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Ein süßer Duft wehte durch das geöffnete Fenster herein, betäubend geradezu, sogar noch hier oben. Grischa brauchte einige Herzschläge, um ihn mit den blühenden Linden unten in Verbindung zu bringen, die ihn daran erinnerten, dass schon tiefer Juli war.

Sein Zeitempfinden war ausgeufert; ein träges Vorbeifließen der Tage, dem er unbeteiligt zusah.

Wie aus weiter Ferne sickerten Räderknirschen und Hufklappern herein, ein schwaches Echo der Passanten und Flaneure. Umso näher klangen die Hörner der Dampfschiffe jenseits der Baumreihen, der dichte Verkehr auf der Elbe ein Gradmesser für den schwunghaften Handel der Stadt.

Keineswegs phönixgleich war Hamburg aus seiner Asche und den beiden Sturmfluten kurz hintereinander auferstanden. Auch fünfundzwanzig Jahre danach waren Brandnarben sichtbar, glich die Stadt an vielen Ecken einer einzigen Baustelle. Die fortgespülte Trostbrücke war noch immer nicht repariert, und für das neue Rathaus gab es zwar Entwürfe, doch so recht hatte man sich noch zu keiner Entscheidung durchgerungen.

Vor allem fehlte es an Geld. Die einhundertvierzig Millionen Hamburger Mark an Sachwerten, die damals in Feuer und Rauch aufgegangen waren, hatten eine Schuldenlast auf die Stadt gewälzt, die noch lange nicht abgetragen war.

Den Spenden wohlhabender Bürger war es zu verdanken, dass es zumindest mit dem Neubau von Sankt Nikolai vorangegangen war. Siebzehn Jahre hatte es gedauert, den Koloss aus Stein und Marmor zu errichten, von fast katholisch anmutendem Gepränge mit seinen Skulpturen und filigranen Steinmetzarbeiten, den Wasserspeiern und prächtigen Glasfenstern. Nur der Turm fehlte noch, der höchste der Welt sollte er einmal werden und sogar das Straßburger Münster in den Schatten stellen.

Ein Sinnbild für die reiche Zukunft, nach der Hamburg sich reckte und sichtbar für alle Welt bekundete, dass es nicht unterzukriegen war.

Leichte Schritte traten ins Zimmer.

»Brauchst du noch etwas, Papa?«

Besorgnis stand auf Auroras Gesicht mit den Rehaugen. Grischa zog seine Tochter an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Fahrt ruhig. William wartet doch schon sehnsüchtig auf euch.«

Lärmend kamen die beiden Kinder hereingesprungen. In einem Wirbel aus Rüschen und Schleifen und den dunklen Locken ihrer Mutter schwang Grischa die sechsjährige Lucy herum, dass sie entzückt kiekste, bevor er den kleinen Will hochstemmte, das Haar wie gesponnenes Karamell und mit den lichtblauen Augen seines englischen Vaters.

»Was bist du für ein schwerer Brocken«, rief Grischa mit gespieltem Schnaufen in das Lachen seines Enkels hinein. »Réka hat euch ja regelrecht gemästet!«

Nur widerwillig ließ der Junge sich absetzen und von seiner Mutter die Spuren von Pflaumenmus und Puderzucker abwischen, die Rékas Buchteln in seinem Gesicht hinterlassen hatten.

Tristan stand in der Tür, ein Schmunzeln auf dem soliden Gesicht, einen versonnenen Glanz in den Augen. Nachdem er jahrelang damit beschäftigt gewesen war, mit Grischas Unterstützung einen Kaffeehandel aufzubauen, konnte er es jetzt kaum mehr abwarten, seine eigene Familie zu gründen. Nächstes Frühjahr wollte er seine Judith vor den Altar führen, mit fünfunddreißig Jahren und schon dem ersten Aufglimmen von Grau an den Schläfen.

Herzhaft umarmten sich die beiden Männer, Grischa eine dunkle Eiche, Tristan wie aus Kiefernholz geschnitzt. Vater und Sohn, obwohl sie nicht einen einzigen Tropfen Blut gemeinsam hatten.

»Pass auf dich auf«, murmelte Tristan.

»Bring deine Schwester gut nach Hause«, erwiderte Grischa, »und grüßt eure Mutter von mir. Judith natürlich auch.«

An der Eingangstür klopfte es, der Fahrer der Mietkutsche. Aufbruchsstimmung brandete in der Wohnung auf und schwappte durch den Flur. In plötzlicher Hektik wurde nach einem verloren gegangenen Handschuh gesucht, nach einem vermissten Stofftier, während Réka in dem schwerfälligen Akzent ihrer ungarischen Heimat Segenswünsche austeilte und den Reisenden eine überreichliche Wegzehrung aufnötigte, als stünde eine Hungersnot bevor.

Die Tür fiel zu, und Stille breitete sich aus. Rékas Schniefen, ihr geräuschvolles Schnäuzen ins Taschentuch ebbten ab; nur noch das Klappern der Töpfe und Teller beim Abspülen war gedämpft am anderen Ende der Wohnung zu hören.

Vom Fenster aus beobachtete Grischa, wie der Wagen anrollte, um Tristan, Aurora und die beiden Kleinen aus dem grünen Herzen Altonas zum Hafen zu bringen. Nach London würde es gehen, wo Aurora als Mrs Fernsby inzwischen zu Hause war, Tristan zumindest mit einem Bein. Ein Katzensprung in dieser Ära von Kohle und Dampf, und doch nicht wirklich in der Nähe.

Die plötzliche Leere lastete schwer in Grischas Rücken.

Dass er einmal an den Punkt kommen würde, an dem er Christian um den Halt beneidete, den Henny und die drei Töchter ihm gaben, hätte Grischa nie für möglich gehalten.

Seine einzige Reue jedoch galt Thilo. Alles wäre anders gekommen, hätte er Thilo lieben können, wie dieser es verdiente. Grischas größte Sünde, die nicht zu vergeben, niemals mehr wiedergutzumachen war.

Grischa presste die Stirn mit aller Kraft gegen die Kante des Fensterrahmens, der körperliche Schmerz auf wohltuende Weise betäubend.

In seinem eigenen Bett hätte Thilo sterben sollen. In hohem Alter und in Frieden, mit einer vertrauten Hand, die seine hielt. Nicht in der Gosse und allein, nicht so. Als ob Zacharias zurückgekehrt wäre. Ein Untoter, vom Grund der Elbe heraufgestiegen, um Rache zu nehmen, Jahre später. Eine Last, an der Thilo schwer getragen hatte, obwohl es Grischas Bürde gewesen war.

Mich hätte es treffen sollen, ging es ihm nicht zum ersten Mal durch den Kopf. Ich sollte jetzt an Thilos Stelle im Grab liegen, sechs Fuß unter der Erde.

Eines jener Geheimnisse, die sie alle voreinander hegten. Thilo. Grischa selbst. Sogar Katya und Christian, dafür brauchte man kein Hellseher zu sein. Denn irgendwann begann jedes noch so gut gehütete Geheimnis zu gären und zu modern wie ein totes Tier unter Bodendielen.

Auch über Thilos Leichnam hatten sie den Mantel des Schweigens ausgebreitet. Um die unangenehmen Fragen im Keim zu ersticken, was ein angesehener Bürger mitten in der Nacht in einer solch verrufenen Gegend zu suchen hatte. Damit nicht nur Thilos Ruf posthum keinen Schaden nahm und der Katyas als seiner Ehefrau, sondern auch der der Firma. Ein Geheimnis mehr, das sich von nun an hinter der makellosen Fassade von Petersen & Voronin verbarg.

Mit einem tiefen Atemzug hob Grischa den Kopf und spürte dem brennenden Pochen nach, das der Fensterrahmen auf seiner Stirn hinterlassen hatte. Sein Blick wanderte auf die Stadt hinaus, die sich zu seiner Linken erstreckte. Von hier oben betrachtet glich Hamburg einem offenen Wasser, die Dächer eine endlose Dünung bis zum verblauenden Horizont und die Kirchtürme wie Baken, die Orientierung gaben.

Genau wie Hamburg selbst hatten sie das Unternehmen aus den Brandruinen wieder hochgezogen und durch unruhige Jahre geführt, die Flammen jener Maitage im Rückblick wie ein Vorzeichen für die Flächenbrände, die sich bald schon allerorts entzündeten.

Albrecht kam ihm in den Sinn, fast drei Jahrzehnte war es her. Mit seinen Zimmermannsmuskeln und dem breiten Kreuz, dem Grübchenlächeln und Küssen, die vom Pfeifentabak pfeffrig schmeckten.

Von einer Revolution nach französischem Vorbild hatte Albrecht seinerzeit geträumt, und eine solche Revolution hatte er bekommen, anno 1848, und in den Folgejahren ein halbes Dutzend Kriege noch dazu. Ein Aufbegehren gegen die bestehende Ordnung, das um den ganzen Globus züngelte, mal ein Schrei nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, mal machtgierige Rechthaberei. In einem kriegslüsternen Nationalstolz, der sich wie ein Virus immer weiter ausbreitete.

Unlängst sogar vor den Toren Hamburgs, als sich Deutsche und Dänen, von jeher eng verschwisterte Nachbarn, urplötzlich als Feinde gegenübergestanden hatten.

Grenzen wurden schärfer gezogen. Andere, die seit Jahrzehnten Bestand gehabt hatten, bröckelten oder wurden einfach weggefegt. Nicht erst, seit Charles Darwin die Schöpfungslehre ausradiert und der Menschheit einen wenig schmeichelhaften Spiegel vorgehalten hatte.

Die Welt war im Umbruch.

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