugne es nicht«, erwiderte Siegfried ruhig. »Ich gebe zu, daß ich so ähnlich gedacht habe - wenn auch nicht ganz so. Aber dann habe ich Kriemhild gesehen. Ich liebe sie, Hagen. Und wenn ich jetzt hier bin, dann, um sie zu verteidigen. Nicht Burgund oder Gunther.« Seine Hand legte sich wie von selbst auf den Schwertgriff.

Hagen spürte, daß Siegfried die Wahrheit sprach. »Und was erwartet Ihr nun von mir?« fragte er. »Eine einfache Antwort auf eine einfache Frage«, sagte Siegfried. »Ich werde um Kriemhilds Hand anhalten, sobald wir zurück sind. Werdet Ihr Euch uns in den Weg stellen?«

Lang sahen sie sich an, ein stummes Duell, das keiner zu verlieren bereit war. »Nein«, sagte Hagen schließlich. »Ich weiß, daß Kriemhild Euch liebt. Und ich bin der letzte, der sich ihrem Glück in den Weg stellen würde. Wenn Ihr ehrlich seid und ihre Gefühle wirklich erwidert, dann werde ich schweigen. Doch lügt Ihr, Siegfried, und tut Ihr Kriemhild nur ein einziges Mal weh, dann töte ich Euch.«

»Das war es, was ich wissen wollte«, sagte Siegfried. Seine Hand löste sich vom Griff des Balmung. »Dann werdet Ihr unserer Hochzeit zustimmen.«

»Ich werde nicht dagegen stimmen«, sagte Hagen. »Das genügt nicht«, erwiderte Siegfried aufgebracht. »Jedermann weiß, Hagen, daß Ihr der wahre Herr von Burgund seid. Gunther ist ein Schwächling, den einzig Euer Arm all die Jahre auf dem Thron gehalten hat. Es gibt keine Entscheidung, vor der er nicht Euren Rat einholen würde.«

Hagen erschrak. War es wirklich so, wie Siegfried behauptete? Ihm selbst war der Gedanke in all den Jahren nie gekommen, und doch wußte er im selben Moment, daß Siegfried recht hatte. Jedenfalls in den Augen der anderen. Ist es das, was ich Gunther angetan habe? fragte er sich. Hatte er Gunther durch seine Freundschaft und Treue vollends zum Schwächling gemacht, statt ihm zu helfen? »Ich bin nicht der Herr Burgunds«, sagte Hagen bestimmt. »Ich bin nur Gunthers Waffenmeister, mehr nicht. Fragt Gunther, wenn Ihr seine Schwester zur Frau nehmen wollt, nicht mich. Meine Antwort kennt Ihr.« Er riß sein Pferd herum. Siegfried wollte ihn zurückhalten, aber Hagen schlug seine Hand beiseite und sprengte los, zurück zum Heer und zum Lager.

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