11

Nachdem die Lähmung gewichen war, die dem ersten Schrecken gefolgt war, ergriff fieberhafte Betriebsamkeit von Burg und Stadt Besitz. Reiter wurden in alle Richtungen gesandt, um die Getreuen Burgunds zusammenzurufen. In den Schmieden dröhnten Tag und Nacht die Hammerschläge, und wenn die Sonne sank, loderten in sämtlichen Räumen und Gängen der Festung die Fackeln auf und vertrieben die Dunkelheit. Alle Wagen und Gespanne, die in der Stadt und der Festung aufzutreiben waren, wurden ausgeschickt, um herbeizuschaffen, was im Umkreis von anderthalb Tagen an Vorräten, Waffen und Männern zu finden war. Erst am dritten Tag kehrte ein wenig Ruhe ein, wenn auch eine trügerische.

Am Nachmittag des dritten Tages ließ Gunther die beiden Boten rufen. Hagen selbst hatte es übernommen, in die Stadt hinunterzugehen und sie zu holen. Die Erschöpfung war aus ihren Gesichtern gewichen und hatte der Furcht Platz gemacht. Hagen wartete darauf, daß einer der beiden den Mund aufmachte und irgend etwas sagte, aber sie schwiegen verbissen, bis sie den Thronsaal erreichten und die Wachen vor der Tür respektvoll beiseite traten.

Der Saal war vom Schein zahlloser Fackeln erhellt, obgleich die Sonne noch hoch am Himmel stand. Fast der ganze Hofstaat war versammelt, um Gunthers Gespräch mit den beiden Boten beizuwohnen. Zu Hagens Erstaunen war auch Ute anwesend, ein Stück abseits zwar und züchtig verschleiert, wie es sich geziemte, aber ganz das, was sie noch immer war: die Königin von Worms. Auch Siegfried war da, nicht sitzend, sondern in lässiger Haltung hinter Gunthers Thron stehend, einen Arm auf die Rücklehne gestützt, und für einen Augenblick glaubte Hagen in einem Winkel einen huschenden Schatten zu sehen mit einem häßlichen Gnomengesicht, er war sich aber nicht sicher.

Hagen geleitete die Boten vor Gunthers Thron, trat zurück und verbeugte sich leicht.

»Mein König«, sagte er, »die Boten König Lüdegasts von Dänemark und Lüdegers, des Königs der Sachsen.«

Der Sachse blickte unsicher von Gunther zu Siegfried. Der Xantener hatte sich nicht bewegt, dennoch ging eine spürbare Drohung von ihm aus, viel gefährlicher als der Zorn Gunthers. »Hört, zu welcher Entscheidung wir gekommen sind«, begann Gunther, ohne einen der beiden direkt anzusehen. »Übermittelt Euren Herren und Königen folgende Botschaft...« Er richtete sich gerade auf und fuhr mit erhobener Stimme fort: »Wir, König Gunther von Burgund, erwidern die Ehrenbezeigungen König Lüdegers und König Lüdegasts und entbieten ihnen Unseren königlichen Gruß. Wir haben ihre Forderung erwogen, und es erfüllt Unser Herz mit Trauer, daß es ihre Absicht ist, den Krieg über die Grenzen Unseres Landes zu tragen. Burgund ist ein friedliches Reich, das in gutem Einvernehmen mit seinen Nachbarn lebt.« Seine Stimme wurde schärfer. »Doch Wir sind keineswegs wehrlos, und Wir beugen uns keiner Erpressung. Sagt Euren Herren, daß Wir das schändliche Angebot, Unsere Freiheit zu erkaufen, zurückweisen und sie warnen: Wenn sie nicht von ihrem Plan ablassen, werden Wir ihnen entgegentreten, wo immer sie es wünschen. Doch raten Wir ihnen, ihre Entscheidung gut zu überlegen. Ihre Häuser werden erfüllt sein vom Wehklagen der Mütter, Witwen und Waisen, und es werden Tote sein, die ihren Weg säumen, nicht Siege. Schmerz und Tränen werden sie heimbringen, keine Beute.« Seine Stimme wurde noch eine Spur schärfer. »Sagt ihnen dies: Bleibt, wo Ihr seid, und nehmt unsere Achtung und Freundschaft entgegen. Oder kommt als Eroberer und nehmt den Tod aus unserer Hand.«

Das Gesicht des Sachsen zeigte nicht die geringste Regung, als er antwortete: »Ist das Euer letztes Wort, König Gunther? Bedenkt, daß unsere Heere...«

»Unser letztes Wort«, unterbrach ihn Gunther. »Und nun geht! Ortwein von Metz wird Euch begleiten. Es stehen zwei frische Pferde und Zehrung für den Weg bereit.«

Die beiden Boten rührten sich nicht, sondern standen da, als warteten sie noch auf etwas. Vielleicht auf ein Wort Siegfrieds. Aber Siegfried blieb stumm und blickte sie nur eisig an, bis sie sich endlich umwandten und, begleitet von den beiden Wachen, aus dem Saal gingen. »Die Antwort hat ihnen offenbar nicht ganz genügt«, sagte Ekkewart »Sie schienen sich ihrer Sache nicht so ganz sicher zu sein.« »Das schadet nichts«, antwortete Siegfried an Gunthers Stelle. »Dafür werden sie reiten wie die Teufel, aus lauter Erleichterung, mit dem Leben davongekommen zu sein. Habt ihr die Angst in ihren Augen gesehen? Sie werden an nichts anderes denken als daran, ohne Verzug aufzubrechen und in kürzester Zeit so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und Worms zu bringen. Und Ortwein wird dafür sorgen, daß sie diesem Wunsch nicht untreu werden.« »Wie weit begleitet er sie?« warf Hagen ein.

»Bis an die Grenzen Burgunds«, erwiderte Gunther. »Weit genug, daß sie nicht auf den Gedanken kommen, noch einmal umzukehren und sich davon zu überzeugen, daß wir keine Ränke schmieden.«

»Was sie ohnehin annehmen«, fügte Gernot hinzu. »Weder Lüdeger noch Lüdegast wird glauben, daß wir uns wie die Weiber hinter unseren Mauern verkriechen und darauf warten, daß sie uns angreifen.«

»Natürlich nicht«, sagte Siegfried. »Sie wären Narren, das zu glauben. Aber sie werden auch nicht glauben, daß wir ihren Boten auf dem Fuße folgen. Ortwein hat Anweisung, ihr Vorwärtskommen etwas zu verzögern. Lüdegast wird nicht einmal Zeit haben, sich von seinem Zorn zu erholen, nachdem er Gunthers Botschaft erhalten hat« »Ihr sprecht, als hättet Ihr den Krieg schon gewonnen, Siegfried von Xanten!«

Ute hatte sich von ihrem Platz am Feuer erhoben und war unbemerkt näher gekommen. Siegfried antwortete nicht sofort Er war offensichtlich verwirrt und nicht darauf gefaßt, einer Frau Rede und Antwort zu stehen. Einen Moment blickte er unentschlossen zwischen Ute und Gunther hin und her, dann verbeugte er sich leicht gegen die Königin und rang sich sogar ein Lächeln ab.

»Verzeiht, edle Königin«, sagte er, »aber das ist etwas ...« »Von dem ich nichts verstehe und aus dem sich Frauen herauszuhalten haben, ich weiß«, fiel ihm Ute ins Wort. Siegfried geriet nun vollends aus der Fassung, und Hagen unterdrückte mit Mühe ein schadenfrohes Grinsen. Siegfried hatte die Königin in dem Jahr seines Aufenthaltes in Worms weniger als ein dutzendmal getroffen, und er hatte, wie wohl die meisten, einen völlig falschen Eindruck von Ute gewonnen. »Natürlich nicht, meine Königin«, stammelte er. »Es ist nur...« Ute seufzte. »Wenn ihr euch nur selber sehen könntet!« sagte sie. »Ihr alle! Ihr sitzt da und redet über den Krieg, als wäre er ein Spaziergang!« »Mutter!« sagte Giselher. »Ich glaube nicht...«

»Du schweigst!« fuhr ihm Ute zornig über den Mund. »Du weißt nicht, wovon du sprichst, du am allerwenigsten! Was weißt du denn vom Krieg und vom Kämpfen, außer dem, was dir Hagen beigebracht hat? Du denkst an den Feind und ans Töten, aber hast du auch schon einmal ans Getötetwerden gedacht? Hagen hat dir gezeigt, wie man ein Schwert führt, wie man einen Speer schleudert und den Feind trifft. Hat er dir auch gezeigt, wie man getroffen wird? Und du, Gunther! Waren es nicht deine eigenen Worte, daß die Häuser der Feinde vom Wehklagen der Mütter, Witwen und Waisen widerhallen werden? Was, wenn es Worms ist, dessen Frauen und Mütter weinen? Ihr redet vom Krieg, und eure Augen leuchten dabei vor Ungeduld und Vorfreude. Wie viele von euch werden nicht wiederkommen von diesem Feldzug?« Gunther begann unruhig zu werden. Utes Auftritt war ihm mehr als unangenehm. Aber die Blöße, die Königin von Burgund - und seine eigene Mutter - vor dem versammelten Hofstaat zurechtzuweisen, konnte und wollte er sich nicht geben.

Hagen räusperte sich laut. »Frau Ute«, begann er, aber Ute ließ ihn nicht weiterreden. Mit einer zornigen Bewegung schnitt sie ihm das Wort ab. »Spart Euch Eure Worte, Hagen von Tronje«, sagte sie. »Ich weiß, was Ihr sagen wollt. Ich verstehe nichts von Politik und schon gar nichts vom Kriegshandwerk, und zudem bin ich eine Frau, und die Weiber haben zu schweigen, wenn die Männer reden, nicht wahr? Wir sind gut genug, euch zu gebären und großzuziehen, aber wenn es ums Töten geht, haben wir zu schweigen!«

»So ist die Welt nun einmal, Frau Ute«, sagte Hagen leise. In Utes Augen blitzte es auf, und Hagen erwartete einen neuerlichen Zornausbruch. Aber dann entspannten sich ihre Züge, und sie nickte. »Ja«, murmelte sie. »So ist sie nun einmal. Vielleicht wäre sie besser, wenn wir Frauen die Macht hätten. Aber das werden wir wohl niemals erfahren.« Damit wandte sie sich um, befestigte den Schleier wieder vor dem Gesicht und ging.

Für eine Weile war es sehr still. Schließlich brach Gernot das immer lastender werdende Schweigen. »Wir... sollten keine Zeit verlieren«, sagte er. »Es ist noch viel zu tun, bis die Sonne sinkt.« Er wandte sich an Siegfried. »Seid Ihr noch immer entschlossen, schon heute aufzubrechen?« Siegfried nickte. Er war wie alle anderen sichtlich froh, daß Gernot ihm eine Brücke baute, um über den peinlichen Vorfall hinwegzugehen. »Warum nicht?« sagte er. »Die Männer sind ausgeruht, und die Tiere frisch und bei Kräften. Wir gewinnen viele kostbare Stunden, wenn wir die erste Nacht durchreiten.«

Gernot seufzte. »Vielleicht habt Ihr recht. Je eher wir es hinter uns bringen, desto besser.«

»Ihr werdet sehen, daß ich recht habe. Der Weg ist lang genug, um die verlorenen Stunden Schlaf beizeiten nachzuholen. Haben wir Lüdegast erst einmal in unserer Hand, so...«

»Verzeiht, Siegfried«, unterbrach ihn Hagen. »Aber sollten wir nicht zuerst die kleine Nebensächlichkeit erledigen, Lüdegast zu schlagen, ehe wir uns überlegen, welches Lösegeld wir für ihn fordern?« Siegfried musterte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Zorn. »Zweifelt Ihr auch daran, daß wir siegen werden, Hagen?« »Nein. Aber ich habe gelernt, nicht den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun. Man kommt leicht ins Stolpern, wenn man es versucht.« Siegfried schnaubte abfällig. »Die Dänen sind keine Gegner, die wir zu fürchten hätten, Hagen«, sagte er. »Tausend von uns sind so gut wie zehntausend von ihnen. Und wir haben Gott auf unserer Seite.« »Gott...« Hagen nickte. »Auch die Dänen haben ihre Götter. Und es mag sein, daß ein Gott allein auf unserer Seite nicht ausreicht...« »Hagen!« mahnte Gunther streng. »Versündigt Euch nicht!« »Verzeiht, mein König«, entgegnete Hagen trocken. »Ihr wißt, daß ich das Christentum achte, auch wenn ich mich nicht dazu bekennen kann wie Ihr. In Euren und in Siegfrieds Augen mag ich ein Ungläubiger sein, ein Heide. Aber ich habe gelernt, daß auch Euer Gott nur denen hilft, die sich selbst zu helfen wissen.«

»Genug!« sagte Gunther aufgebracht. »Kein Wort mehr davon, Hagen, ich befehle es Euch!«

»Laßt ihn, Gunther«, sagte Siegfried. »Wir wollen darüber nicht streiten. Und in einem hat er recht: Gott hilft lieber dem Tapferen als dem Feigen.«

Hagen begegnete Siegfrieds funkelndem Blick, und er spürte, daß die Auseinandersetzung noch lange nicht beendet war. Sie hatte noch nicht einmal richtig begonnen.

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