Der Rückweg erschien ihm kürzer als der Hinweg am Morgen. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit hatte er währenddessen kaum auf seine Umgebung geachtet, sondern sich ganz Helges Führung überlassen, und er erkannte den Wald, durch den er jetzt ging, nicht wieder: Der Nebel hatte sich gelichtet und war bald darauf ganz verschwunden, und im hellen Sonnenlicht sah der Wald vollkommen anders aus als der, durch den ihn das Mädchen geleitet hatte. Er hatte viel von seiner Bedrohlichkeit und alles von seiner Unwirklichkeit verloren, und als Hagen schließlich aus dem Wald heraustrat und die sumpfige Wiese mit dem Bach und dem einsamen Baum vor ihm lag, kam es ihm beinah lächerlich vor, daß jene kahlen Bäume und Sträucher wirklich Furcht in ihm ausgelöst haben sollten, ein Gefühl, das ihm bisher vollkommen fremd war. Und doch: ein eigentümliches, dumpfes Unbehagen war geblieben, es stellte sich sofort wieder ein, als er an das Haus und an die Alte und ihre Prophezeiung zurückdachte.
Es wird eine Frau sein, die Euch den Untergang bringt, Hagen von Tronje. Er vermeinte wieder die Stimme der Alten zu hören, so deutlich, daß er versucht war, stehenzubleiben und sich umzublicken, ob sie ihm etwa nachgekommen war, um ihre Warnung zu wiederholen. Statt dessen ging er schneller, überquerte die Wiese mit entschlossenen Schritten. Trotz der Entfernung konnte er das Rauschen des Flusses jetzt deutlich hören, und als er weiterging, gewahrte er hoch oben in der Luft, jenseits des Hügels, aber noch nicht über dem Fluß, einen kleinen schwarzen Punkt. Eine Krähe, dachte er, oder ein Rabe. Auf jeden Fall ein Unglücksvogel. Hagen blieb stehen, blickte dem Vogel eine Weile sinnend nach und runzelte die Stirn. Dann schüttelte er den Kopf, wie um die unheilvollen Gedanken abzuschütteln. Hagen von Tronje, dachte er und verzog spöttisch die Lippen. Wenn sie dich jetzt sehen könnten, am Hofe zu Worms! Er zog den Mantel enger um die Schultern und ging rasch mit weit ausgreifenden, federnden Schritten den Hang hinauf. Als er den Kamm des Hügels erreicht hatte, war er äußerlich wieder so gefaßt und ruhig, wie ihn die Männer kannten.
Das Ufer lag unter ihm, als wäre keine Zeit vergangen. Die Wellen, die mit leisem Rauschen nordwärts und dem Ozean zustrebten, schienen die gleichen zu sein, die er beobachtet hatte, als er aufgebrochen war, und selbst die Männer und Tiere schienen sich kaum bewegt zu haben; als hätte er nur die Augen einen Moment geschlossen und gleich wieder geöffnet. Die Männer waren alle aus den Sätteln gestiegen. Ein paar von ihnen hatten sich im feuchten Gras der Uferböschung oder einfach im Sand ausgestreckt, um auszuruhen und ein wenig von den Kräften zurückzugewinnen, die die durchrittene Nacht aufgezehrt hatte; die anderen - unter ihnen Grimward - saßen in einem lockeren Kreis ein Stück flußabwärts am Ufer, redeten oder dösten mit offenen Augen vor sich hin. Niemand hatte bisher seinen Befehl befolgt, die Pferde zu versorgen oder sich selbst zu reinigen und frische Kleider anzulegen. Aber sein Ärger verflog, wie er gekommen war. Die Männer hatten ihr Äußerstes gegeben, und er wußte, sie würden noch mehr geben, wenn er es verlangte. Ein Wort, eine Geste von ihm genügte, und sie würden auf ihre Tiere steigen und reiten, bis sie tot in den Sätteln zusammenbrachen. Aber er kannte auch ihre Grenzen und die seinen. Er stand in dem Ruf, ein harter und unbarmherziger Mann zu sein, aber das stimmte nur zum Teil. Hart war er zu seinen Männern. Unbarmherzig war er nur zu sich selbst.
Einer der Männer bemerkte ihn und machte die anderen mit einem halblauten Ruf aufmerksam. Eine verhaltene, dennoch deutlich spürbare Unruhe ergriff den lockeren Kreis vornübergebeugt dahockender Gestalten; einige standen auf, andere bewegten nur Hände und Köpfe, als wären sie zu schwach, sich zu erheben.
Grimward erhob sich und ging Hagen entgegen, als dieser den Hügel herunterkam. Auf den braungebrannten Zügen des Langobarden zeichnete sich Erleichterung ab.
»Du warst lange weg«, sagte er ohne Einleitung. »Ich war schon in Sorge um dich.«
Hagen wich seinem Blick aus. »Ich bin ein wenig umhergegangen«, sagte er. »Um nachzudenken.« Er hoffte, daß Grimward sich mit dieser Erklärung zufriedengeben würde, wenngleich sie wenig überzeugend klang. Es war viel Zeit vergangen, seit er sich vom Lagerplatz entfernt hatte. Aber es widerstrebte ihm, von jener sonderbaren Begegnung zu berichten. »Sattelt die Pferde«, fuhr er mit veränderter Stimme fort, ehe Grimward Gelegenheit hatte, weitere Fragen zu stellen. »Wir reiten.«
»Wie wir sind?« fragte Grimward überrascht. »Die Tiere sind noch nicht versorgt, und ...«»Wie wir sind«, bestätigte Hagen. »Ich habe meine Pläne geändert.« Er hoffte, daß Grimward die Unsicherheit in seiner Stimme nicht bemerkte. Ein seltsames, beklemmendes Gefühl stieg in ihm hoch, und diesmal erkannte er, daß es Angst war. Er spürte, wie seine Handflächen in den schweren Handschuhen feucht wurden, und die Furcht schnürte ihm die Kehle zu, so daß er kein Wort mehr herausbrachte. Mit einer abrupten Bewegung wandte er sich ab, ging an Grimward vorbei den Hang hinunter und eilte zu seinem Pferd.
Das Tier stand am Fluß und trank. Sein Atem hatte sich beruhigt, aber sein Schwanz peitschte noch immer nervös, und sein Fell war jetzt, nachdem der flockige weiße Schweiß eingetrocknet war, glanzlos und stumpf; die unzähligen kleinen Kratzer und Schratte auf seinem ehemals makellosen Fell sahen aus wie schwärende Pockennarben, und es roch schlecht nach Erschöpfung und Krankheit Hagen blieb einen Moment neben dem Tier stehen, tätschelte seinen Hals und warf einen besorgten Blick in die Runde. Sein Pferd war nicht das einzige, das nahe am Zusammenbrechen war, und um die Reiter stand es kaum besser. Die Männer waren gehorsam aufgestanden und begannen ihre Habseligkeiten und Waffen zusammenzusuchen, aber in ihren Gesichtern war eine tiefe Müdigkeit die schlimmer war als bloße Erschöpfung.
»Was ist dir?« Grimwards Stimme klang beunruhigt, und Hagen wurde sich bewußt daß ihm seine Verwirrung anzusehen war. Er spürte, wie sich seine Kiefer verkrampften. Aber es war ihm unmöglich zu antworten. Es war, als wäre plötzlich alle Kraft aus ihm gewichen. Grimward trat einen Schritt auf ihn zu. »Hagen«, sagte er und wiederholte besorgt: »Was ist dir?«
»Nichts«, antwortete Hagen mühsam, und dann lauter: »Es ist nichts. Ich habe meine Meinung geändert, das ist alles. Wir waren sechzig Tage unterwegs und sollten sehen, daß wir so schnell wie möglich nach Hause kommen.« »Aber...«
»Es spielt keine Rolle, wie wir aussehen, Grimward. Wer erlebt hat, was wir erlebt haben, hat ein Recht darauf, müde zu sein.« Für einen Moment hatte Hagen das Gefühl, daß die dunklen Augen des Langobarden direkt in seine Seele blickten und ihre tiefsten Geheimnisse ergründeten. Für einen winzigen Moment war er verwundbar geworden, und wie ein Kämpfer, der sich zu sehr auf einen starken Schild und die Festigkeit seines Panzers verlassen hatte, war er darunter empfindlich und leicht zu verletzen. Was geschieht mir? dachte er erschrocken. War das ein Traum? Hatte ihn die Erschöpfung übermannt so daß er nicht mehr zwischen Einbildung und Wahrheit unterscheiden konnte? Doch dann ballte er die linke Hand zur Faust und spürte den Schmerz und den Verband unter dem Handschuh, und er wußte, daß alles weder ein Traum noch eine andere Art von Trugbild gewesen war. »Laß die Männer aufsitzen«, befahl er. Seine Stimme klang spröde. Grimward nickte. Sein Blick ging an Hagen vorbei, und er starrte auf den Hügel, als ahnte er, daß sich jenseits dieser Anhöhe irgend etwas zugetragen hatte, das für die plötzliche Veränderung in Hagens Wesen verantwortlich war. Aber er schwieg. »Sitzt auf«, befahl Hagen noch einmal bestimmter, und Grimward gehorchte. Hagen sah ihm nach, und für einen Augenblick tat ihm sein rüder Ton leid. Doch auch dieses Gefühl verging rasch. Er wandte sich um, zog sich mit einer kraftvollen Bewegung in den Sattel und legte die Hand beruhigend zwischen die Ohren des Pferdes, als das Tier den Kopf hob und scheuen wollte. Auch die anderen saßen auf, ohne Zögern und ohne zu murren. Nicht einmal in ihren Blicken war eine Spur von Widerspruch oder Trotz zu lesen, obwohl sie eine längere Rast bitter nötig gehabt hätten. Aber ihre Bewegungen waren hölzern und starr, und Hagen spürte plötzlich die tiefe Kluft, die trotz allem zwischen ihm und diesen Männern - selbst Grimward - bestand. Vielleicht war es gerade der Umstand, daß niemand widersprach oder murrte, der ihm dies deutlich machte. Und er begriff, daß es ihm niemals wirklich gelingen würde, die Kluft zu überwinden.
Sie ritten los, zuerst langsam, dann, als die Pferde ihren gewohnten Trab wiedergefunden hatten und ihre Muskeln wieder warm und geschmeidig geworden waren, schneller. Der Platz, an dem sie gerastet hatten, fiel rasch hinter ihnen zurück und verschwand schließlich hinter einer Biegung des Ufers. Der kalte Atem des Flusses hüllte sie ein, aber die Sonne stieg langsam höher, und nach und nach gewannen ihre Strahlen an Kraft und Wärme, so daß ihre Kleider und das klamme Sattelzeug zu trocknen begannen. Aber nach einer Weile zogen wieder graue Regenwolken auf; kurz darauf begann es zu nieseln.
Hagen senkte den Kopf, um sein Gesicht vor den nadelspitzen Regentropfen zu schützen, die ihm der Wind eisig entgegenpeitschte. Das Flußufer wurde morastig, der Regen mußte, je weiter flußabwärts, um so länger und heftiger gefallen sein. Die Pferde kamen immer öfter aus dem Tritt, und Hagen begann sich ernsthaft zu sorgen, daß einer der Männer aus dem Sattel stürzen und sich verletzen könnte. Nach einer Weile gab er ein Zeichen, vom Fluß abzuweichen und, parallel zu ihm, aber ein Stück weiter landeinwärts weiterzureiten. Der Regen nahm zu, und auch der Wind wurde schärfer und kälter. Normalerweise hätte Hagen die Männer jetzt irgendwo anhalten und Rast machen lassen, bis sich der Sturm ausgetobt hatte oder wenigstens seine ärgste Wut gebrochen war. Aber irgend etwas trieb ihn weiter, zurück nach Worms. Fast als müsse er sich davon überzeugen, daß dort trotz der Prophezeiung der Alten noch alles zum besten stand.
Weiter und weiter ritten sie nach Norden, ohne die geringste Pause einzulegen, sprengten über Wiesen und morastige Felder, brachen durch Unterholz und Gestrüpp und wichen nur dann von der direkten Richtung ab, wenn ihnen ein Bachlauf, ein Felsen oder ein Hügel, der zu steil war, um die Pferde im vollen Galopp hinaufzujagen, den Weg versperrten. Die Entfernung zu den schützenden Mauern der Stadt schmolz zusehends, und je mehr sie sich der Stadt näherten, um so häufiger wurden die Anzeichen menschlicher Besiedlung in der über weite Strecken unberührten Landschaft rechts und links des Rheines. Die ersten Häuser tauchten vor ihnen auf, einzeln dastehende Gehöfte, Hütten und Katen zumeist, noch keine Stadt, wohl aber ihre ersten Vorboten; Radspuren und Trampelpfade kreuzten ihren Weg, da und dort zogen sich Kotspuren von Pferde- oder Ochsengespannen durch den Schneematsch und Schlamm, und auf der anderen Seite des Flusses bog sich die schwarze Rauchfahne eines Kohlenmeilers im Wind: alles deutete darauf hin, daß sie sich dem Herzen des Reiches näherten. Dann sprengten sie quer über eine sumpfige Wiese und erreichten einen Weg, der sich, dem natürlichen Verlauf der Landschaft folgend, zwischen Hügeln und Feldern dahinschlängelte. Auch er war vom strömenden Regen aufgeweicht und in knöcheltiefen Morast verwandelt worden, aber die Pferde kamen trotzdem besser voran, und Hagen, der an der Spitze der Kolonne ritt, steigerte ihr Tempo noch. Er nahm jetzt keine Rücksicht mehr auf Dörfer oder Höfe, sondern jagte auf dem kürzesten Wege ihrem Ziel entgegen. Wo sie auf Menschen trafen, sprengten sie an ihnen vorüber und beachteten die verwunderten - mitunter wohl auch furchtsamen - Blicke nicht, die Männer, Frauen und Kinder dem zerlumpten und waffenklirrenden Reitertroß nachschickten, der ein schwaches Echo des Krieges und der Not in ihre geordnete und friedliche Welt brachte. Und endlich lag Worms vor ihnen. Der Fluß, an dessen Ufer die Reiter wieder zurückgekehrt waren, wälzte sich in einer schwerfälligen Biegung in seinem breiten Bett, und die graubraunen Sandsteinmauern der Festung erhoben sich vor ihnen, mächtig und düster und dennoch der Inbegriff alles dessen, was sie in den letzten Tagen und Wochen so schmerzlich entbehrt hatten. Die braungelben Strohdächer des Marktfleckens, der vor den Toren der Burg lag und in den letzten Jahren zu einer kleinen Stadt angewachsen war, wirkten verloren und winzig; ein düsteres Gemälde, in dem ein geschickter Maler versucht hatte, den scheidenden Winter einzufangen. Über den Zinnen der Burg wehten bunte Wimpel und Fahnen im Wind, nicht mehr als Farbkleckse über die Entfernung hinweg, bunten Vögeln oder Sommerblumen gleich, die den Winter überlebt hatten und den Frühling begrüßten. Die Helme der Wächter in den Wehrgängen und auf den Türmen schimmerten im Licht der Mittagssonne, die sich durch die Wolken gekämpft hatte, und der Wind trug durch das Rauschen des Flusses den dünnen Ton eines Fanfarenstoßes heran. Die heimkehrenden Reiter waren gesichtet worden, und allem Anschein nach erwartete man sie bereits. Die Botschaft von ihrem Kommen war ihnen vorausgeeilt.
In einer weit auseinandergezogenen Kette näherten sie sich der Stadt und sprengten auf der breiten, roh mit Kopfsteinen gepflasterten Straße auf die Festung zu. Sie jagten, ohne ihr Tempo zu zügeln, in die Stadt hinein und auf die kaum eine Pfeilschußweite entfernten Tore der Festung zu. Auch hier sahen die Menschen überrascht auf und sprangen beiseite, obwohl der Anblick der Reiter für sie nicht so ungewohnt und erschreckend war wie für die Menschen in den weiter entlegenen Ansiedlungen; eine Mutter zog hastig ihr Kind von der Straße, jemand warf einen Fensterladen oder eine Tür zu, und auf halbem Wege versuchte ein keifender Bauer, seine beiden Ochsen zum Weitergehen zu bewegen, die mit ihrem Wagen die Straße blockierten. Hagen ritt unbeirrt weiter, sein Pferd setzte mit einem ungeschickten Sprung über die Deichsel des Ochsenkarrens hinweg. Der Ruck schleuderte Hagen beinah aus dem Sattel; das erschöpfte Tier verlor auf dem regennassen Kopfsteinpflaster fast das Gleichgewicht. Aber es fand wieder in seinen gewohnten Tritt zurück und griff nun von selbst schneller aus, als es seine gewohnte Umgebung wiedererkannte und den Stall witterte. Hinter ihm schrie der Bauer erschrocken auf und brachte sich in Sicherheit, als Hagens Begleiter wie ein Sturmwind an ihm und seinem Gespann vorüberbrausten. Das Hämmern der Pferdehufe wurde dumpfer und grollte plötzlich wie Donner, als sie auf die heruntergelassene Zugbrücke ritten. Aus dem Burggraben wehte ihnen ein kalter Hauch wie eine eisige Begrüßung entgegen, und Hagen stellte mit einem raschen, gewohnheitsmäßigen Blick fest, daß auf dem Wasser noch eine dünne Eishaut glitzerte. Das Fallgatter war halb hochgezogen und das zweiflügelige, mit Eisen beschlagene Tor weit geöffnet. Einer der beiden Wächter hob die Hand zum Gruß und trat beiseite, um Hagen und seine Begleiter vorüberzulassen. Aber Hagen zügelte sein Pferd und brachte es mit einem Ruck zum Stehen. Neben ihm zügelte Grimward sein Pferd, und die anderen hinter ihnen.
Hagen erschrak, als er in das Gesicht des Langobarden blickte. Grimwards Züge waren grau und eingefallen, eine Maske der Erschöpfung. Er wirkte krank Und ein Blick in die Gesichter der anderen zeigte ihm, daß es um sie nicht besser bestellt war. Sie alle hatten die Grenzen ihrer Kraft weit überschritten. Wie ein Stich durchfuhr Hagen die Erkenntnis, daß er drauf und dran gewesen war, Männer und Tiere zu Tode zu hetzen. Er hatte es nicht einmal bemerkt. Und nicht einer der Männer hatte protestiert oder auch nur einen Laut der Klage von sich gegeben. »Herr?«
Jetzt, da Worms vor ihnen lag und das Leben bei Hofe und die gewohnte Welt zum Greifen nahe waren, fiel Grimward wieder in die gewohnte förmliche Anrede zurück. Hagen widersprach nicht. Die Worte der Freundschaft, die er am Morgen zu ihm gesprochen hatte, waren einem Moment der Schwäche entsprungen. Einer Schwäche, die er sich nicht leisten konnte. Nicht hier. Grimward wußte das.
Hagen antwortete nicht gleich. Er starrte mit zusammengekniffenen Augen nach oben. Über dem Fluß, etwa auf gleicher Höhe mit ihnen, kreiste ein glänzender schwarzer Punkt. Die Krähe, dachte Hagen. Sie war ihnen gefolgt.
»Dein Bogen, Grimward«, sagte Hagen, »bist du noch so gut damit wie früher?« Grimward begriff nicht, faßte aber automatisch nach dem schmucklosen braunen Eibenbogen, den er im Steigbügel trug wie andere eine Lanze.
»Warum?«
Hagen deutete auf die Krähe. »Schieß sie herunter«, sagte er knapp. Nach Worms kommst du nicht, Unglücksvogel.
»Ich ...« Grimward blickte verständnislos auf die Krähe, dann in Hagens Gesicht und wieder auf die Krähe, die unbeteiligt über dem Fluß ihre Kreise zog. Zögernd zuerst, dann aber entschlossen nahm Grimward einen seiner beiden letzten Pfeile aus dem Köcher, legte ihn ein, spannte die Sehne und schoß; schnell und ohne lange zu zielen, wie er es immer tat. Der Pfeil sirrte davon, geradewegs auf die Krähe zu, wurde von einer plötzlichen Bö erfaßt und fiel weit hinter dem schwarzen Vogel ins Wasser.
Grimward stieß einen halblauten Fluch in seiner Muttersprache aus und wollte nach seinem letzten Pfeil greifen, aber Hagen hielt ihn zurück. »Laß es«, murmelte er. »Das war es nur, was ich wissen wollte.« Du kannst nicht mit Pfeilen nach dem Schicksal zielen.
Er schnalzte mit den Zügeln, gab seinem Pferd die Sporen und ritt durch das Tor, ohne auf die anderen zu warten.
Auf dem Innenhof herrschte reges Treiben, und für einen Moment kam es Hagen vor, als wäre er mit einem Schlag in eine vollkommen fremde Welt versetzt worden. Männer und Frauen hasteten hin und her, schleppten Körbe und Krüge, es war ein Geschiebe und Gedränge, ein Lachen und Rufen, und alle taten sich wichtig und schienen voll freudiger Erwartung zu sein. Ein paar alte Weiber aus der Stadt waren damit beschäftigt, Girlanden aus bunten Bändern zu flechten, und als Hagen hereingeritten kam, eilte ihm ein halbes Dutzend Knechte entgegen, um sein Pferd zu halten und ihm und den anderen beim Absitzen zu helfen. Hagen beachtete sie nicht, ritt, schneller vielleicht, als auf dem mit Menschen überfüllten Hof ratsam war, weiter und hielt erst vor der säulengeschmückten Freitreppe, die zum Haupt- und Wohnhaus hinaufführte. Noch ehe das Pferd vollends stand, schwang er sich aus dem Sattel, löste den Schild vom Sattelgurt und lief ein paar Schritte die Treppe hinauf - blieb stehen und sah sich stirnrunzelnd um. Die Festung war geschmückt wie zu einem Fest, und was er sah, schien nur ein Teil der getroffenen Vorbereitungen zu sein: vor dem Küchenhaus stand ein Wagen mit frisch gebackenem Brot, auf einem anderen lag ein schon ausgeweideter und geviertelter Ochse, und aus den Gebäuden, die sich längs des Hofesgegen die Mauern lehnten, drang lebhafter Lärm und verriet, daß auch dort überall eitrig gearbeitet wurde. »Hagen! Ohm Hagen! Du bist zurück!«
Hagen schrak aus seinen Betrachtungen, er drehte sich um und lächelte unwillkürlich, als er Giselher erkannte, den jüngsten der drei Brüder, die über Worms und Burgund herrschten: Gunther, Gernot und Giselher. »Hagen!« sagte Giselher noch einmal. Seine dunklen Augen blitzten erfreut, als er Hagen entgegeneilte und ihn übertrieben kraftvoll in die Arme schloß. Hagen ließ es einen Moment geschehen, ehe er seine Umarmung mit sanfter Gewalt sprengte und ihn auf Armeslänge von sich schob. Giselher lachte. Seine Stimme klang tief und voll und wollte nicht recht zu dem sanften, edel geschnittenen Gesicht unter dem schwarzgelockten Haar, seiner hohen, schlanken Gestalt und seinen schmalen Händen passen. Er war der jüngste der drei Brüder, aber er war schon jetzt, obwohl er den Schritt vom Knaben zum Mann noch nicht ganz vollzogen hatte, größer als Hagen und sehr kräftig. Schon so mancher, der geglaubt hatte, seine schlanken Finger wären eher geeignet, eine Schreibfeder oder Kinderspielzeug zu halten als ein Schwert, hatte sich eines Besseren belehren lassen müssen. »Daß du zurück bist, und gerade heute!« Er lachte wieder, umarmte Hagen ein zweites Mal, ohne sich darum zu kümmern, daß sich ein solches Benehmen für einen König in der Öffentlichkeit nicht schickte, und trat einen Schritt zurück, um Hagen zu betrachten. »Du siehst erschöpft aus«, sagte er und fügte, nach einem raschen Blick auf Hagens Begleiter, die nacheinander aus den Sätteln gestiegen waren und mit hängenden Schultern über den Hof zu ihren Quartieren gingen, hinzu: »Und deine Begleiter auch. Ihr müßt die ganze Nacht geritten sein, um rechtzeitig wieder in Worms zu sein.«
»Rechtzeitig wofür?« fragte Hagen interessiert. »Ich sehe, daß Vorbereitungen für ein Fest getroffen werden.« Er lächelte. »Ihr schmückt die Burg wohl kaum zur Feier meiner glücklichen Rückkehr, oder?« »Nein - obgleich es Grund genug wäre, ein Fest zu feiern, wenn ein Freund gesund von der Reise heimkehrt. Burgund hat endlich Frieden mit Rom geschlossen, Hagen - du hast unterwegs noch nichts davon gehört?« Hagen schüttelte verblüfft den Kopf. Giselhers Eröffnung kam überraschend; und sie erschien ihm zudem sinnlos. »Einen Frieden? Hatten wir denn Krieg?«
Giselher lachte. »Nein. Aber es ist...« Er brach ab, schüttelte den Kopf und machte eine wegwerfende Bewegung mit der linken Hand. »Was rede ich da? Du kommst zurück von einer Reise, die dir sicherlich Aufregenderes beschert hat als langweilige Politik und Friedenspakte, die ohnehin bei der erstbesten Gelegenheit gebrochen werden. Später ist Zeit genug, darüber zu reden. Jetzt berichte, was dir widerfahren ist.« Sein Lächeln wurde schalkhaft. »Hast du viele Drachen getötet und Riesen bezwungen?«
Hagen lachte kurz auf. »Sehr viele«, antwortete er, »aber ich habe noch genügend für dich übriggelassen, Giselher. Doch auch davon später.« »Natürlich.« Giselher nickte schuldbewußt. »Du mußt müde sein und hungrig. Ich werde gleich nach Rumold schicken, damit er dir ein Mahl bereiten läßt. Doch zuvor laß uns zu Gunther gehen. Er wird sich freuen, dich wiederzusehen. Die Abende waren lang ohne dich.« Er drehte sich um und winkte ungeduldig, als Hagen ihm nicht schnell genug folgte. »Nicht so rasch«, sagte Hagen halb im Scherz. »Ich bin ein alter Mann und kann nicht mit deinen jungen Beinen mithalten.« Er ging hinter Giselher die Treppe hinauf, trat durch den hohen, gewölbten Eingang der Halle und wurde ernst. »Geh voraus und sage dem König Bescheid«, bat er. »Ich gehe zuerst in meine Kammer und lege frische Kleidung an. Der Staub von sechzig Tagen klebt an meinem Mantel.« Giselher zögerte kurz, nickte dann aber und eilte davon. Hagen sah ihm nach, bis er am anderen Ende der weitläufigen, beinah leeren Halle verschwunden war. Er war allein, die Wachen, die normalerweise beiderseits des Eingangs standen, waren verschwunden - wahrscheinlich hatte ihnen Hunold kurzerhand das Schwert aus der Hand genommen und ihnen statt dessen Kochlöffel und Besen hineingedrückt, damit sie sich in der Küche oder sonstwo nützlich machten und bei den Vorbereitungen für das Fest halfen. Worms war eine mächtige Burg, aber die Feshing war - zumindest in Friedenszeiten wie jetzt - nur schwach besetzt, und es gab kaum einen, der außer dem Waffenrock des Kriegers nicht auch noch einen anderen Rock, etwa den eines Handwerkers, trug. Hagen fror plötzlich; Müdigkeit und Erschöpfung machten sich nun, da die Anspannung vorüber war, mit Macht bemerkbar. Seine Hände zitterten, und für einen Moment schwindelte ihm. Sein Körper - und wohl auch sein Geist - forderten, was er ihnen allzu lange vorenthalten hatte. Mit einer müden Geste strich er sich über die Stirn. Er hatte nicht viel Zeit; Gunther würde ihn sehen wollen, und er war kein geduldiger Mann. Wenn Hagen nicht bald kam, würde ihn der König in seiner Kammer aufsuchen, und das wollte er nicht.
Hagen öffnete eine Tür, ging durch einen niedrigen, nur von einer halb heruntergebrannten Fackel erhellten Gang und stieg mit schweren Schritten die Treppe hinauf. Seine Kammer lag am Ende des nächsten Ganges. Er öffnete die Tür, schob den Riegel hinter sich zu und blieb einen Moment mit geschlossenen Augen stehen. Das Zimmer war dunkel und im Grunde nicht mehr als ein Loch, zwei Schritte breit und doppelt so lang. Die hölzernen Läden waren vorgelegt und hielten das Sonnenlicht und den Tag draußen und die Kälte des Winters drinnen. Die Luft roch abgestanden. Seinem Wunsche gemäß hatte während seiner Abwesenheit niemand den Raum betreten; die Decken und Kleider auf der Bettstatt lagen noch so, wie er selbst sie hingeworfen hatte. Sie waren feucht geworden. Mit einem tiefen Seufzer löste er sich aus seiner Erstarrung und trat zum Fenster. Die Läden quietschten, als er sie öffnete. Die hölzernen Scharniere waren verzogen und mußten erneuert werden. Das Sonnenlicht kam ihm nach der Dunkelheit übermäßig grell vor. Er atmete ein paarmal tief durch, drehte sich um und ging zum Tisch zurück. Auf der Platte lag Staub, und in der silbernen Schale stand noch das Wasser, mit dem er sich am Morgen, vor seinem Aufbruch, das Gesicht gewaschen und die Haare geglättet hatte. Hagen beugte sich darüber, die Hände auf die Tischplatte gestützt, und starrte einen Moment lang sein Spiegelbild an. Was er sah, erschreckte ihn. Das Wasser war trüb und grau und spiegelte sein Gesicht nur verschwommen, undeutlich wider. Er bewegte sich. Die Erschütterung pflanzte sich über die Tischplatte bis in die silberne Schale fort, das Gesicht in dem trüben Spiegel zersprang. Aber für einen Augenblick glaubte er nicht sein lebendes Antlitz zu sehen, sondern den Tod, einen grinsenden, kahlen Totenschädel, der ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrte.
Hagen richtete sich mit einem Ruck auf und wandte sich zum Fenster. Vom Hof drangen die Stimmen der Knechte und das harte Klappern der Pferdehufe herauf, jemand lachte, und die eisige Luft schnitt wie ein Messer in seine Kehle. Seine Hände umklammerten die schmale Fensterbrüstung so fest, als wollte er sie zerbrechen.
Sei kein Narr! dachte er. Laß dich nicht von den Worten eines närrischen alten Weibes verwirren! Sein Herz hämmerte, und sein Atem ging schnell. Hagen schüttelte heftig den Kopf und ballte die Fäuste, daß es schmerzte.
Für einen kurzen Moment hatte ihn die Furcht noch einmal eingeholt. Hagen wartete, bis seine Hände aufhörten zu zittern und sich sein Atem beruhigt hatte. Dann trat er an seine eisenbeschlagene Truhe, öffnete sie und nahm frische Kleider heraus. Wenig später war er umgezogen und auf dem Weg nach unten. Sein Gesicht und seine Hände fühlten sich klebrig an. Jetzt, wo er saubere Kleidung trug, empfand er es um so mehr. Aber das abgestandene Wasser in der Schale war ihm zuwider gewesen, und die Knechte nach frischem Wasser zu schicken, dazu blieb keine Zeit.
Die Kleider, die er trug, unterschieden sich nicht sehr von denen, die er unterwegs getragen hatte; wie alle Kleidungsstücke, die er besaß, waren sie schwarz, von einfachem Schnitt und so schlicht, daß sie auf den ersten Blick fast ärmlich wirkten. Aber es waren Rose und Kreuz Burgunds, die jetzt in feiner Silberstickerei die Borte seines Mantels zierten, nicht die Streitaxt Tronjes, und sein Schwert, dasselbe wie immer, stak nun in einer silberbeschlagenen Prachtscheide statt der einfachen, aus Holz und Leder gefertigten Hülle. Das Schwert war die einzige Waffe, die er besaß. In diesem einen Punkt hatte er sich nie der hiesigen Sitte angepaßt: er hielt nichts davon, besondere Waffen für besondere Gelegenheiten zu tragen. Er hatte nur dieses Schwert, und es war eine gute Klinge. Sie hatte ihn den weiten Weg von Tronje an den Rhein begleitet, war zerschrammt und schartig, in unzähligen Schlachten und Kämpfen erprobt, aber niemals zerbrochen und seiner Hand nie entglitten. In den Augen der anderen mochte sie schäbig aussehen, und für die Fäuste der meisten wäre sie zu groß und zu schwer gewesen, so, wie sein Helm eine Spur zu groß schien, um nicht auf Schläfen und Nacken zu drücken und sein Kettenhemd eine Spur zu schwer, um sich mühelos darin zu bewegen. Aber im Gegenteil, und vielleicht war dies eines seiner Geheimnisse: alles, was er tat, schien einen Atemzug schneller, eine Ahnung kraftvoller zu sein als gewöhnlich, sein Denken eine Spur schärfer, seine Schlagfertigkeit und Schlagkraft ein unmerkliches bißchen besser. Gerade genug, um zu siegen. Immer.
Flüchtig dachte er an Grimward und die anderen, während er durch die kühlen, dunklen Gänge zum Thronsaal hinabging. Sechzig Tage lang hatten sie wie Brüder gelebt, aber es war - und das begriff er erst jetzt - eine Verbundenheit ohne Dauer gewesen. Grimward und die anderen waren wieder zu einem Teil der Burg geworden, im gleichen Moment, in dem sie durch das Tor geritten waren; gesichtslose Gestalten in den Waffenröcken Burgunds, deren Namen man nicht wußte und auch nicht zu wissen brauchte. Und wahrscheinlich wäre es ihnen nicht einmal recht gewesen, wenn er versucht hätte, an das dünne Band der Freundschaft anzuknüpfen, das sie für kurze Zeit verbunden hatte. Hagen verscheuchte den Gedanken und ging schneller.
Gunther erwartete ihn im Thronsaal. Er war nicht allein. Giselher war bei ihm, und an der langen Tafel saßen Ekkewart und Volker von Alzei und redeten leise miteinander, sprangen jedoch bei Hagens Eintreten auf und kamen ihm entgegen. Ekkewart umarmte ihn, fast so stürmisch wie zuvor Giselher, während der Spielmann nach seiner Hand griff und sie drückte, so fest, als wollte er sie ihm brechen. »Wie schön, dich gesund und bei Kräften wieder in Worms zu sehen, Hagen von Tronje«, sagte Volker. »Du warst lange fort. Ich hoffe, du hast auf deiner Reise viele Abenteuer erlebt und wirst uns viele Geschichten erzählen, die ich dir ablauschen und in meinen Liedern verwenden kann.« Für Volker von Alzei war dies eine ungewöhnlich lange Rede. Von allen bei Hofe war Volker wohl der Schweigsamste, wenn er nicht gerade sang und dazu die Laute schlug. Dann sprudelten die Worte aus ihm heraus, manchmal ganze Nächte lang. Wenn er nicht sang, redete er kaum, sondern sparte sich seinen Atem auf.
Hagen erwiderte seinen Händedruck und wandte sich um, um Gunther zu begrüßen. Der König des Burgunderreiches hatte sich bis jetzt nicht von seinem holzgeschnitzten Thron erhoben, auf dem er schweigend saß. Er war barhäuptig - wie fast immer, die Krone trug er nur bei offiziellen Anlässen und selbst dann nur, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ - und zum Schutz vor der Kälte, die selbst durch die mannsdicken Mauern gekrochen war und sich in allen Winkeln und Ritzen eingerastet hatte, in einen dicken, mit Schaffell gefütterten Mantel gehüllt, der ihn massiger - und älter - erscheinen ließ, als er war. Er lächelte, aber sein Gesicht wirkte müde, und um seinen Mund lag kaum merklich ein leidender Zug. Seine Haltung war ein wenig verkrampft, und seine linke Hand schien nicht auf dem Schwertgriff zu ruhen, sondern sich daran festzuklammern.
Hagen trat zu ihm. Zwei Schritte vor den Stufen des Thrones blieb er stehen, legte die linke Hand gegen die Brust und verbeugte sich leicht. »Mein König«, sagte er, »ich bin zurück.«
Gunther nickte, richtete sich ein wenig auf und sank mit einem unterdrückten Schmerzenslaut zurück. Seine Lippen zuckten. »Hagen von Tronje«, begann er. »Dein König ist froh und stolz, dich wieder in Worms zu wissen. Verzeih mir, daß ich nicht aufstehe, um dich zu begrüßen, wie du es verdient hättest, aber mein Rücken schmerzt zu sehr.«
»Ihr seid verletzt?« fragte Hagen.
Gunther lächelte gequält. »Ich fürchte, nicht nur am Leibe, sondern auch in meinem Stolz«, gestand er. »Das ganze Land wird über mich lachen, wenn bekannt wird, daß Gunther von Burgund vom Pferd gestürzt ist Noch dazu«, fügte er mit einem übertriebenen Seufzer hinzu, »vom Rücken einer Stute.« Um Giselhers Mundwinkel zuckte es spöttisch, aber er schwieg, wenn auch sicher nicht aus Respekt vor dem Thron oder dem Mann darauf. Hagen blieb ernst. »Ist es schlimm?«
Gunther winkte ab. »Ich kann mich seit drei Tagen kaum bewegen, doch es wird von Stunde zu Stunde besser.« Er versuchte aufzustehen, sank abermals, diesmal mit einem nicht ganz unterdrückten Schmerzenslaut, zurück und streckte Hagen die Hand entgegen. In seinen Augen blitzte es zornig auf. »Sei so gut und hilf einem Mann, der sich im Augenblick doppelt so alt fühlt wie du, Hagen von Tronje.«
Hagen stieg die zwei Stufen zu Gunthers Thron hinauf und wartete, bis sich der König erhoben und schwer auf seine linke Schulter gestützt hatte. Unwillkürlich streckte er die Hand aus, um auch seinen Arm zu stützen, aber Gunther zog seine Hand hastig zurück. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, und Hagen sah das schmerzliche Flackern in Gunthers Augen. Dies und die Art, wie er sich auf ihn stützte, während sie langsam zur Tafel hinübergingen - Schwerfällig, müde und so, daß Hagen fast sein ganzes Körpergewicht zu spüren bekam - sagten ihm, daß der König schwerer verletzt war, als er zugab. Hagen war bestürzt Und ratlos. Ein Mann wie Gunther fiel nicht einfach vom Pferd. Aber in Gunthers Blick hatte auch noch etwas anderes gelegen. Etwas, was vielleicht nur Hagen zu deuten imstande war und was ihm sagte, daß sie später darüber reden würden - wenn überhaupt. Behutsam führte er Gunther zum Kopfende der niedrigen Tafel, wartete, bis der König sich gesetzt hatte, und nahm ebenfalls Platz. Nach sechzig Tagen im Sattel und auf dem nackten Boden oder allenfalls einem Sack Stroh erschien ihm der Stuhl ungewohnt, hart und unbequem; er rutschte ein paarmal unruhig hin und her, fand aber keine bequemere Stellung.
»Nun«, begann Gunther nach einer kleinen Pause, die er dazu benutzte, so wie Hagen auf dem ungepolsterten hochlehnigen Stuhl eine Haltung zu suchen, die für seinen schmerzenden Rücken halbwegs erträglich war, »berichte, treuer Freund - was ist dir widerfahren auf deiner Reise zu den Grenzen des Reiches?«
Hagen überlegte sich seine Antwort gut; er ahnte, daß jetzt nicht der Moment war, mit Botschaften von Todesdrohungen und Unheil aufzuwarten, aber es widerstrebte ihm auch, die Antwort zu geben, die Gunther erwartete; seine Sorgen mit einem Lächeln abzutun oder einem der rauhen Scherze, für die er bekannt war, und spannende Abenteuer zum besten zu geben. Es würde schwer genug sein, später, wenn er mit Gunther allein war, die Wahrheit zu berichten.
»Viel«, antwortete er ausweichend. »Aber nichts, was so wichtig wäre, daß es nicht warten könnte, bis ich erfahren habe, was sich in Worms zugetragen hat. - Außer der Tatsache«, fügte er nach einer genau bemessenen Pause hinzu, »daß der König der Burgunder von seinem Pferd abgeworfen wurde.« Plötzlich war es still, und Hagen spürte - obwohl sein Blick unverwandt auf Gunther gerichtet blieb -, wie sich auf den Gesichtern von Ekkewart, Giselher und Volker fast so etwas wie Erschrecken abzeichnete. Hagen war in Worms vielleicht der einzige, der sich eine solche Bemerkung erlauben konnte, eher noch als Gunthers eigene Brüder, aber für einen Moment sah es so aus, als hätte er den Bogen überspannt. Dann lächelte Gunther, und die Spannung entlud sich in einem erst zaghaften, dann brüllenden Gelächter.
»Wohl gesprochen, Hagen von Tronje«, sagte Gunther, als sich der Lärm wieder gelegt hatte. »Es muß wohl wirklich so sein, daß der, der den Schaden hat, für den Spott nicht zu sorgen braucht. Das« - fügte er mit einem halb belustigten, halb drohenden Blick in die Runde hinzu - »übernehmen schon andere für ihn.« Wieder wollte Gelächter aufkommen, aber Gunther sorgte mit einer raschen Handbewegung für Ruhe. »Im Ernst, Freund Hagen«, fuhr er fort. »Welchen Eindruck hattest du vom Land auf deiner Reise?« Hagen wich seinem Blick aus. Er glaubte zu spüren, daß Gunthers Frage nicht reiner Neugier entsprang, sondern einen ganz bestimmten Grund hatte, und jetzt fühlte er sich in die Enge gedrängt. Gunther wollte eine Geschichte von ihm hören, nicht die Wahrheit, aber Hagen war nicht in der Stimmung, Geschichten zu erzählen. »Keinen besonderen«, antwortete er ausweichend, »nichts, was nicht schon lange bekannt wäre. Die Zeiten sind schlecht, aber ruhig.« Gunther zog die linke Augenbraue hoch, und Hagen sah, daß sich seine Finger ein wenig fester um den silbernen Trinkbecher schlössen. An zwei der Finger entdeckte er große, mit Edelsteinen besetzte Ringe, die neu waren. Hagen gefiel das nicht. Er verabscheute Schmuck dieser Art an Männern, und bei Gunther besonders. Ein Mann wie er, mit Zügen, die eine Spur zu weich waren, und Bewegungen, aus denen eher Sanftmut als königliche Würde sprach, sollte keinen Schmuck tragen. Nicht solchen. »Trotzdem«, sagte Gunther. »Berichte, Hagen. Wir alle sind begierig darauf, zu erfahren, was du erlebt hast. Und manchmal klingt in den Ohren der Daheimgebliebenen auch das Vertraute neu.« Er lächelte. »Hast du einen Drachen getötet, Freund? Die Männer in deiner Begleitung boten ein Bild des Jammers, und der Wundscher wird eine Woche zu hin haben, sie wieder zusammenzuflicken. Sie werden das Osterfest versäumen.«
Hagen dachte an die Festesvorbereitungen, die er im Hof beobachtet hatte, und daran, wie Giselher sie erklärt hatte. Aber er ging nicht darauf ein, obwohl er spürte, daß Gunther es erwartete. Ostern - auch dies war einer der neuen Bräuche des Christentums, die er nicht verstand und nicht verstehen wollte. »Ein Drache war es nicht«, antwortete er lachend. »Sondern nur ein Bär. Aber ein kleiner. Er hatte mehr Angst vor uns als wir vor ihm.« »Und ein gutes Dutzend Räuber«, fügte Gunther hinzu. Hagen nickte. Der Klatsch war schneller gewesen als er selbst. »Richtig«, sagte er. »Doch für sie gilt das gleiche wie für den Bären - sie waren nicht sehr stark, und als sie merkten, daß sie es nicht mit harmlosen Kaufleuten, sondern mit Kriegern zu tun hatten, suchten sie ihr Heil in der Flucht.«»Die aber keinem gelungen ist.«
Hagen drehte sich nach dem Sprecher um. Es war Giselher, der ihn aus vor Neugier brennenden Augen anblickte. Sein knabenhaftes Gesicht war vor Aufregung gerötet. Hagen wußte, auf welche Antwort er wartete. »Mag sein«, antwortete er ausweichend. »Und wenn, so werden sie für die nächsten zehn Jahre die Finger vom Räuberhandwerk lassen.« Auf Giselhers Zügen malte sich Enttäuschung, aber Hagen ging nicht weiter auf die Sache ein. In Wahrheit hatte er den Großteil der Wegelagerer, als er deren nackte Not erkannte, entkommen lassen. Sollte er einem Mann nach dem Leben trachten, weil dieser Hunger hatte? Er verscheuchte die Erinnerung und wandte sich wieder an Gunther. »Ihr habt mich gefragt, was ich gesehen habe auf meinem Ritt, mein König. Ich will Euch die Antwort nicht schuldig bleiben: Ich sah das Unheil. Zumindest seinen Schatten. Es lauert an den Grenzen und wartet darauf, hereingelassen zu werden.« Seine Worte überraschten ihn selbst; nun, da sie heraus waren, hätte er sie am liebsten wieder zurückgenommen. Doch gleichzeitig fühlte er sich wie von einer Last befreit »Düstere Worte aus dem Munde eines düsteren Mannes«, erwiderte Gunther. »Alle meine Berater und Kundschafter sagen das Gegenteil dessen, was ich jetzt von dir höre, Freund Hagen. Und wenn ich die Burg verlasse und über das Land reite, sehe ich glückliche Menschen und lachende Kinder. Ich weiß natürlich«, fügte er rasch hinzu, als Hagen widersprechen wollte, »daß man dem König mit Höflichkeit und einem Lachen begegnet, auch wenn einem der Stachel des Schmerzes im Fleisch sitzt. Doch die letzten Winter waren milde und die Sommer friedlich und die Ernten überreich. Es gab weder Unwetter noch Seuchen. Gott ist uns freundlich gesonnen, Hagen, weil wir ein gottesfürchtiges Volk sind und er die, die das Haupt vor ihm neigen, schützt. Warum also beharrst du darauf, die Zukunft in düsteren Farben zu sehen, mein Freund?« Vielleicht, weil es meine Zukunft ist, dachte Hagen. Und weil unsere Schicksale miteinander verknüpft sind, ob wir es wollen oder nicht. Laut sagte er: »Ein voller Magen und ein Jahr ohne Krieg sind nicht alles, Gunther, und glaubt mir, nicht alle Menschen in diesem Land werden satt. Im Norden plündern die Dänen, im Osten brandschatzen und morden die Sachsen, und im Süden kann sich Rom nicht entscheiden, ob es untergehen oder erneut die Welt erobern soll.« »Was auf das gleiche hinauslaufen mag«, meinte Gunther seufzend. Mit veränderter Stimme fuhr er fort: »Was solche Bedrohungen angeht, die hat es immer gegeben, und es wird sie immer geben. Genieße den Augenblick, und mache dir Sorgen über die Gefahr, wenn sie da ist, Freund. Rom hat genug damit zu tun, sich der Geier zu erwehren, die es schon für tot halten und ihm das Fleisch von den Knochen picken wollen. Mit Etzels Hunnen im Osten herrscht Frieden, und keines der anderen Reiche wäre stark genug, es auf einen offenen Kampf mit Burgund ankommen zu lassen.« »Die Sachsen ...«
»Sind weit entfernt und haben lohnendere Beute im Osten. Und leichtere«, unterbrach ihn Gunther. »Nein, Freund - du siehst zu schwarz. Die Freundschaft mit dem Herrscher der Hunnenvölker sichert uns gleichzeitig den Frieden mit ihm und mit Rom. Hat dir Giselher nicht erzählt, daß wir einen Pakt geschlossen haben?«
»Das hat er«, antwortete Hagen. »Und ich habe nicht verstanden, was damit gemeint sein mag.«
»Das, worauf wir alle schon lange gewartet haben«, antwortete Gunther. »Rom zieht den Großteil seiner Legionen ab. Wenn das Jahr zu Ende geht, wirst du an den Ufern des Rheines keinen römischen Umhang mehr sehen, Hagen. Sie brauchen die Truppen, um sich der Angreifer zu erwehren, die sie auf ihrem eigenen Territorium bedrängen. Aus diesem Grunde waren Boten hier. Hier und in den anderen Städten längs des Rheines.«
Gunthers Eröffnung kam für Hagen nicht sehr überraschend; es war eine Entwicklung, die er schon lange vorausgesehen und erwartet hatte. Rom starb einen langsamen, qualvollen Tod, der vielleicht noch ein Jahrhundert dauern würde, aber unaufhaltsam war. Was ihn überraschte, war die übertriebene Begeisterung, die Gunther an den Tag legte. Die römischen Legionen, die zwei Tagesreisen rheinaufwärts lagen, hatten sich seit Jahresfrist nicht mehr vor die Tore ihres Kastells gewagt, und ihr Abzug hatte - wenn überhaupt - nur noch symbolische Bedeutung. Sie waren Besatzer, aber im Grunde waren sie seit Jahren nur noch geduldet gewesen. Es wäre Burgund mit der Hilfe einiger befreundeter Reiche ein leichtes gewesen, sie aus dem Land zu jagen. Die Boten, die während Hagens Abwesenheit gekommen waren, waren in Wahrheit Bittsteller gewesen. Gunther mußte das wissen. Gunther, der Hagens Schweigen richtig deutete, sagte: »Du bist ein alter Schwarzseher, Hagen. Warum freust du dich nicht mit uns? Wir werden ein Fest feiern.« »Zur Feier dieses ›Vertrages‹?« Das zornige Funkeln in Gunthers Augen sagte ihm, daß der König den Sinn dieser Betonung sehr wohl verstanden hatte. Aber er zog es vor, nicht darauf einzugehen. »Und des Osterfestes - wie ich schon sagte. Vielleicht auch zur Feier deiner Rückkehr.« Er lachte. »Such es dir aus. Such dir einen Grund aus, der dir gefällt, aber ich möchte heute nur fröhliche Gesichter um mich haben.«
Irgend etwas in Gunthers Art zu reden machte Hagen stutzig. Gunther war verändert. Hagen hatte sich nicht getäuscht, es steckte mehr dahinter als jene Verletzung. Sein ganzes Wesen war verändert. Aber Hagen wußte noch nicht, warum. Vielleicht ein Streit... »Der Abzug der Truppen wird Unruhe bringen«, sagte er. »Rom mag krank sein, aber auch ein kranker Riese...«
»Es gibt keine Bedrohung, der wir nicht aus eigener Kraft Herr würden«, schnitt ihm Gunther das Wort ab. Seine Stimme klang ungewöhnlich scharf und drohend. Das Thema war für ihn beendet »Vielleicht habt Ihr recht«, murmelte Hagen. In Gegenwart anderer bediente er sich immer dieser förmlichen Anrede. »Und vielleicht ist jetzt auch nicht der Moment, über Politik zu reden.« Er griff nach seinem Becher, nahm einen Schluck des schweren, süßen roten Weines und drehte den juwelenbesetzten Pokal ein paarmal in den Fingern, ehe er ihn auf den Tisch zurücksetzte. Gunther beobachtete ihn; Hagen spürte seinen Blick, ohne aufzusehen. Im Saal lastete ein gespanntes, fast feindseliges Schweigen.
Hagen griff erneut nach seinem Becher, setzte ihn an die Lippen und blickte unauffällig über seinen Rand hinweg in die Runde. Giselhers Blick begegnete trotzig dem seines Bruders. Trotzig und herausfordernd - fast haßerfüllt. Volker von Alzei hatte wie Hagen seinen Becher erhoben und versteckte sich dahinter. Er trank nicht. Und Ekkewart blickte scheinbar gelangweilt ins Feuer und tat so, als hörte er nichts. Hagens Vermutung war richtig. Es mußte einen Streit gegeben haben. Etwas, was weit über das übliche Geplänkel zwischen den beiden ungleichen Brüdern Giselher und Gunther hinausging.
»Verzeiht, wenn ich mich jetzt zurückziehe«, sagte Hagen. »Ich bin müde, und...«
»Bleib«, unterbrach ihn Gunther. »Noch einen Augenblick, Hagen. Ich... habe mit dir zu reden.« Nach einer langen Pause, in der Hagen ihn erwartungsvoll anblickte, fuhr Gunther fort. Hagen sah, daß der König sich seine Worte sehr genau überlegte. »Ich... hatte meine Gründe, dich zu fragen, was du auf deiner Reise erlebt hast«, sagte er mit einem warnenden Seitenblick auf Giselher. »Würdest du sagen, daß das Reich sicher ist - wenn du deine ... Vorahnungen einmal außer acht läßt?« Hagen überlegte einen Moment. »Ja. Äußerlich.« »Dann ist es gut«, sagte Gunther, noch immer in dem gleichen gereizten Ton, der so vollkommen fremd an ihm war. »Ein Reich sollte in guter Verfassung sein, wenn sich sein König entschließt, es zu verlassen. Wenigstens für eine Weile«, fügte er hinzu, als Hagen ihn überrascht ansah. »Ich plane eine Reise, und ich fürchte, sie wird länger dauern als die sechzig Tage, die du fort warst.«
Giselher öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Gunther brachte ihn mit einem warnenden Blick zum Verstummen. »Ich trage mich schon lange mit dem Gedanken«, fuhr er fort, »und der Anbruch des Frühjahrs und der Vertrag mit Rom geben mir die Gelegenheit, ihn endlich in die Tat umzusetzen.«
»Der Vertrag mit Rom!« platzte Giselher heraus. »Dieser Pakt wird uns Unruhe bringen statt Frieden!«
Gunther ging mit einer Handbewegung über den Einwurf seines Bruders hinweg. »Ich plane eine Reise in den Norden, und ich bitte dich, Freund Hagen, mich zu begleiten. Du wirst deine Heimat wiedersehen. Wir werden nach Tronje kommen - und darüber hinaus.« »Darüber hinaus? Es gibt nicht mehr viel nördlich von Tronje, außer Polarfüchsen und Wölfen.« »Und Island.« »Island!«
Gunther nickte. »Es ist ein weiter Weg, aber mit einem schnellen Schiff und einem guten Führer ist er zu bewältigen, ehe der Winter zurückkehrt.«
»Vielleicht. Aber es gibt nichts auf Island, was den weiten Weg lohnte. Natürlich begleite ich Euch, wenn es Euer Wunsch ist...« »Es ist mein Wunsch.« Es klang wie ein Befehl. »Schon seit Jahren.« Hagen sah prüfend in die Runde, aber der einzige, auf dessen Gesicht sich irgendeine Regung abzeichnete, war Giselher. Giselher war unverkennbar wütend.
»Und was ist der Grund für diese Reise?« forschte Hagen. Gunther lächelte. »Auch ein König ist ein Mann, Freund Hagen«, sagte er. »Und jetzt, wo das Reich ruhig ist wie seit Jahren nicht mehr, habe ich endlich Zeit, auch einmal an mich zu denken.« Er nahm einen Schluck Wein. »Ich will mich verheiraten.« Hagen starrte ihn an.
»Das willst du nicht«, behauptete Giselher kühn. »Was du in Wirklichkeit willst, ist...«
»Schweig!« befahl Gunther zornig. »Ich glaube nicht, daß du alt genug bist, zu wissen, worüber du da redest.«
»Alt genug jedenfalls, meinen Bruder davor zu bewahren, mit offenen Augen ins Unglück zu rennen«, sagte Giselher. »Das Land ist voll von edlen Töchtern, die viel darum geben würden, deine Frau zu werden. Du hättest die Wahl unter Hunderten.«
»Meine Wahl ist längst getroffen.« Gunthers Stimme klang jetzt wieder ruhig, doch entschieden. »Und ich habe lange genug gewartet.« »Ich... verstehe nicht«, murmelte Hagen.
»Dann geht es dir nicht anders als uns allen«, schnaubte Giselher. »Ich dachte immer, ich wäre das Kind hier, aber mein Bruder...« »Der auch noch dein König ist, Giselher«, sagte Gunther drohend. »Muß ich dich wirklich daran erinnern?«
»Das mußt du nicht. Aber ich glaube, ich muß dich daran erinnern, daß du die Verantwortung für ganz Burgund trägst, mein Bruder. Nicht nur für diese Stadt, sondern für das Reich. Dein Leben gehört dir nicht allein, und du hast kein Recht, es wegen eines Hirngespinstes aufs Spiel zu setzen!«
»Brunhild ist kein Hirngespinst«! sagte Gunther. »Sie lebt, und ich werde sie freien.«
»Brunhild!« Ein plötzliches Erdbeben hätte Hagen nicht mehr überraschen können als die Nennung dieses Namens. »Ihr wollt... die Herrscherin des Isensteines ... Ihr wollt um ihre Hand anhalten?« Gunther nickte mit Entschlossenheit. »Ich will, und ich werde.« »Aber es ist unmöglich, sieh das doch ein«, sagte Giselher. »Niemand hat sie je gesehen, und...« Er brach ab und wandte sich beistandheischend an Hagen. »Sag du es ihm, Ohm Hagen! Wenn er auf jemanden hört, dann auf dich! Sag ihm, daß es diese Brunhild nicht gibt. Er jagt einem Hirngespinst hinterher.« Hagen schüttelte betrübt den Kopf. »Ich fürchte, das kann ich nicht, Giselher«, sagte er. Giselhers Augen weiteten sich in einer stummen Bitte. Warum tue ich es nicht? dachte Hagen. Warum lüge ich nicht, nur dieses eine Mal? Wahrscheinlich wäre es der einzige Weg, Gunther von dieser Wahnsinnsidee abzubringen.
Aber er hatte geschworen, Gunther so treu zu dienen wie zuvor seinem Vater. Er würde nicht leben können mit dieser Lüge. »Brunhild lebt, und es hieße zu lügen, behauptete ich, daß es sie nicht gibt«, sagte er schweren Herzens. »Es tut mir leid, Giselher.« Er wandte sich an Gunther und sagte ernst: »Trotzdem hat Giselher recht. Es ist unmöglich, sie zum Weib zu nehmen.«
»Und warum?« brauste Gunther auf. »Ich bin ein König und ihr gleichgestellt, und die Geschichten, die man sich über sie erzählt, erschrecken mich nicht.« Er blickte Hagen herausfordernd an, ballte plötzlich die Faust und schlug so heftig auf den Tisch, daß sein Becher umstürzte. Der Wein breitete sich wie vergossenes Blut auf der Tischplatte aus. Hagen schauderte. »Ich bin es leid, von allen hier wie ein unmündiges Kind behandelt zu werden, nur weil ich einmal mehr an mich als an das Reich denke. Burgund!« Gunther spie das Wort gleichsam aus. »Ich bin Burgund! Und ich brauche meine Entscheidungen vor niemandem zu rechtfertigen.«
Hagen fühlte sich angesichts dieses Wutausbruchs ratlos und verwirrt. »Brunhild«, murmelte er. »Warum sie? Ich meine... Dir habt Eure Entscheidung sicher gut bedacht...« »Das habe ich«, unterbrach ihn Gunther.
»Und es steht mir nicht zu, sie in Frage zu ziehen«, setzte Hagen behutsam fort. »Aber bisher ist noch keiner, der nach Island fuhr, um Brunhild zu freien, zurückgekommen.«
»Hagen hat recht«, fiel Giselher ein. »Wenn es sie gibt - und ich glaube immer noch nicht daran -, dann kann kein Sterblicher sich mit ihren Kräften messen. Sie wird dich töten, wie die, die es vor dir versucht haben, Gunther. Sie kämpft mit Zauberei und Hexenwerk.« Hagen nickte zustimmend. »Man sagt, es sei Odin selbst, der ihr ihre Kraft gibt.« Gunthers Miene verfinsterte sich. Seine Hand löste sich vom Schwert, das sie die ganze Zeit umklammert hatte, und legte sich rasch auf das kleine silberne Kreuz, das er an einer Kette über seinem Waffenrock trug. »Gewäsch«, antwortete er gereizt. »Odin! Zauberei! Ich will nichts von diesem heidnischen Geschwätz hören. Mein Entschluß steht fest Sobald der Schnee gewichen ist, breche ich auf. Und du, Hagen, wirst mich begleiten, zusammen mit hundert unserer besten Männer.« Er lachte hart. »Wir wollen sehen, was Odins Kräfte gegen hundert burgundische Schwerter ausrichten.«
Hagen schwieg. Plötzlich fror er, aber es war nicht die äußere Kälte, die ihn frösteln ließ. Gunthers Worte erfüllten ihn mit eisigem Schrecken. Gunther lästerte die Götter - und ob es sie gab oder nicht, es war nicht gut, das zu tun. Aber er fühlte, daß jeder Widerspruch zwecklos war und Gunthers Zorn nur noch steigern würde. Er war zu lange fort gewesen. Wäre er dagewesen, als Gunther seinen Entschluß faßte, hätte er vielleicht - vielleicht - etwas ändern können. Jetzt war es zu spät. Irgend etwas war während seiner Abwesenheit geschehen. »Wir reisen«, sagte Gunther mit Nachdruck. »Ich habe bereits nach Schiffen geschickt. Bei gutem Wind und mit Gottes Hilfe sollten wir in zwei Wochen in Tronje sein. Dort warten wir, bis sich das Eis weiter zurückgezogen hat und der Seeweg nach Island frei ist Wenn der Sommer kommt, stehen wir am Fuße des Isensteines.«
Die Worte drangen nur wie von fern in Hagens Gedanken. Hundert burgundische Schwerter waren genug, ein Königreich zu erobern, aber nicht einmal hundert mal hundert waren imstande, das Eis und die brennenden Ebenen Islands zu besiegen.
Brunhild! Allein der Klang dieses Namens ließ ihn erstarren. Er wußte nicht, was ihn am Isenstein wirklich erwarten mochte. Vielleicht war dieser nichts als eine zerbröckelnde Ruine, in der der Tod auf den ahnungslosen Reisenden wartete, vielleicht war er wirklich die uneinnehmbare Festung der Odinstochter - Hagen wußte es nicht, und es spielte auch keine Rolle. Aber es war auch nicht die Furcht, in den eisigen Weiten Islands auf die letzte der Walküren zu treffen und sich mit Odins Macht messen zu müssen. Was ihn erschreckte, war Gunthers Verbohrtheit Hagen erkannte den Mann, der ihm gegenübersaß, kaum wieder. Und zum ersten Mal begann er ernsthaft an Gunthers Verstand zu zweifeln. »Begleitest du mich?« Es war keine Frage. Nicht einmal eine Bitte. Es war ein Befehl. »Ja, mein König.«
Gunther hatte Mühe, ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. »Ich wußte, daß ich mich auf deine Freundschaft verlassen kann, Hagen.« Er nahm seinen Becher auf, füllte ihn neu und trank ihm zu. Hagen griff nach seinem eigenen Becher und erwiderte die Geste. Aber der Wein schmeckte mit einemmal schal.
Giselher seufzte, sagte aber nichts mehr, und auch Volker und Ekkewart schwiegen. Hagen bedauerte, daß Gernot nicht anwesend war. Gernot hätte Gunther zur Vernunft bringen können. Vielleicht. Wenn es überhaupt jemand konnte, so er.
Mehr um auf ein anderes Thema zu kommen, denn aus wirklichem Interesse fragte Hagen laut in das lastende Schweigen: »Wo sind Eure Mutter und Eure Schwester, mein König?«
Wenn Gunther die Absicht verstanden hatte, so ließ er sich nichts anmerken. »Kriemhild fühlt sich nicht wohl«, antwortete er. »Und Ute ist bei ihr geblieben, um sie zu trösten.«
Hagen erschrak »Ist Kriemhild krank?« Er war ein wenig enttäuscht gewesen, Gunthers Schwester noch nicht gesehen zu haben. »Ein Traum.« Gunther zuckte mit den Achseln und sah zur Seite, wie um zu zeigen, wie lästig es ihm war, über dieses Thema zu reden. »Du kennst sie. Kriemhild ist noch ein Kind, und auch sie gibt zu viel auf die Bedeutung von Träumen und derlei dummem Geschwätz.« So wie ich, meinst du wohl, fügte Hagen in Gedanken hinzu. Aber natürlich sprach er es nicht aus. Gunther war gereizt, und ein falsches Wort konnte ausreichen, ihn vollends die Beherrschung verlieren zu lassen. Gunther hatte sich von Hagen Unterstützung erhofft und fühlte sich in gewissem Sinn in seiner Hoffnung betrogen und zugleich verunsichert. Vielleicht, überlegte Hagen, hatte er den richtigen Moment schon verpaßt; vielleicht hätte ein einziges Wort von ihm genügt, Gunther von seinem Entschluß abzubringen. Vielleicht konnte er es noch. Aber nicht jetzt. Nicht, bevor sie allein waren.
»Ich bin müde«, sagte er. »Der Ritt war anstrengend, und ich spüre jede Stunde, die ich im Sattel gesessen habe, in meinen alten Knochen. Darf ich mich zurückziehen?«
»Geh nur«, sagte Gunther plötzlich weich. Und lächelnd fügte er hinzu: »Aber ruh dich gut aus. Heute abend kommst du mir nicht so leicht davon. Und ich warne dich: wenn du dann nicht ein paar gute und kurzweilige Geschichten zum besten gibst, wird dich Volker von Alzei bei lebendigem Leib fressen.« Der Spielmann nickte bekräftigend und bemühte sich, ein möglichst finsteres Gesicht zu machen. Hagen spürte seine Erleichterung. Für sie alle war der Streit der beiden Brüder in höchstem Maße peinlich gewesen, und der Spielmann schien Hagen dankbar zu sein, daß er aufstand und damit auch ihm Gelegenheit gab, sich zurückzuziehen, ohne Gunther vor den Kopf zu stoßen. Hagen verneigte sich gegen den König, wandte sich um und ging mit schnellen Schritten zum Ausgang. Er verließ den Thronsaal, ging jedoch nicht direkt in seine Kammer, sondern lenkte seine Schritte in die entgegengesetzte Richtung, zum Westturm, wo die Kemenate Kriemhilds und ihrer Mutter lag. Seine Schritte hallten zwischen den leeren Mauern. Dieser Teil der Burg war wie ausgestorben, nur wie aus weiter Ferne drang der Lärm der Festesvorbereitungen herüber. Für einen Moment erinnerte ihn die Einsamkeit und Dunkelheit der fensterlosen, nur von wenigen, halb heruntergebrannten Fackeln erhellten Gänge und Treppen an seine Heimat, an Tronje und die endlosen stillen Winterabende auf seiner Burg hoch im Norden, wenngleich die eisige Kälte, die ebenso zu Tronje gehörte wie der graue Fels seiner Mauern, und das Heulen des Windes und der Polarwölfe fehlten. Es war nicht das erste Mal, daß er dieses sonderbare Gefühl verspürte, und es war nicht das erste Mal, daß er sich fragte, was es wohl zu bedeuten hatte. Heimweh? Kaum. Worms war ebenso seine Heimat wie Tronje, und ein Mann konnte durchaus mehr als nur ein Zuhause haben.
Nun, vielleicht würde er seine Heimat eher wiedersehen, als er noch bei Tagesanbruch gedacht hätte. Wenn es ihm nicht gelang, Gunther zur Vernunft zu bringen ...
Er verscheuchte den Gedanken, öffnete eine niedrige, eisenbeschlagene Tür und fand sich unversehens auf einem schmalen, zum Innenhof hin offenen Gang wieder. Eine kurze, nur aus einem halben Dutzend Stufen bestehende Treppe führte zum eigentlichen Turm hinauf. Hagen öffnete eine weitere Tür, senkte den Kopf, um nicht gegen den niedrigen Sturz zu stoßen, und betrat den dahinterliegenden Raum. Er war kühl, kühl und dunkel, aber die Luft roch nach Rosenöl und anderen Düften, mit denen sich die Frauen gerne umgeben, und wenn die Einrichtung auch kaum wohnlicher war als sonstwo in der Burg, so verriet sie doch die Hand einer Frau, ein Kissen hier, ein buntes Tuch dort, die der Kammer ein wenig Behaglichkeit und Wärme verliehen, die in den anderen Räumen fehlte. Hagen kam nicht oft hierher. Die kleine Kemenate dicht unter dem Dach des Turmes war wohl der bei weitem heimeligste Ort in ganz Worms, und er erfüllte Hagen stets mit einem eigentümlichen Gefühl der Wehmut, als spürte er den Verlust von etwas, was er niemals kennengelernt hatte und was sein Leben um vieles ärmer machte als das des geringsten Knechtes unten in den Ställen. Einen Moment lang blieb er stehen, dann räusperte er sich und schloß die Tür, lauter, als nötig gewesen wäre. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Der trennende Vorhang auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes wurde zurückgeschlagen, und eine schmale Frauengestalt trat heraus. Unwillen, ja Zorn spiegelte sich auf ihrem Gesicht, doch als sie in dem unangemeldeten Besucher Hagen erkannte, glätteten sich ihre Züge, der Zorn verflog, und Freude blitzte in ihren Augen. »Hagen! Mein lieber Freund - Ihr seid zurückgekehrt!« Hagen eilte ihr entgegen und schloß sie in die Arme, ehe er sie sanft ein Stück von sich schob. »Frau Ute«, sagte er, »Ihr seid noch schöner geworden, während ich fort war. Obgleich ich das kaum für möglich gehalten hätte!«
Ute errötete; wohl weil sie Komplimente dieser Art aus Hagens Mund am allerwenigsten gewohnt war. Er kam sich selbst ein wenig töricht vor, und er ertappte sich dabei, daß er verlegen wurde. »Ihr seid ein Schmeichler, Hagen«, tadelte Ute lächelnd. »Aber Ihr vergeudet Euren Atem. Einer Frau meines Alters steht Eitelkeit nicht wohl an.«
»Schönheit hat nichts mit Alter oder Eitelkeit zu tun«, antwortete Hagen ernst. »Außerdem seid Ihr nicht alt, Frau Ute.«
»Nur nicht mehr jung«, entgegnete Ute. »Doch Ihr seid sicher nicht nur gekommen, um mir den Hof zu machen.« Sie löste sich von ihm und strich sich etwas verlegen über die Stirn.
Hagen leugnete es nicht. »Ich höre, Kriemhild hatte einen bösen Traum«, sagte er. »Ich hoffe, es war nicht mehr als nur ein Traum.« Ute antwortete nicht gleich, und Hagen meinte einen Schatten der Besorgnis auf ihrem Gesicht zu sehen. »Ja«, sagte sie. »Es war nur ein Traum. Aber Ihr kennt sie ja.« Sie seufzte. »Ich bin froh, daß Ihr zurück seid, Hagen. Ehr habt mit Gunther gesprochen?« Hagen nickte. Er hatte diese Frage erwartet.
»Dann wißt Ihr, daß es Schlimmeres gibt als die Träume eines Kindes.« Ja, dachte Hagen. Die eines Mannes.
Er räusperte sich. »Ich muß gestehen, ich begreife es nicht«, murmelte er. »Verzeiht mir die Offenheit, aber Euer ältester Sohn...« »Benimmt sich wie ein unvernünftiges Kind«, beendete Ute den Satz. Ihre Augen wurden dunkel vor Sorge. »Glaubt Ihr, daß Ihr ihn zur Vernunft bringen könnt?«
»Ich fürchte, es ist ihm ernst«, sagte Hagen nach kurzem Überlegen. Die Direktheit von Utes Frage überraschte ihn. »Wie kam es überhaupt dazu? Und was ist das für eine Geschichte, daß er vom Pferd gestürzt ist?« »Das eine hat mit dem anderen zu tun«, antwortete sie seufzend. »Er hat versucht, Gurna zu reiten.«
»Gurna?« Hagen erschrak. Die gescheckte Stute war ein wahres Teufelspferd. Mit Ausnahme von Giselher war es noch keinem gelungen, sie zu reiten, und auch er hatte sich nur wenige Augenblicke auf ihrem Rücken halten können. »Aber warum?«
»Warum?« Ute lächelte traurig. »Warum müssen Männer ständig wetteifern, Hagen? Warum müssen sie sich wie Kinder benehmen und unentwegt versuchen, einander zu übertreffen? Giselher hatte die Stute geritten, und Gunther konnte natürlich nicht zurückstehen.« »Und ist prompt abgeworfen worden.«
»Ja. Wir dachten, er sei schwer verletzt, und er war es wohl auch, jedenfalls schlimmer, als er zugibt. Aber er hat niemanden an sich herangelassen und selbst den Wundscher davongejagt«
Hagen war nicht ganz klar, was dies alles mit Brunhild zu tun hatte. Ute fuhr in ärgerlichem Ton fort: »Niemand hat ein Wort darüber verloren, Hagen. Niemand außer Giselher.«
Hagen runzelte die Stirn. Er begann zu ahnen, was sich zugetragen hatte. »Am Tage darauf kam die Rede aufs Heiraten, wie, weiß ich nicht. Du kennst Giselher - er läßt keine Gelegenheit aus, Gunther zu reizen.« Hagen nickte. Giselher war trotz allem noch ein Kind, auch wenn er glaubte, ein Mann zu sein. »Und was geschah?«
»Oh, nichts Besonderes«, sagte Ute niedergeschlagen. »Jemand bemerkte, daß Burgund noch keinen Thronfolger hat und Gunther allmählich in das Alter käme, sich nach einem Weib umzusehen. Und Giselher sagte, Gunther hätte wohl noch keine gefunden, die sanftmütig genug sei, ihn nicht abzuwerfen, wenn er sich nicht einmal auf einem Pferd halten könne. Das war alles.«
Hagen seufzte. Es war nicht schwer, sich Gunthers Reaktion vorzustellen. Gunther - ausgerechnet ihm, und noch dazu in Anwesenheit anderer - so etwas zu sagen, hieß Öl ins Feuer zu gießen. »Redet es ihm aus, Hagen«, sagte Ute. »Ich bitte Euch bei unserer Freundschaft, redet es ihm aus.«
»Wenn nicht einmal Ihr es könnt, Frau Ute...« erwiderte Hagen leise. »Ihr seid seine Mutter.« Er starrte nachdenklich zu Boden und fuhr dann lauter fort: »Aber ich werde mit ihm reden. Morgen, wenn das Fest vorüber ist.« Lächelnd fügte er hinzu: »Und er einen Brummschädel hat vom Wein. Es ist noch viel Zeit, um aufzubrechen.«
»Er trifft bereits Vorbereitungen«, sagte Ute. »Es sind Schiffe auf dem Weg hierher...«
»Sie werden lange brauchen, ehe sie Worms erreichen«, beruhigte sie Hagen. »Und wenn sie hier sind, wird es noch länger dauern, bis uns das Wetter günstig ist Gunther weiß das. Euer Sohn ist ein vernünftiger Mann.«
»Ich hoffe, Ihr habt recht, Hagen«, sagte Ute seufzend. Dann lächelte sie. »Aber Ihr seid nicht gekommen, um Euch die Sorgen einer Mutter anzuhören, sondern um Kriemhild zu sehen.« Sie deutete mit dem Kopf auf den Vorhang, durch den sie gekommen war. »Kriemhild wird sich freuen, Euch gesund und wohlbehalten wiederzusehen. Wißt Ihr, daß sie jeden Tag nach Euch gefragt hat?« Sie machte eine einladende Handbewegung und schlug den Vorhang beiseite. Hagen folgte ihr. Der Raum, den sie betraten, war größer und heller und von behaglicher Wärme erfüllt In dem gemauerten Herd prasselte ein Feuer, und die kleine Fensteröffnung an der Südseite, durch die der Rauch abzog, ließ gleichzeitig die wärmenden Sonnenstrahlen ein, nicht aber den kalten Wind, der aus der entgegengesetzten Richtung blies. Kriemhild saß in einem hochlehnigen Stuhl gegenüber dem Fenster und stickte, aber sie war nicht bei der Sache. Als Hagen hinter Ute eintrat, sah das Mädchen von seiner Handarbeit auf, ließ Nadel und Faden fallen und lief ihm entgegen.
»Ohm Hagen! Ihr seid zurück! Endlich!« Ehe es sich Hagen versah, hatte sie die Arme um seinen Hals geschlungen und ihm einen Kuß auf die Wange gedrückt. Hagen räusperte sich verlegen. Kriemhild trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn kritisch von Kopf bis Fuß. Hagen warf einen Blick zu Ute hinüber, aber auf ihrem Gesicht lag ein verzeihendes Lächeln. Kriemhild war ein Kind und hatte das Recht, sich von ihren Gefühlen hinreißen zu lassen.
»Es war einsam in Worms ohne Euch, Ohm Hagen«, sagte Kriemhild. Hagen hatte, was seine eigene Person betraf, für Schmeicheleien nichts übrig, er ärgerte sich höchstens darüber. Doch bei Kriemhild war das anders. Überhaupt war dieses Mädchen etwas Besonderes. Er empfand eine seltsame, ihm selbst nicht ganz erklärliche Wärme und Zuneigung in ihrer Nähe. Liebe, ja - aber nicht die Liebe zu einer Frau, auch nicht die, die man einer Tochter oder Schwester entgegenbrachte, sondern ... ja, was? Er hatte nie wirklich darüber nachgedacht, was es war, was ihn mit Kriemhild verband. Vielleicht fürchtete er, der Zauber könnte vergehen, wenn er versuchte, ihn zu erklären.
»Ich kam gerade zur rechten Zeit, wie mir scheint«, sagte er. »Ich hörte. Ihr hättet Kummer.« Ein Schatten huschte über Kriemhilds Gesicht. »Ich hatte einen Traum.« »Nur einen Traum?« Hagen lachte, ein wenig zu laut und zu herzhaft. Er trat zu Kriemhild, streckte die Hand aus und widerstand mit Mühe der Versuchung, sich zu setzen und sie auf seine Knie zu ziehen, um sie zu schaukeln, wie er es früher so oft getan hatte.
»Es war mehr als nur ein Traum«, sagte Kriemhild ernst. »Es war ein Omen. Ein böses Omen.«
»Erzählt mir davon«, bat Hagen. »Vielleicht weiß ich den Traum zu deuten.«
Kriemhild zögerte. Für einen Moment schien ihr Blick durch Hagen hindurchzugehen, und er sah Furcht in ihren Augen. »Oh, es war...« Kriemhild rang darum, ihre Fassung zu bewahren. »Es war ein Falke. Mir träumte, ich hätte einen Falken gezogen, ein junges, wunderbares Tier. Er war stark und schnell, und er war schon in jungen Jahren ein wundervoller Jäger.«
Sie schwieg. Hagen wollte eine Frage stellen, fing aber einen warnenden Blick von Ute auf und geduldete sich, bis Kriemhild von sich aus weitersprach. Als sie es tat, klang ihre Stimme verändert, und ihr Blick schien seltsam leer, als wäre sie gar nicht mehr wach, sondern allein durch die Erinnerung wieder in der bedrückenden Welt ihres Traumes gefangen.
Selbst die Wahl ihrer Worte war anders als gewohnt. »Eines Tages war ich mit ihm auf der Jagd. Er schlug Bussarde und Hasen und brachte gar einen Fuchs als Beute heim, und es gab kein Wild, das ihm an Kraft und Schnelligkeit gewachsen gewesen wäre. Es war eine Freude, ihm zuzusehen.« Trotz dieser Worte war ihre Stimme voller Trauer, und Hagen meinte, ein leises Zittern darin zu vernehmen. »Doch dann wurde alles anders. Gerade als mein treuer Vogel sich wieder in die Lüfte geschwungen hatte, eine neue Beute zu schlagen, tauchte ein Adler am Himmel auf, ein gewaltiges, schwarzes Tier voller Wildheit und Kraft.« Sie sah Hagen an, und obwohl sie versuchte, ihren nächsten Worten einen scherzhaften Klang zu verleihen, lief Hagen ein kalter Schauer über den Rücken, als sie fortfuhr: »Er ähnelte Euch, Ohm Hagen, so groß und finster und voller Kraft, wie er war. Unverzüglich griff er meinen Falken an, und sie kämpften. Oh, und wie sie kämpften! Wohl eine Stunde oder länger umkreisten sie sich, schlugen mit Fängen und Flügeln aufeinander ein und hackten mit den Schnäbeln, bis beide voller Blut und Wunden waren.«
Wieder schwieg sie, überwältigt von der Erinnerung. Doch diesmal ließ sich Hagen nicht abhalten zu fragen. »Und wer gewann?« forschte er. »Die beiden Kämpfer wurden müde«, berichtete Kriemhild. »Aber mein Falke raffte sich noch einmal zu neuer Kraft auf, um seinen Gegner zu schlagen. Doch gerade, als er sich emporschwingen wollte, erschien ein zweiter Adler und stürzte sich auf das prachtvolle Tier, heimtückisch und hinterrücks. Zu zweit krallten sie meinen tapferen Vogel und zerrissen ihn.«
»Das ist... ein trauriger Traum«, sagte Hagen nach einer Weile. »Und doch nichts weiter als ein Traum. Ihr solltet ihm nicht mehr Bedeutung zumessen, als gut ist.«
»O nein, Ohm Hagen«, widersprach Kriemhild traurig. »Es war mehr als ein bloßer Traum. Es war ein Omen, eine Warnung.« - »Sie glaubt«, erklärte ihre Mutter, »der Falke aus ihrem Traum sei ein Mann, der ihr genommen wird, nachdem er sie gefreit hat.« Sie lächelte. »Kriemhild ist ein Kind, Hagen« - Kriemhild warf ihr einen zornigen Blick zu, aber sie beachtete ihn nicht -, »Kinder geben viel auf Träume, denn sie wissen noch nicht, was sie erwartet. Es ist die Sehnsucht nach einem Mann, die aus ihr spricht. Sehnsucht nach etwas, was sie gar nicht kennt« »Und was ich niemals kennenlernen will«, fügte Kriemhild hinzu. »Wenn es dieser Schmerz ist, der mich erwartet, so will ich für immer verzichten. Niemals will ich einem Manne gestatten, mich zu freien und Hand an mich zu legen.« Aber du wirst es müssen, dachte Hagen traurig. Weil du nicht irgendeine, sondern die Schwester des Königs bist. Und weil es den Schwestern - oder Töchtern - von Königen nicht anders ergeht als denen von Bauern. Beide werden verkauft. Nur der Preis ist ein anderer. Dennoch war Kriemhild kein Kind mehr; trotz ihrer gerade fünfzehn Jahre war sie körperlich bereits voll zur Frau erblüht, und ihre sanften, noch etwas flachen, kindlichen Züge versprachen eine Schönheit, die kommen würde; schon bald. Mehr als ein Freier hatte bereits um ihre Hand angehalten, doch alle waren abgewiesen worden. Aber irgendwann würde einer kommen, der nicht abgewiesen werden würde. Und es würde nicht Kriemhilds Wahl sein.
»Ihr urteilt zu schnell«, erklärte Hagen lächelnd. »Vielleicht ist es gerade umgekehrt, und der Traum warnt Euch, nicht allein zu bleiben und zu viele tapfere Jünglinge, die um Eure Hand anhalten, mit gebrochenem Herzen in ihre Heimat zurückzuschicken.« Der sanfte Spott in seiner Stimme entging Kriemhild, doch in Utes Augen blitzte es belustigt auf. Aber laß dir Zeit, fügte Hagen in Gedanken hinzu. Genieße es, ein Kind zu sein, solange man dich noch läßt.
Doch die ganze Zeit, während er dies dachte, hatte er das sichere Gefühl, daß es nicht mehr lange dauern würde.
Als er sich umdrehte und anschickte, die Kemenate zu verlassen, fiel sein Blick aus dem Fenster. Über der Burg kreiste eine schwarze Krähe.