6

»Hast du getan, worum ich dich gebeten habe?«

Ortwein von Metz drehte sich zu ihm um, antwortete jedoch nicht gleich. Es war zu dunkel, als daß Hagen seinen Gesichtsausdruck hätte erkennen können. Ortweins Gestalt war nicht viel mehr als ein konturloser Schatten in der hereinbrechenden Dunkelheit. »Siegfried?«

Hagen nickte, und Ortwein drehte sich wieder zur Brüstung, stützte sich auf die niedrige Mauer und blickte weiter auf den Fluß hinab. Es war dunkel geworden. Nacht und Stille begannen sich über das Land zu breiten, doch innerhalb der Mauern von Worms war es noch immer taghell. Hunderte von Fackeln brannten an den Längsseiten des Innenhofes; beiderseits des Tores, das anders als sonst zu dieser Stunde noch weit geöffnet war, loderten zwei mächtige Feuer, und es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Selbst hier oben auf den Wehrgängen waren die Stimmen der zahllosen Menschen, die Worms an diesem Abend bevölkerten, deutlich zu vernehmen. Musik wehte zu den beiden Männern herauf; das dumpfe Hämmern der Trommeln, das Schlagen von Lauten und Zimbeln und Rasseln, begleitet vom Geräusch zahlreicher murmelnder Stimmen, das wie entferntes Meeresrauschen zu ihnen heraufbrandete. Alles vermittelte eine Illusion von Frieden und Heiterkeit. »Gunther hat Gaukler bestellt«, murmelte Ortwein. »Für das Fest.« Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Gaukler! Er hätte nach Kriegern schicken sollen, um diesen Kerl aus der Stadt zu jagen.« »Du übertreibst«, sagte Hagen und trat neben ihn. »Es wird genügen, wenn wir ein Auge auf ihn und seine Männer haben.« Ortwein lachte leise, ohne eine Spur von Heiterkeit. »Du kannst deine rechte Hand verwetten, daß sie nicht einen Atemzug tun, den ich nicht erfahre, Hagen.«

Und wir keinen, von dem Siegfried nicht weiß, fügte Hagen in Gedanken hinzu. Er dachte an Alberich, den Zwerg, der wahrscheinlich noch immer unerkannt durch die Burg schlich. Für einen Moment überlegte er, ob er seinem Neffen von Alberich erzählen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Ortwein war ein treuer Verbündeter Gunthers und ein tapferer Mann. Aber er war auch jung und mißtrauisch und aufbrausend wie kein anderer. Wieder wünschte sich Hagen, sein Bruder Dankwart wäre hier. »Gehen wir zurück«, schlug Hagen nach einer Weile vor. Die Dunkelheit und Stille jenseits der Mauern begannen eine eigentümliche Wirkung auf ihn auszuüben. Und er wußte, wie leicht es war, sich selbst in etwas hineinzusteigern. »Gunther legt Wert darauf, alle seine Männer um sich versammelt zu sehen beim Fest zu Ehren Siegfrieds.« »Auch alle Wachen?« murrte Ortwein. Zur Bekräftigung deutete er auf die verwaisten Wehrgänge. »Sieh dich um, Hagen. Alle Knechte sind unten und helfen in der Küche und im Keller, wenn sie nicht schon betrunken sind. Selbst die Wachen haben ihre Posten verlassen, und das Tor steht offen für jeden, der hereinmarschieren will.« Wütend schlug er sich mit der Faust in die flache Hand. »Ein bodenloser Leichtsinn! Ich begreife nicht, was in Gunther gefahren ist. Was ist dieser Xantener? Ein Zauberer, der die Sinne verwirrt?«

»Du verrennst dich in etwas«, antwortete Hagen. »Gunther betrachtet es als Ehre, einen Mann wie Siegfried als Gast bewirten zu dürfen. Und Siegfried wird wieder gehen.« »Wenn er hat, was er will!« grollte Ortwein.

»Oder eingesehen hat, daß er es nicht bekommen kann.« Hagen umfing noch einmal mit seinem Blick die samtene Schwärze der Nacht, die die Mauern der Stadt wie ein finsterer Belagerungsring umschloß, wandte sich mit einem Ruck um und legte Ortwein die Hand auf die Schulter. Ortwein streifte sie ab.

»Wir hätten Gernots Wunsch mißachten und Siegfried töten sollen, als er uns Grund dazu gab«, knurrte er. Seine Hand schloß sich in einer zornigen Bewegung um den Griff des Schwertes, das an seiner Seite hing. Hagen fiel auf, daß es keine der hübsch anzusehenden, aber reichlich nutzlosen Prachtklingen war, wie sie die meisten zur Feier des Abends angelegt hatten, sondern Ortweins einfaches, abgewetztes Schwert; die Waffe, die er im Kampf trug und führte. »Jetzt ist es dafür zu spät. Er ist schlau, dieser Xantener. Er weiß, daß er Worms nicht mit dem Schwert erobern kann, also schleicht er sich ein wie ein Dieb.« Er lachte hämisch. »Du glaubst, er wird gehen, Hagen? Ich fürchte, du irrst dich. Er wird bleiben, er wird sich in unsere Herzen schleichen und erst dann wieder gehen, wenn er die Krone Burgunds mit sich nehmen kann.« Hagen wollte antworten, aber Ortwein entfernte sich mit schnellen Schritten und verschwand in der Dunkelheit. Hagen ging langsam hinter ihm die Treppe hinab.

Der Innenhof der Burg schien von Menschen überzubranden. Nur ganz wenige Gesichter waren Hagen bekannt. Die Nachricht von der Ankunft Siegfrieds hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und die Tore der Burg waren an diesem Abend weit geöffnet. Das Land war arm an Festen, und das Volk war aus allen Himmelsrichtungen herbeigeströmt, begierig auf die Belustigung und darauf, einen Blick auf den sagenumwobenen Recken aus den Niederlanden zu werfen.

Auch aus dem Haupthaus drangen Licht und Stimmen und Gelächter. Hagen ging ein paar Schritte über den Hof, auf die Treppe zu, blieb aber auf halbem Weg stehen. Gunther war dort drüben in der Halle, Giselher und Gernot und alle anderen, aber auch Siegfried, und zu dem Xantener zog ihn nichts. Hagen sah sich nach Siegfrieds Begleitern um, aber keiner von ihnen war zu sehen. Sie mußten noch immer in ihren Quartieren sein. Nun, Ortwein würde dafür sorgen, daß sie auf Schritt und Tritt bewacht wurden. »Nun, Hagen von Tronje? Plagen dich Sorgen, oder kannst du nicht anders als finster blicken?«

Hagen fuhr herum, kam aber erst nach einer Weile auf den Gedanken, den Blick zu senken. Alberich stand hinter ihm. Er trug noch immer den gleichen braunschwarzen Umhang, hatte aber die Kapuze zurückgeschlagen, so daß sein fast kahler Zwergenschädel deutlich zu sehen war. Im licht der Fackeln waren seine Augen rot wie die eines Uhus. »Verschwinde«, sagte Hagen grob. »Zum Herumspionieren hast du dir den falschen Ort ausgesucht, Zwerg. Was willst du?« Alberich kicherte. »Was ich will? Vielleicht mich bei dir bedanken.« »Bedanken? Wofür?«

»Du hast nichts gesagt. Ein Wort von dir, und Ortweins Männer hätten Jagd auf mich gemacht wie auf einen tollen Hund.« »Du schätzt dich wichtiger ein, als du bist, Zwerg«, knurrte Hagen. »Es lohnt sich vielleicht, einen tollen Hund zu erschlagen. Einer Ratte, die herumschnüffelt, achtet man nicht.« Alberich verzog die Lippen zu einem dünnen Grinsen. »Du bist ungerecht, Hagen«, stellte er fest. »Was ärgert dich?«

»Wie kommst du darauf, daß ich verärgert bin?« fragte Hagen. »Wäre ich es...«

»Dann hättest du mich längst erschlagen, ich weiß«, unterbrach ihn Alberich. Seine Stimme klang gelangweilt. »Nicht erschlagen«, verbesserte Hagen ruhig. »Ersäuft. Ratten, die einem lästig werden, ersäuft man.« Er wollte an Alberich vorbeigehen, aber der Zwerg griff rasch nach seinem Arm und hielt ihn zurück. Sein Griff war überraschend stark. Hagen riß sich los. »Was willst du noch?«

»Mit dir reden«, antwortete Alberich. »Und dich vielleicht warnen.« »Warnen?« Hagen versuchte zu lachen, aber es mißlang. »Und vor wem?«

»Vielleicht vor dir selbst«, antwortete Alberich geheimnisvoll. »Was macht dich so zornig, Hagen? Ist es mein Herr?« »Und wenn?«

»Er ist nicht als dein Feind gekommen«, sagte Alberich ernsthaft. »Wäre es so, wärst du schon längst tot.« »Du scheinst dir da ziemlich sicher zu sein.« »Das bin ich. Niemand besiegt Siegfried von Xanten im Kampf.« »Unsinn«, sagte Hagen. »Niemand ist unbesiegbar.« »Und wie ist das mit dir, Hagen von Tronje? Stehst nicht auch du in dem Ruf, unbesiegbar zu sein?« »Auch ich bin schon geschlagen worden.«

»Begeh keinen Fehler, Hagen. Mein Herr bewundert und verehrt dich, doch er würde nicht zögern, dich zu töten, wenn er es müßte.« »Niemand außer dir spricht von töten, Zwerg«, erwiderte Hagen. »Ich tue es, weil ich die Schatten in deinem Gesicht sehe, Hagen. Hast du vergessen, daß ich in den Schatten lebe und ihre Sprache verstehe? Was ist mit dir?« Er deutete hinüber zur Halle, aus der Gelächter und Fetzen von Musik herüberwehten und sich mit dem Lärm auf dem Hof vermengten. »Warum bist du nicht dort und feierst mit den anderen?« »Ich sehe keinen Grund zum Feiern.«

»Ist es kein Grund zu feiern, neue Freunde gewonnen zu haben?« »Wenn sie es sind - sicher.« Alberich wiegte den Schädel. »Hagen, Hagen«, seufzte er. »Man hat mich vor dir gewarnt, doch dein Herz ist noch finsterer, als ich erwartet hatte. Fürchtest du, Siegfried könnte dir den Platz an Gunthers Seite streitig machen? Es besteht kein Grund zur Eifersucht.«

Hagen antwortete nicht, aber der bittere Zug um seinen Mund vertiefte sich, und Alberich verstummte. Um sie herum ging das Fest weiter, und aus der Ecke des Hofes, in der die Gaukler ihre bunten Zelte aufgebaut hatten und ihre Kunststücke vorführten, klangen schallendes Gelächter und Rufe herüber. Hagen ließ den Zwerg unvermittelt stehen und ging, und diesmal hielt Alberich ihn nicht zurück.

Unschlüssig schlenderte er über den Hof, ging hierhin und dorthin und fand sich schließlich in der dichtgedrängten Menge vor dem Zelt des Gauklervolkes stehen. Ein buntgekleideter Narr vollführte seine Tollheiten und griff grimassenschneidend und mit komischen Gesten nach den kleinen Münzen, die ihm hingeworfen wurden; hinter ihm, jeder auf einer Kiste stehend, damit auch die Zuschauer in den hinteren Reihen ihre Kunststücke beobachten konnten, warfen sich zwei schwarzhaarige Männer geschickt Messer und kurzstielige, blitzende Äxte zu. Neben ihnen ließ ein verhutzeltes Männchen einen einäugigen Bären tanzen. Es war seltsam, aber Hagen fühlte sich inmitten all des Trubels und all der Menschen für einen Moment allein. Hatte der Zwerg womöglich recht? dachte er erschrocken. War vielleicht alles, was ihm das Herz schwer machte, nichts anderes als die Furcht, daß Siegfried mit seiner Jugend und seinem Ungestüm seinen Platz an Gunthers Seite einnehmen würde? Unsinn. Es gehörte mehr dazu als eine starke Hand, lächelnder Hochmut und Überheblichkeit, Gunthers Vertrauen zu gewinnen. Siegfried war gekommen und hatte Worms im Sturm genommen, auf eine Art, die Hagen fremd und unverständlich war. Daher sein Mißtrauen. Er wandte sich zum Gehen. Das Treiben der Gaukler begann ihn zu langweilen.

Gunther, Giselher und Volker kamen ihm auf dem Weg zum Haupthaus entgegen. Siegfried war bei ihnen. Die königlichen Brüder und der königliche Gast wirkten heiter. Nur Volker gab Hagen mit den Augen ein Zeichen, das Sorge ausdrückte. Hagen erwiderte den Blick und schüttelte fast unmerklich den Kopf, ehe er Gunther entgegentrat und in zwei Schritten Abstand stehenblieb. »Mein König.« Gunther hob grüßend die Hand. »Hagen, mein Freund. Wir haben Euch an der Tafel vermißt. Mundet Euch Rumolds Küche nicht mehr, oder wollt Ihr den Mundschenk beleidigen?« Er lachte und hob spielerisch drohend den Finger. »Ihr werdet Euch den armen Rumold zum Feind machen, Hagen!« Hagen blieb ernst. »Die Posten mußten kontrolliert werden«, sagte er. »Jemand muß nach dem Rechten sehen, wenn alle anderen feiern.« Gunther schüttelte den Kopf. »Höre ich etwa Tadel in Eurer Stimme, Hagen? Ihr sollt nicht anderen den Spaß verderben, wenn Ihr selbst dem Treiben schon nichts abgewinnen könnt.«

»Ihr wißt, daß ich für Feste nichts übrig habe, mein König«, gab Hagen zurück »Aber warum nicht?« mischte sich Siegfried ein. »Ein Mann sollte auch zu feiern und sich zu vergnügen wissen, Hagen von Tronje, zur rechten Zeit.«

Hagen hatte Siegfried bisher keines Blickes gewürdigt, aber nun konnte er nicht länger so tun, als wäre dieser nicht da, wollte er nicht beleidigend wirken. So deutete er widerwillig ein Kopfnicken an. »Ihr sagt es, Siegfried. Zur rechten Zeit.«

»Aber vielleicht zieht Ihr ja andere Vergnügungen vor, Hagen«, sagte Siegfried spöttisch. »Ihr seid ein Mann des Kampfes, wie ich. Warum messen wir uns nicht - in aller Freundschaft?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um, drückte Giselher seinen Becher in die Hand und breitete die Arme aus, als müsse er Platz schaffen. Das Volk, das sie umringte, wich auseinander. Jedermann in der Nähe hatte Siegfrieds Worte gehört, und binnen weniger Augenblicke hatte sich ein Kreis von Neugierigen um sie gebildet Siegfried trat einen Schritt zurück und legte die Hand auf den Balmung. »In aller Freundschaft«, wiederholte er.

Auch Hagens Hand senkte sich auf den Schwertgriff. Für einen Moment hatte er ernsthaft Lust, Siegfrieds Herausforderung anzunehmen. Der Xantener machte es ihm leicht, fast schon zu leicht. Ein unglücklicher Schlag, ein Fehler, ein etwas zu kraftvoll geführter Hieb; Siegfried hatte getrunken, und es mochte reichen, daß seine Reaktionen nicht ganz so schnell ausfielen wie gewohnt. Ja, er könnte Siegfried töten, ohne daß ihn ein Vorwurf traf. Es gab genug Zeugen, die gehört hatten, daß es Siegfried gewesen war, der diesen Kampf vorgeschlagen hatte, und die beschwören konnten, daß der junge Raufbold angetrunken und in mutwilliger Laune gewesen war. Aber dann begegnete er Gunthers Blick und besann sich anders. »Nein«, sagte er. »Ich kämpfe nicht zum Spaß.« Unter den Zuschauern machte sich Enttäuschung Luft »Wer spricht von kämpfen?« Siegfried ließ nicht locker. »Laßt uns unsere Kräfte messen, wie es unter Freunden üblich ist« Hagen schüttelte den Kopf und nahm mit deutlicher Geste die Hand vom Schwert. »Diese Waffe ist kein Spielzeug«, sagte er. »So wenig wie Euer Balmung, Siegfried von Xanten. Zieht sie, um zu kämpfen und zu überleben, nicht, um damit zu spielen.«

Zorn glomm in Siegfrieds Augen auf. Er runzelte die Stirn, aber gleich darauf erhellte sich sein Gesicht wieder. »Dann laßt uns ringen, bis einer auf dem Rücken liegt und sich geschlagen gibt« Er beugte sich ein wenig vor, breitete die Arme aus und kam mit wiegenden Schritten auf Hagen zu.

Hagen rührte sich nicht Siegfried war über einen Kopf größer als er und fast doppelt so breit. Und er war zwanzig Jahre jünger. »Das, Siegfried von Xanten«, sagte er, »scheint mir kein ehrenhaftes Angebot zu sein.« »Ihr kneift, Hagen?«

»Wenn Ihr es so nennen wollt Es ist nicht unbedingt ein Zeichen von Feigheit, nicht mit Euch ringen zu wollen.« Er sah die Warnung in Gunthers Augen, aber irgend etwas zwang ihn dazu, sie zu mißachten. »Warum sucht Ihr Euch nicht einen Gegner, der Euer würdig ist?« Hagen deutete mit einer Kopfbewegung nach hinten, dorthin, wo die Gaukler waren. »Etwa den Bären.«

Gunther erbleichte vor Schreck, sagte aber nichts. Siegfrieds Gesicht verzerrte sich, und Hagen erwartete, daß er sich nun, seiner Weigerung zum Trotz, gleich auf ihn stürzen würde. Er spannte sich. Wenn Siegfried ihn jetzt angriff, würde er ihn töten. Dann stieß Siegfried hörbar und tief die Luft aus. Nach einer kurzen Atempause sagte er, so laut, daß jedermann auf dem Hof es hören konnte. »Warum nicht? Gebt den Weg frei!«

Er fuhr herum, stieß einen Mann beiseite, der nicht rasch genug auswich, und eilte auf das Zelt der Gaukler zu. Schreckensrufe wurden laut. Gunther zischte Hagen zornig zu: »Bist du von Sinnen?«

»Wenn hier jemand von Sinnen ist, so ist er es«, antwortete Hagen ruhig. »Er hat mich herausgefordert. Nicht ich ihn.«

»Er ist betrunken und ein ungestümer Narr! Was, wenn dieser Abend blutig endet?«

Hagen antwortete nicht darauf. Er folgte der Menge, die zum Zelt drängte, und Gunther folgte ihm. Siegfried hatte bereits das hölzerne Podest erklommen, auf dem die Gaukler ihre Kunststücke gezeigt hatten. Zwei Soldaten führten den Bären herbei, während ein dritter mit seinem Speer den Besitzer zurückdrängte, der laut zeternd und jammernd um das Leben seines Tieres bangte.

Siegfried lachte, eine Spur zu überlegen, wie Hagen fand. »Keine Sorge, Alter!« rief er. »Dein Tier wird dir ersetzt werden, wenn es zu Schaden kommt. Bringt den Bären!«

Die beiden Knechte mühten sich ab, den Bären die hölzernen Stufen zur Plattform hinaufzuzerren, aber das Tier war nervös und gereizt und sträubte sich. Es schien zu spüren, daß dies hier etwas anderes als sein gewohnter Auftritt war, und die beiden Männer mußten mit aller Kraft an seiner Kette zerren, um es zum Weitergehen zu bewegen. »Tut es nicht, Siegfried«, rief Gunther, »ich bitte Euch!« Der Xantener mußte die Bitte gehört haben, denn trotz der mehr als hundert Menschen, die sich um das Podest drängten, herrschte plötzlich eine fast geisterhafte Stille auf dem Hof. Aber Siegfried tat so, als hätte er nichts gehört Langsam zog er sein besticktes Wams aus, behielt jedoch das dünne Kettenhemd an, das er darunter auf der nackten Haut trug, und trat dem Bären entgegen.

Hagen betrachtete das Tier voller Interesse. Der Bär war größer, als er geglaubt hatte. Er war alt, sehr alt sogar, aber Hagen wußte, daß ihn das nur um so gefährlicher machte. Seine tödlichen Fänge waren hinter einem Maulkorb verborgen, aber an seinen Vordertatzen blitzten dolchscharfe Krallen, und als er sich aufrichtete und Siegfried aus seinem einen trüben Auge tückisch musterte, war er nur ein wenig kleiner als der blonde Hüne aus Xanten.

Die beiden Knechte ließen die Ketten los und brachten sich eilig in Sicherheit. Aber der Bär blieb, aufrecht stehen und musterte den Menschen, der auf ihn zukam. Er schien instinktiv zu spüren, daß er einem Feind gegenüberstand, einem Zweibeiner, der anders war als die, die ihm zu fressen gaben und die ihn gelehrt hatten, im Kreis herumzugehen und sinnlose Sprünge zu vollführen. Etwas mußte an Siegfried sein, das seine Instinkte weckte. Vielleicht erkannte er das Raubtier, das tief in dem Xantener schlummerte. Der Kampf begann.

Siegfried umkreiste den Bären und täuschte ein paarmal rasche Angriffsbewegungen mit den Händen vor, sprang jedoch immer wieder schnell zurück, wenn der Bär zur Antwort die Tatzen hob und nach ihm hieb. Er suchte wohl nach einer schwachen Stelle, einer Möglichkeit, den Kampf zu beenden, ehe er wirklich gefährlich werden konnte. Hagen sah sich flüchtig um und entdeckte Giselher hinter sich. Die Blicke des jungen Königs hingen gebannt an Siegfried, wie die der anderen, aber in seinen Augen war ein Glanz, der Hagen nicht gefiel. Er wollte etwas sagen, aber in diesem Moment erhob sich aus der Menge ein vielstimmiges Raunen, und er drehte den Kopf zurück Siegfried ging zum Angriff über. Er hatte den Bären weiter umkreist; das Tier wirkte gereizt, aber auch unentschlossen, und seine Prankenhiebe dienten mehr zur Warnung als dazu, wirklich zu treffen. Siegfried wartete, bis er in einer günstigen Position war, sprang dann mit einer Behendigkeit vor, die Hagen bei einem Mann seiner Größe niemals vermutet hätte, und schmetterte dem Bären die Faust zwischen die Augen. Es war ein Hieb, wie Hagen nie zuvor einen gesehen hatte. Ein Schlag, gewaltig genug, einen Ochsen zu fällen oder einen Mann auf der Stelle zu töten, der Faustschlag eines zornigen Gottes, nicht eines Menschen. Der Bär brüllte vor Schmerz und Wut und schlug mit den Tatzen nach seinem Gegner, aber Siegfried brachte sich mit einer behenden Bewegung in Sicherheit und holte zu einem zweiten, nicht minder kraftvollen Hieb aus.

Diesmal wankte der Bär.

Beifallsrufe wurden laut, verstummten aber sofort wieder, als sich der Bär mit einem zornigen Brüllen erneut aufrichtete und nun seinerseits zum Angriff überging. Mit wiegenden Schritten und weit ausgebreiteten Vorderbeinen drang er auf Siegfried ein. Siegfried wich hastig zurück, duckte sich unter einem mörderischen Prankenhieb und stieß dem Bären ein drittes Mal die Faust zwischen die Augen.

Der Bär brüllte auf, trat mit einem überraschenden Satz vor und schloß die Pranken zur tödlichen Umarmung um Siegfrieds Leib. Die Zuschauer hielten entsetzt den Atem an. Von einem Augenblick auf den anderen legte sich erneut geisterhafte Stille über den Hof, eine gebannte, angsterfüllte Stille ... Siegfried keuchte. Die gewaltigen Pranken des Tieres preßten die Luft aus seinen Lungen und versuchen, seine Rippen zu brechen, während es sich wütend, doch vergeblich bemühte, sein Opfer durch das metallene Gitter des Maulkorbes zu beißen. Siegfried spreizte die Beine, drängte die Arme zwischen sich und den Bären und versuchte, seinen Kopf zurückzuzwängen. Gleichzeitig krachte seine Rechte immer wieder zwischen die Ohren des Tieres. Aber er befand sich in einer ungünstigen Position, und seine Kräfte begannen zu erlahmen, da ihm der Bär noch immer die Luft abschnürte. »Er erwürgt ihn!« rief Gunther entsetzt. »Wir müssen ihm helfen! Bogenschützen!«

»Nicht!« Hagen hob warnend die Hand und deutete zur Plattform hinauf. Siegfried hatte seine Taktik geändert. Er schlug nicht mehr auf den Bären ein, sondern hatte nun seinerseits die Arme um ihn geschlungen und die Hände hinter seinem Rücken verschränkt. Langsam, ganz langsam drückte er die Knie durch - und hob den Bären vom Boden hoch! Ungläubiges Raunen lief durch die Menge, als sie sah, wie Siegfried den gewaltigen Bären anhob und erst wenige Fingerbreit, dann eine halbe Armeslänge in die Höhe stemmte. Der Bär brummte zornig und lockerte erschrocken und verwirrt seinen tödlichen Klammergriff. Siegfried konnte wieder atmen. Mit einer letzten gewaltigen Anstrengung riß er das Tier noch ein Stück in die Höhe, drehte sich zur Seite und schleuderte es von sich.

Das hölzerne Podest erbebte in seinen Grundfesten, als der Bär aufprallte, ungeschickt auf die Füße zu kommen suchte und mit einem schmerzhaften Keuchen erneut zur Seite kippte. Siegfried setzte ihm nach, riß die Arme hoch und schlug ihm die verschränkten Fäuste in den Nacken. Der Bär zuckte noch einmal und lag dann still. Für einen endlosen Augenblick war es totenstill; jedermann auf dem weiten Platz schien den Atem anzuhalten, und selbst Hagen ertappte sich dabei, wie er mit ungläubig aufgerissenen Augen zu dem Xantener hinaufstarrte.

Dann begann der Jubel. Zuerst einzelne, dann mehr und mehr Stimmen begannen Siegfrieds Namen zu schreien, bis das weite Rechteck des Innenhofes von einem gewaltigen, an- und abschwellenden Chor widerhallte.

»Gott sei gelobt«, sagte Gunther, gerade laut genug, daß Hagen es hören konnte. »Ihm ist nichts geschehen.«

»Habt Ihr daran gezweifelt, mein König?« fragte Hagen schroff. »Er ist unverwundbar. Wer einen Drachen tötet, der wird wohl auch einen Bären bezwingen.« Ein halbes Dutzend Knechte schleifte den Bären fort. Das Tier erwachte, blinzelte benommen mit seinem einen Auge, und seine Bewegungen waren fahrig und abgehackt. Sein Besitzer eilte herbei und fing von neuem an, lauthals zu jammern und zu zetern. Die Knechte wollten ihn davonjagen, aber Hagen gebot ihnen mit einer raschen Geste, ihn gewähren zu lassen. Der Alte kniete neben dem Bären nieder, aber das Tier schlug nach ihm, und er mußte sich hastig in Sicherheit bringen. Hagen sah auf, als Siegfried mit einem Satz vom Podest sprang. Sein Gesicht war verzerrt vor Anstrengung und glänzte vor Schweiß. Sein Atem ging keuchend.

»Ihr werdet das Tier ersetzen müssen«, sagte Hagen ruhig. »Es ist verdorben für die Dressur, nach dem, was Ihr mit ihm gemacht habt, Siegfried. Sein Herr muß es töten lassen.«

Siegfried starrte ihn mit brennenden Augen an. »Ich gebe zu, daß ich Euch unterschätzt habe, Hagen von Tronje«, sagte er. Er sprach leise, und seine Stimme klang anders als zuvor. »Aber ich verspreche Euch, daß das nicht noch einmal vorkommen wird. Das nächste Mal werde ich Euch als den Gegner zu würdigen wissen, der Ihr seid.«

»Welches nächste Mal?« fragte Hagen gelassen. »Ich dachte, wir wären Freunde?«

»Denkt an meine Worte«, sagte Siegfried. »Ich begehe nie zweimal den gleichen Fehler, Hagen von Tronje.« Er wandte sich um, griff nach seinem Wams und verschwand in der Menge.

Hagen sah ihm mit unbewegtem Gesicht nach. Dann blickte er hinauf zum Turm und suchte das schmale Fenster der Kemenate. Er war sich nicht sicher, aber für einen Moment glaubte er, ein helles, vom Schleier umwehtes Gesicht zu erkennen.

Plötzlich fröstelte er. Ich begehe nie zweimal den gleichen Fehler, wiederholte er in Gedanken Siegfrieds Worte.

Nun, für ihn galt dasselbe. Auch er hatte niemals ein und denselben Fehler zweimal begangen. Aber vielleicht war einmal schon zuviel.

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