Die Eiche stand unverändert an ihrem Platz; ein stummer Wächter, der dem Ansturm der Zeit so gelassen trotzte wie der Fluß und die Berge an seinen Ufern, groß und knorrig geworden im Laufe der Generationen, aber ungebrochen, die Äste noch kahl, wie vor Jahresfrist, daß sie wie die schwarzen, dürren Finger einer Knochenhand nach dem tiefhängenden Himmel griffen. Hagen hatte lange gebraucht, die Stelle am Flußufer wiederzufinden, und die Sorge, sie zu verfehlen, hatte sich gepaart mit der Furcht, daß sie womöglich gar nicht existierte und nie existiert hatte. Doch dann war die Krone der Eiche wie ein vertrauter Wegweiser vor ihm aufgetaucht, und Hagen hatte sein Pferd zu einem letzten raschen Galopp gezwungen.
Als Hagen erschöpft am Fuße des Baumes anhielt, spürte er die Schläge seines Herzens bis in die Finger- und Zehenspitzen. Sein Blick suchte den Waldrand. Der Wald schien ihm jetzt, da die Luft klar war und kein Nebel zwischen den Bäumen wogte, finster und abweisend, nicht lockend wie damals, und noch einmal stieg die Furcht in ihm empor, daß alles nichts weiter als Einbildung gewesen sei.
Er verscheuchte den Gedanken, sprang aus dem Sattel und band den Zügel seines Pferdes um einen der untersten Äste des Baumes. Das Tier schnaubte erleichtert. Hagen streichelte flüchtig seinen Hals, wandte sich um und ging auf den Waldrand zu.
Das Unterholz schlug über ihm zusammen, und wieder zerrten die Zweige und rissen die Dornen an seinem Mantel. Hagen versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, welche Richtung er einschlagen mußte. Es gelang ihm nicht. Es war alles zu schnell gegangen damals. Er hatte auch nicht gedacht, jemals an diesen Ort zurückzukehren, und also nicht auf den Weg geachtet. Unschlüssig drehte er sich einmal im Kreis, ehe er dann in gerader Richtung vom Waldrand tiefer in das Unterholz eindrang. Wie beim ersten Mal verlor er bald die Orientierung. Der Wald war dunkel und dicht, obwohl sich gerade erst ein zaghafter Schimmer von Grün an den Zweigen zeigte. Im Sommer, wenn die Bäume voll im Laub standen, mußte es hier selbst um die Mittagsstunde finster wie in einer Gruft sein.
Hagen wußte nicht mehr, wie lange er schon im Wald umherirrte. Wie seinen Orientierungssinn verlor er jedes Gefühl für die Zeit. Das Gehen fiel ihm schwerer und schwerer. Die Anstrengung trieb ihm trotz der Kälte den Schweiß auf die Stirn, und der Schmerz in seinem Auge drohte ihm den Schädel zu sprengen. Er wußte längst nicht mehr, wo er war, und er hätte wohl auch nicht wieder aus dem Wald herausgefunden, selbst wenn er es gewollt hätte. Nach einer Weile hörte er ein Bellen und blieb stehen.
Das Bellen verstummte, und es herrschte wieder Stille, nur durchbrochen vom Atmen des Waldes; dann hörte er es wieder, lauter und näher als beim ersten Mal. Hagen stellte fest, daß es anders klang als das gewöhnliche Bellen eines Hundes; eher so, als versuchte ein Wolf wie ein Hund zu bellen, dachte er schaudernd.
Er lauschte einen Moment, um den Laut zu orten, änderte seine Richtung ein wenig und ging weiter. Das Bellen wiederholte sich nicht, aber Hagen wußte jetzt, daß er auf dem richtigen Weg war, und beschleunigte seine Schritte. Das Gelände wurde immer unwegsamer, und Hagen kam immer mühsamer voran; mehr als einmal glitt er auf dem morastigen Waldboden aus, stürzte oder konnte sich gerade noch an einem Baum festhalten. Seine Kleider waren zerrissen und verdreckt, als sich das Unterholz endlich vor ihm teilte und die kleine sichelförmige Lichtung vor ihm lag. Hagen blieb keuchend stehen, rang nach Luft und stützte sich schwer gegen einen Baum.
Die Kate war noch da. Nichts hatte sich seit seinem ersten Hiersein verändert; alles war ganz genauso: der Stapel Brennholz neben der Tür, der Laden vor dem einzigen Fenster, der schief in den ledernen Angeln hing. Selbst der Rauch, der aus der Fensteröffnung quoll, schien derselbe zu sein.
Hagen verscheuchte den unheimlichen Gedanken, der ihn beschlich, und ging schnell weiter. Als er sich dem Haus bis auf wenige Schritte genähert hatte, löste sich ein dunkler Umriß aus dem Schatten der Kate und versperrte ihm knurrend den Weg. Es war Ferais, der Hund, dessen Bellen ihm den Weg gewiesen hatte, aber anders als bei ihrer ersten Begegnung erschien er Hagen jetzt wie der sagenumwobene Götterwolf: ein mächtiges, schwarzes, struppiges Tier, das sich ihm drohend in den Weg stellte und sein furchteinflößendes Gebiß zeigte. Hagen senkte die Hand und näherte sie dem Schwertgriff. Das Knurren des Hundes wurde drohender, und Hagen sah, daß die schwarze Bestie drauf und dran war, sich auf ihn zu stürzen. Die Tür des Hauses wurde aufgestoßen, die Alte trat heraus. »Fenris!« sagte sie scharf. »Geh auf deinen Platz! Und Ihr, Hagen von Tronje, seid kein Narr, und nehmt die Hand vom Schwert. Fenris hätte Euch zerrissen, ehe Ihr die Waffe gezogen hättet.« Hagens Hand zuckte zurück, Fenris knurrte noch einmal, warf ihm einen letzten, warnenden Blick aus seinen grundlosen schwarzen Augen zu und trollte sich. Hagen stand unbeweglich, bis der Hund um die Hausecke verschwunden war. Er war ganz sicher, daß das Vieh größer und wilder ausgesehen hatte als das letzte Mal. Mit gemischten Gefühlen folgte er der Alten ins Haus.
Auch im Inneren der Hütte hatte sich nichts seit seinem ersten Besuch verändert. Das einsame Bett, die Truhe und der Tisch mit den zwei niedrigen Hockern; und das Feuer im Herd erschien ihm noch immer viel zu klein, um wirklich wärmen zu können. Nur der silberne Thorshammer gegenüber der Tür fehlte; das einfache Holzkreuz der Christen hing jetzt allein an der Wand.
»Schließt die Tür«, befahl die Alte. »Und dann sagt mir, warum Ihr gekommen seid.«
Hagen gehorchte und schloß die Tür, aber als er sich wieder umdrehte, wurde ihm schwindelig. Der Schmerz in seinem Schädel erwachte zu neuer, noch heftigerer Wut und ließ ihn aufstöhnen. Er wankte, griff haltsuchend um sich und wäre gestürzt, wäre die Alte nicht rasch hinzugesprungen, um ihn aufzufangen. Willenlos ließ er sich zum Tisch führen und sank auf einen Hocker. Der Raum begann sich um ihn zu drehen. »Ihr seid ein Narr, Hagen«, sagte die Alte, »und ein Kindskopf dazu. In Eurem Zustand hierherzukommen!«
Hagen wollte antworten, aber er konnte nicht. Der Schmerz bohrte sich durch sein Auge bis tief in seinen Schädel, er löschte jeden Gedanken und jede Erinnerung aus, bis nichts anderes mehr existierte als Schmerz; ein Schmerz, schlimmer als alles, was Hagen je erlebt hatte. Es dauerte lange, bis der Anfall vorüber war. Danach fühlte er sich ausgebrannt und schwach.
Die Alte drückte ihn unsanft auf den Stuhl zurück, als er aufzustehen versuchte. Sie nahm ihm den Helm ab und löste den Verband von seiner linken Gesichtshälfte. Hagen hörte sie vor sich hinmurmeln, ohne ihre Worte zu verstehen. Ihre Finger machten sich geschickt an seinem Auge zu schaffen, und der Schmerz erlosch von einer Sekunde auf die andere.
»Ich... danke dir«, sagte Hagen. Seine Stimme zitterte vor Erschöpfung. »Ich glaube, ich hätte den Verstand verloren, wenn der Schmerz noch länger angedauert hätte.«
»Mir scheint, das habt Ihr sowieso«, sagte die Alte kopfschüttelnd. »Seid Ihr verrückt mit einer so schweren Verletzung den ganzen weiten Weg von Worms hierherzureiten? Ihr hättet nicht nur Euer bißchen Verstand, sondern auch Euer Leben verlieren können, Hagen. Wollt Ihr Euch umbringen oder was?« Ihre lebhaften alten Augen blitzten, und zwischen ihren dünnen, in dem pergamentartigen Gesicht kaum erkennbaren Brauen bildete sich eine doppelte, tiefe Falte. »Mir scheint, genau das ist es, was Ihr wolltet«, fügte sie leise und mehr zu sich selbst hinzu. Seufzend ließ sie sich auf dem zweiten Hocker nieder und legte die Hände nebeneinander flach auf die Tischplatte. »Ich hätte Euch für klüger gehalten, Hagen.« Eine Weile starrte sie schweigend vor sich hin. »Das ist eine schlimme Wunde, die man Euch da geschlagen hat«, nahm sie den Faden schließlich wieder auf. »Aber soviel ich sehe, habt Ihr einen guten Arzt gehabt. Mehr kann ich auch nicht für Euch tun.« Ihre Stimme wurde eine Spur schärfer. »Ich hoffe, Ihr seid nicht in der irrigen Hoffnung hergekommen, ich könnte Euch das Augenlicht wiedergeben.« »Ich muß mit dir reden«, sagte Hagen.
Das Gesicht der Alten blieb unbewegt. »Was gäbe es wohl, was ein Mann wie Ihr mit einem verrückten alten Kräuterweib zu besprechen hätte, Hagen von Tronje?«
Hagen fuhr zornig auf. »Halte mich nicht für dumm, Alte«, sagte er scharf. »Du bist nicht verrückt und du bist auch kein harmloses Kräuterweib.« »Und was«, fragte die Alte lächelnd, »bin ich Eurer Meinung nach?« »Das weiß ich nicht«, knurrte Hagen. »Vielleicht eine Hexe, vielleicht Frigg selbst - ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was du nicht bist.« Ein leises, höhnisches Lachen kam über die rissigen Lippen der alten Frau. »Vielleicht Frigg selbst«, wiederholte sie belustigt. »Wenn ich Odins Gattin wäre, Hagen, dann wäre es sehr leichtsinnig von Euch, in einem solchen Ton mit mir zu sprechen, findet Ihr nicht? Als Ihr das erste Mal hier wart, sprachen wir auch über die Götter. Wart Ihr es nicht, der sagte, sie wären rachsüchtig und grausam?«
»Und?« erwiderte Hagen und deutete auf sein Auge. »Was gibt es, was sie mir noch antun könnten?«
»Viel, Hagen«, erwiderte die Alte ernst. Die Antwort schnürte Hagen die Kehle zu und hallte wie ein böses Omen hinter seiner Stirn wider. »Du... weißt sehr wohl, warum ich hier bin«, sagte er. »Weiß ich's?« Wieder lachte die Alte ihr unheimliches, rauhes Lachen, das an den kehligen Laut eines Tieres erinnerte. »Und wenn ich es wüßte, Hagen«, fuhr sie fort, »wer sagt Euch, daß mich Euer Schicksal interessiert? Glaubt Ihr wirklich, daß sich die Götter um die Geschicke einzelner Menschen kümmern?«
»Ja«, antwortete Hagen, »das glaube ich. Weil sie uns brauchen. Weil sie ohne uns nicht existieren können, so wenig wie wir ohne sie.« Die Alte seufzte. »Hagen von Tronje«, sagte sie. »Wie verzweifelt müßt Ihr sein, daß Ihr hierherkommt, um mich um Rat zu bitten.« »Sehr«, murmelte Hagen, ohne sie anzusehen. »Ich ... weiß mir keinen Ausweg mehr.«
»Zum ersten Mal«, nickte die Alte. »Oder irre ich mich? Ihr habt es nie zuvor kennengelernt, dieses Gefühl, nicht weiterzuwissen. Ihr habt nie gewußt, was es heißt, in einer Lage zu sein, in der alles, was Ihr tun könnt, falsch ist Egal, wie Ihr Euch entscheidet, es wird Übles daraus werden. Ihr habt Euch zeit Eures Lebens auf die Kraft Eures Körpers und die Schärfe Eures Geistes verlassen können. Und jetzt fühlt Ihr Euch hilflos und wißt nicht weiter.« Sie lachte, aber diesmal klang es mitfühlend und sanft. Sie schob die Hand über den Tisch und berührte Hagens Rechte mit ihren dürren kalten Fingern. »Habt Ihr gedacht, Ihr wäret dagegen gefeit, Hagen? Habt Ihr schon geglaubt, Ihr wäret ein Gott, der ohne Fehl ist und niemals etwas falsch macht? Der Gedanke gefällt Euch nicht, aber es ist doch so: Ihr habt versagt Zum ersten Mal in Eurem Leben habt Ihr den richtigen Zeitpunkt zum Handeln versäumt. Und jetzt wo Ihr es begreift, beginnt Ihr zu zweifeln. Zu zweifeln an Euch selbst« »Vielleicht hast du recht«, murmelte Hagen. Er wollte seine Hand zurückziehen, aber die Finger der Alten hielten sie mit erstaunlicher Kraft fest »Warum geht Ihr nicht zurück nach Tronje, wo Ihr hingehört? Noch ist Zeit dazu. Ich habe es Euch schon einmal geraten, und es sind schlimme Dinge geschehen seither. Aber trotzdem, noch ist es nicht zu spät.« »Das kann ich nicht«, murmelte Hagen. »Es ... es wäre wie eine Flucht« »Nicht wie eine Flucht«, verbesserte ihn die Alte. »Es wäre Flucht. Ihr würdet davonlaufen. Aber manchmal gehört mehr Mut zum Davonlaufen als zum Sterben, Hagen.«
»Trotzdem.« Hagen zog seine Hand nun doch zurück und setzte sich ein wenig auf. »Es geht nicht«, sagte er. »Und es würde nichts nutzen. Niemandem wäre geholfen. Am allerwenigsten Gunther oder Kriemhild.« »Manchmal muß man einem Freund weh tun, um ihm zu helfen«, sagte die Alte. »Ihr wollt Kriemhild helfen, weil Ihr sie liebt, und Ihr wolltet Gunther helfen, weil Ihr glaubt, ihm Treue schuldig zu sein. Ihr habt einen Fehler begangen, weil Ihr zugelassen habt, daß Siegfried nach Worms kam, und jetzt zahlt Ihr den Preis dafür.« »Dann laß ihn mich zahlen, nicht die, die keine Schuld trifft«
»Wer sagt Euch, daß sie unschuldig sind? Denkt Ihr, Ihr könntet das Schicksal der Welt ändern? Das Geschlecht der Burgunder wird untergehen, so oder so. Nach ihm werden andere kommen, und nach diesen wieder andere. Was Ihr verlangt, ist unmöglich. Ich kann Euch nicht helfen.«
»Warum hast du mich dann hierherkommen lassen, wenn du nichts für mich tun kannst?« begehrte Hagen auf. »Warum hast du mich den Weg zu deinem Haus finden lassen?« »Weil du sonst gestorben wärst, du Narr!«
Hagen starrte sie an. »Das wäre die beste Lösung gewesen«, murmelte er. »Und das wolltet Ihr auch, nicht wahr?« sagte die Alte hart »Ihr seid gar nicht so tapfer, wie Ihr vorgebt zu sein, Hagen. Ihr sagt, Ihr könnt nicht nach Tronje zurückgehen, weil es wie Flucht aussehen würde - und was tut Ihr? Seid Ihr nicht von Worms fortgeritten, um zu sterben? Aber das ist auch keine Lösung.« »Gibt es eine andere?«
»Es gibt sie, und ich habe sie Euch schon zweimal genannt. Nehmt das nächste Schiff und fahrt heim.«
»Das ist alles, was du mir zu sagen hast?«
»Das ist alles«, bestätigte sie. »Und ich werde es kein drittes Mal sagen. Denkt über meine Worte nach, Hagen. Das Geschlecht der Burgunder wird untergehen, und Ihr mit ihm, wenn Ihr in Worms bleibt.« Sie stand auf und ging zur Tür, und nach einer Weile erhob sich auch Hagen, setzte vorsichtig seinen Helm wieder auf und folgte ihr. »Versucht nicht noch einmal an diesen Ort zurückzukehren, Hagen«, sagte die Alte zum Abschied. »Ihr würdet den Weg nicht mehr finden. Hört auf meine Worte und geht nach Hause. Denn wenn wir uns ein drittes Mal wiedersehen, wird es dafür zu spät sein.«