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In der Dachkammer über dem Kontor wanderte Jakobs Blick zu Cathrins Schreibtisch. Ein brachliegender Acker, staubig, wo sich die Putzfrau sichtlich nicht getraut hatte, die Papiere beim Saubermachen in die Hand zu nehmen. Die ungelesene Post war ins Kraut geschossen, die Kanten der unberührten Zeitungen und Zeitschriften schon angegilbt.

Eine solch überstürzte Abkehr von der Firma, eine solche Gleichgültigkeit passte nicht zu der Cathrin, die er kannte. Aber auch für sie war das vergangene Jahr wie kein anderes gewesen.

Seit sechs Wochen war er zurück, und die ganzen sechs Wochen hatte er sie nicht ein Mal aufgesucht oder ihr wenigstens eine Nachricht geschrieben. Was hätte er ihr auch schreiben sollen, in die Villa in Hamm, wo ihre Mutter im Sterben lag?

Jakob schnürte es die Kehle zu, wann immer er daran dachte, ein unklares Gemenge aus Schuldgefühlen und Scham und Scheu auf seinen Schultern.

Er beugte sich wieder über seine eigenen Unterlagen. Sein Verstand arbeitete genauso reibungslos wie früher, und doch konnte er den Zahlen und Fakten vor sich nichts mehr abgewinnen. Wer auf dieser ganzen weiten Welt brauchte wirklich diese kostbare Seide und schmeichelnde Federn, wer solch teuren Kaffee?

Angewidert schob er die Papiere von sich und stand auf. Rékas deftige Küche hatte ihn wieder zu Kräften kommen lassen. Auch sein Bein muckte kaum noch, seit er auf Anraten des Arztes viel zu Fuß ging.

Nur zögerlich hatte er sich anfangs auf die Straßen gewagt, misstrauisch in die Sonne blinzelnd und schreckhaft wie eine Geisel, die ihrer neu gewonnenen Freiheit noch nicht traute. Seine ersten Runden hatte er durch Altona gedreht, von den feinen Bürgerhäusern bis zu den krummen Sträßchen der Hafenarbeiter und Holzhändler und Fischweiber.

Dickfelliger geworden, hatte er seinen Radius nach Ottensen ausgedehnt, wo die Glashütten und Gießereien und Brauereien standen, Schiffsmaschinen und Dampfkessel und Propeller geschmiedet wurden und die Piependreiher für Nachschub an Zigarren sorgten.

Weit hinaus aus der Stadt war er gewandert, über die Felder, die von der Eisenbahn und dem Flüsschen Isebek durchschnitten wurden, hin zur Mühle am Diebsteich. Durch Pöseldorf hatten ihn seine Wege geführt, zu den Remisen, in denen Pferde und Wagen untergestellt waren. An den Häuschen und Gärtchen der Handwerker und Krämer vorbei, der Kutscher und Dienstboten. Ein trautes Heim neben dem anderen, die Eiern in einem Hühnernest glichen.

Abseits all dessen, was Hamburg sonst ausmachte, wie er oft dachte, wenn er dann seine Schritte zu den angrenzenden Viehweiden lenkte, wo er frei atmen konnte. In der Gesellschaft sanftmütig blickender Kühe und in sich gekehrter Schafe, die vom Tod nichts ahnten, unter einem Himmel, der offen und weit war und keine Grenzen kannte.

Am geöffneten Dachfenster zündete Jakob sich eine Zigarette an und beobachtete die Rauchfähnchen, die hinausschwebten und über den Dächern der Stadt verwehten. Sein Blick fiel auf den Michel, der wie nichts anderes sonst für Hamburg stand. Weil dieser Turm aus Holz und gealtertem Kupfer das Letzte war, was die Seeleute sahen, wenn sie ablegten, und das Erste, was sie bei der Heimkehr willkommen hieß.

Daran dachte Jakob manchmal, wenn er im Hafen die Schiffe beobachtete und sich fragte, wo sie herkamen und wo sie hinfuhren. Seltsam eigentlich, dass er sich bei seinen Fußmärschen instinktiv stets nach Norden orientierte, mit leichten Abweichungen nach Ost und West, aber nie nach Süden. Als müsste sich sein innerer Kompass erst wieder ausrichten. Auf einen Horizont, der einfach nicht näher kam, unscharf blieb.

Er wandte sich um und fasste erneut Cathrins verlassenen Schreibtisch ins Auge.

Katya und Grischa hielten, zusammen mit Ludger, das Ruder der Firma fest in der Hand. Doch die tatkräftige Energie Christians fehlte ebenso wie das vorwärtsstürmende Temperament Cathrins.

Jedes Mal, wenn er in Teufelsbrück war, hoffte er insgeheim darauf, Cathrin dort vorzufinden, das hätte es ihm leichter gemacht. Und jedes Mal war er enttäuscht und erleichtert zugleich, allein mit Katya zu sein, die nicht viel sagte und noch weniger fragte. Ihr Schweigen hatte etwas Heilsames, nährend wie das Essen, das sie ihm auf den Tisch stellte. Auch ohne große Erklärungen schien sie zu verstehen, was Jakob am meisten brauchte. Stundenlang konnte er still und reglos in der Sonne sitzen, während der Garten um ihn herum vor sommerlicher Lebendigkeit vibrierte; allein und doch nicht einsam, mit Katya neben sich, vertieft in eine Stickerei oder ein Buch oder die Finger im Gemüsebeet vergraben.

Ab und zu lieh er sich eines ihrer Pferde, um auszureiten, und manchmal schwamm er in der Elbe. Eigentümlich gleichgültig war er den Wellen und der Strömung gegenüber geworden, vielleicht auch furchtlos, weil es für ihn nicht mehr viel zu fürchten gab.

Außer, Cathrin gegenüberzutreten.

Viel zu eng kam ihm die Dachkammer mit einem Mal vor, unerträglich heiß und stickig unter der Augustsonne. Fahrig drückte er den Zigarettenstummel auf der Untertasse aus und griff zu seinem Hut.


Sankt Katharinen zu seiner Linken, schlenderte Jakob das von Lastkähnen und Möwen bevölkerte Dovenfleet entlang.

Zu einer schnellen Rückkehr in einen geregelten Alltag hatte der Arzt ihm geraten, und eine Rückkehr in ein normales Leben hatte Jakob sich ersehnt. Er, der Kriegsveteran, mit noch nicht einmal vierundzwanzig Jahren.

Die stillschweigende Anerkennung, die ihm die Angestellten im Kontor zollten, fand er lächerlich. Was hatte er denn schon groß geleistet, außer mit viel Glück am Leben zu bleiben? Der Respekt, den Ludger Niebuhr ihm neuerdings entgegenbrachte, ihn wie einen höchst ehrenwerten und verständigen Geschäftspartner behandelte, fast auf Augenhöhe, hätte ihn zum Lachen gereizt, wäre ihm danach zumute gewesen.

Normal war für Jakob nichts mehr nach diesem Krieg, den Hamburg nur aus weiter Ferne miterlebt hatte. Dass in der Kaserne, die während des Feldzugs leer stand, französische Kriegsgefangene inhaftiert gewesen waren, hatte wohl kaum jemand in der Stadt so recht mitbekommen.

Daran dachte Jakob, als er an den von der Zeit und vom Ruß angeschmutzten Häusern des Meßbergs vorbeispazierte, an den Marktfrauen mit ihren Kopftüchern und Strohhüten, die auf ihren Karren Kartoffeln und Rüben und Zippeln, Zwiebeln, feilboten. Mamsells und Hausfrauen begutachteten die Flechtkörbe voller Kirschen und Stachelbeeren und Sauerampfer, ein Postmann hastete mit seiner Umhängetasche voller Briefe vorbei.

Trotzdem war für sie alle eine neue Zeit angebrochen. Die Bürger Hamburgs waren jetzt auch Bürger des Deutschen Reiches, das von Flensburg an den Bodensee und bis kurz vor Salzburg reichte, von Elsass-Lothringen bis Schlesien, von der Maas bis an die Memel. Das Reich von Kaiser Wilhelm I., mit dem Reichstag in Berlin als Parlament, dem Reichskanzler Bismarck vorstand, mittlerweile Fürst von Bismarck.

Während Frankreich sich in blutigen Aufständen selbst zerfleischte, um zwischen altem Glanz und schonungsloser neuer Realität einmal mehr eine Republik zu werden, und in Spanien nun ein Italiener aus dem Haus Savoyen auf dem umstrittenen und bereits wieder wackelnden Thron saß, stand das Deutsche Reich als glänzender und mächtiger Sieger da, der die Hand gleich direkt nach den Sternen ausstreckte.

Mit einer einheitlichen Verfassung, einheitlichen Gesetzen nach preußischem Muster, die auf dem Grundsatz beruhten, dass jeder selbst seines Glückes Schmied war. Ein gigantischer Binnenmarkt war entstanden, in dem man Angebot und Nachfrage freien Lauf ließ. Einheitliche Maße erleichterten zusätzlich den Kauf und Verkauf von Waren, mit der Hamburger Mark als allgemeinem Dreh- und Angelpunkt für Preise und Bilanzen. Nachdem Frankreich Elsass und Lothringen an seinen Nachbarn verloren hatte, verfügte das Deutsche Reich nun über mehr als genug Eisenerz für Eisenbahnen und Stahl und Dampfmaschinen.

Unvorstellbar reich geworden war es noch dazu. Fünf Milliarden Francs an Wiedergutmachung schuldete Frankreich seinem Bezwinger, zahlbar innerhalb von fünf Jahren in eineinhalbtausend Tonnen Feingold. Nach heutiger Kaufkraft exakt die gleiche Summe, die Napoleon seinerzeit Preußen abgepresst hatte.

Die lange ersehnte Revanche. Blutgeld für die Hunderttausende an Gefallenen und Verwundeten auf beiden Seiten. Ein Kraftstoff, der die deutsche Wirtschaft erst recht in Fahrt brachte.

Wer konnte, kaufte und handelte, investierte und expandierte, um auf den Wellen von Fortschritt und Erfolg mitzuschwimmen. Aktienkurse jagten in die Höhe, frisch gegründete Firmen und Kontore schossen wie die Pilze aus dem Boden. Die Läden und Geschäfte quollen über mit all dem Notwendigen, dem Eleganten und Luxuriösen, das die Fabriken und Manufakturen und Handwerker herstellten, und die Inhaber machten kräftig Umsatz. Denn schließlich wollten der aufstrebende Kleinbürger, der gemachte Mann nebst Gattin sich etwas gönnen im schönen neuen Kaiserreich.

Diese Aufbruchsstimmung war auch bei Petersen & Voronin zu spüren. An Jakob ging sie jedoch spurlos vorüber. Einmal war er an der Außenalster entlanggewandert und dann ratlos vor den schlossähnlichen Villen von Uhlenhorst gestanden, mit denen sich der Geldadel Hamburgs ein Denkmal gesetzt hatte.

Ihn zog es in die Armenviertel, in die finsteren Gassen und Gänge im Schatten von Sankt Michaelis oder nach Sankt Georg. Auch heute tauchte er wieder in die inzwischen eingemeindete Vorstadt ein, die sich von der Binnenalster bis zu den beiden Bahnhöfen für Güterverkehr und Passagiere erstreckte.

Ziellos mäanderte er zwischen der Taubstummenanstalt und der Sonntagsschule umher, eingerichtet für Kinder, die werktags für das Zubrot ihrer Familie schuften mussten. Hier, in den Straßen zwischen dem Vergnügungspark des Tivoli und den Hotels und Pensionen für mehr oder weniger gut betuchte Reisende, fristeten verarmte Witwen ihr Gnadenbrot, gingen leichte Mädchen jeden Alters ihrem Gewerbe nach. An den Gesichtern der Männer, der Frauen ließ sich ablesen, wie sehr sie sich abstrampeln mussten, um über die Runden zu kommen, und manchen war anzusehen, dass die Hoffnungslosigkeit sie längst verschluckt hatte. Und Jakob sah die verlausten und verwahrlosten Kinder, die es niemals dort heraus schaffen würden.

Hier zeigte sich das Leben ungeschönt und unverfälscht und manchmal erbarmungslos. Wie verwundbar das menschliche Dasein war, und wie wenig man sein Schicksal selbst in der Hand hatte.

Man brauchte kein Hellseher zu sein, um jetzt schon zu wissen, wer für die kommenden fetten Jahre bezahlen würde. Eine lähmende Ohnmacht überfiel Jakob jedes Mal, wenn er daran dachte, dass diese Menschen mit ihrer Hände Arbeit den Reichtum anderer mehren würden, ohne jemals etwas davon abzubekommen. Ein Grabenkampf zwischen Arm und Reich, in dem der Sieger von vornherein feststand. Und nichts, nichts konnte Jakob tun, um etwas daran zu ändern.

Die Hände in den Hosentaschen, blieb er in der Gasse stehen. Geraume Zeit blinzelte er vor sich hin, während um ihn herum der Alltag zwischen bescheidener Ehrbarkeit und Elend rumpelte und lärmte. Gefangen in einer Tretmühle, in der man den Aufstieg zwar ständig vor Augen hatte, aber niemals schaffte. Dazu müsste man aus dem ewig kreisenden Laufrad aussteigen, und dafür hatten die wenigsten den Mut.

Er konnte es niemandem verdenken, der von hier fortging, der Hamburg als ein Sprungbrett benutzte, um anderswo sein Glück zu versuchen. Nicht zum ersten Mal spukte es Jakob im Kopf herum, wie es wohl sein mochte, alles hinter sich zu lassen. Ob es einem wirklich gelingen konnte, an einem anderen Ort komplett neu anzufangen, das Gedächtnis leer gewischt wie eine Schiefertafel.

Als eine Mietdroschke über das Pflaster heranrollte, hob Jakob die Hand.


Der Wagen brachte ihn hinaus nach Hamm, zur Villa der Petersens. Dienstmädchen Mine öffnete ihm, er war es noch nicht wieder gewohnt, dass jemand vor ihm knickste. Ihr Angebot, im Salon bei einer Tasse Kaffee oder Tee zu warten, lehnte er freundlich ab.

»Ich sage Fräulein Cathrin gleich Bescheid«, verkündete Mine mit einem weiteren Knicks. »Haben Sie nur etwas Geduld, Herr Levgrün. Der Herr Doktor ist gerade bei der gnädigen Frau.«

Der Moment, in dem er hätte vorschlagen können, ein anderes Mal wiederzukommen, verstrich ungenutzt, Mine eilte schon die teppichbezogene Treppe hinauf. Irgendwo in den Weiten des oberen Stockwerks konnte er Stimmen hören.

Jakob hatte vergessen, wie weitläufig dieses Haus war, wie nobel. Wie sauber. Ein sicherer Hafen, von Geld und gesellschaftlichem Status ummauert, der alles Unheil und Übel der Welt von sich fernhielt. Und doch witterte Jakob unter dem Geruch von Scheuerpulver und Wäschestärke, Gallseife und Bohnerwachs und Holzpolitur etwas Erstickendes, dumpf und süßlich und ein bisschen sauer.

Schritte hasteten die Stufen herab und machten dann abrupt halt. Jakob wandte sich um. Auf dem Treppenabsatz stand Cathrin. Genau so, wie er sie in Erinnerung hatte, in einem einfachen Sommerkleid, schlank und hell wie eine nordische Birke. Wachsam war der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als traute sie ihren Augen nicht.

Einen endlosen Augenblick lang schien die Welt stillzustehen, selbst die Vögel draußen im Garten waren verstummt.

Dann flog Cathrin die restlichen Stufen herunter und fiel ihm mit einem kehligen Laut um den Hals. Langbeinig und schmalhüftig unter dem dünnen Stoff des Kleids ein Pfeil, der geradewegs in sein totes Herz traf. Nach Sommerwiesen und grünen Äpfeln und ein bisschen nach Meer duftete sie, wie das Leben selbst. Doch in ihrem Kielwasser brachte sie den Hauch des Todes mit, der hier in diesem reichen und schönen Haus lauerte, und Jakob drehte es den Magen um.


Unter dem Baum, in dessen Schatten sie im Gras saßen, musterte Cathrin Jakob.

»Geht es wieder?«, erkundigte sie sich leise.

Mit geschlossenen Augen nickte er; trotzdem stieg nur langsam wieder Farbe in sein Gesicht.

Etwas Fremdes hatte in diesem Gesicht Einzug gehalten. Etwas, das weit darüber hinausging, dass die Wangenknochen sich schärfer herausgearbeitet hatten, die Kinnlinie eckig ausgeprägt. Und unter dem Bart, den er sich gerade wieder wachsen ließ, wirkte sein Mund hart und unnachgiebig. Cathrin war nicht sicher, aber im Wechselspiel von Sonnenstrahlen und Laubschatten glaubte sie, einzelne graue Fäden in seinem dunklen Haar ausmachen zu können. Ihre Brust zog sich zusammen, als ihr Blick über den erhabenen Grat wanderte, der sich quer über seine Wange zog.

»Tut die Narbe noch weh?«, fragte sie leise. »Oder dein Bein?«

Jakob schüttelte den Kopf.

Cathrins Herz war übervoll mit all den Dingen, die sie noch fragen und sagen und erzählen wollte. Aber so leicht und frei schlug dieses Herz, dass alles andere gerade keine Rolle spielte. Alles, was zählte, war dieser eine Augenblick.

Aufseufzend umschlang Cathrin seinen Arm und drückte die Wange an seine Schulter.

»Du bist zurück«, murmelte sie.


Jakob blinzelte in die Sonne, aber er spürte ihre Wärme nicht. Kurz vor Weihnachten war es gewesen, dass sich am Himmel über Paris der Mond über die Sonne schob und das Licht verdüsterte. Diese Finsternis trug er seither mit sich herum, wohin er auch ging.

Cathrin war sein Leitstern gewesen in all der rauchschweren, schlammverschmierten und blutbespritzen Dunkelheit. In der Verzweiflung, die sich in die Knochen bohrte, durch den Magen fraß und das Gehirn totschlug.

Cathrin jetzt neben sich zu fühlen, mit Haut und Haar, lebend, atmend, pulsierend, war fast zu viel, um es ertragen zu können.

»Vermutlich kann ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen«, raunte sie heiser, »wie es dort war. Obwohl ich alles gelesen habe, was in den Zeitungen stand.«

Um Jakobs Mund zuckte es, und er wusste selbst nicht, ob er loslachen oder weinen oder aufbrüllen sollte.

»Du musst auch nicht darüber reden«, fügte sie hinzu. »Aber du kannst es mir erzählen, wenn du willst. Irgendwann. Ich halte das schon aus.«

Als Cathrin nach seiner Hand fasste, entzog er sich ihr.

Mit gesenktem Kopf beobachtete er seine Finger, die sich langsam krümmten und wieder öffneten.

Gemordet hatten diese Hände, der Himmel allein wusste, wie viele Männer. Wohl immer, wenn er den Abzug des Gewehrs drückte und nachlud, wieder und wieder und wieder, einen krampfhaften Atemzug nach dem anderen. Blind und taub, getrieben von der nackten Angst, dass jeder feindliche Soldat, den er niederstreckte, seine einzige Chance war, selbst den nächsten Augenblick noch zu erleben.

Diese Hände hatten das steife Glied eines Kameraden gehalten und dem Höhepunkt entgegengerieben, so wie er sich umgekehrt hatte befriedigen lassen. Weil Todesangst und Fleischeslust zwei Seiten derselben Medaille waren. Weil die quälende Erregung, der Reiz des Verbotenen und der glückselige Funkenschauder der Erlösung einen spüren ließen, dass man wirklich noch am Leben war.

Dieselben Hände waren es gewesen, die sich auf die ausgefransten und bluttriefenden Löcher in Tristans Brust gepresst hatten, im hart gefrorenen Grasland bei Bazoches. Nach einem Sanitäter hatte er gebrüllt, nach Hilfe, irgendeiner Art von Hilfe. Nach einem wohlwollenden Gott, an den er da schon nicht mehr glauben konnte.

Ungehört war seine Stimme im Donnerkrachen der Schüsse verhallt. Im Pfeifen der Kugeln, die wie ein todbringender Insektenschwarm auf sie einstürmten und brennend über Jakobs Wange und Arm frästen. In den markerschütternden Schreien der Verwundeten und Sterbenden, die Jakobs Gehör genauso verätzten wie der Pulverqualm seine Lunge. Während seines Vaters anderer Sohn unter Jakobs Händen Blut spuckte und gurgelnd sein Leben aushustete.

Wie könnte er Cathrin jemals wieder mit diesen Händen berühren?

Cathrin flüsterte seinen Namen, fragend und geradezu bittend. Als hätte sie ihm schon verziehen, dass er ihr nie geschrieben hatte, nicht einmal aus dem Lazarett, wo sie ihm das Bein wieder zusammenflickten.

Für die Schrecken, die er erlebt hatte, für diesen Abgrund gab es keine Worte. Für dieses Zerfleischen und Abschlachten, in dem jegliche Menschlichkeit in Fetzen ging. Kein Wort, das sich finden ließ, wäre jemals genug dafür. Und jedes Wort wäre das eine zu viel, das ihn zerbersten ließe wie eine Granate aus Glas.

Etwas blieb dennoch zu sagen.

Jakob ließ den Kopf an der Rinde des Baumes ruhen und erforschte den kläglichen Rest dessen, was von seinem Gewissen übrig geblieben war. Dann ballten sich seine Hände zu Fäusten.

»Ich gehe fort, Cathrin. Nach Amerika.«

Er konnte hören, wie ihr der Atem stockte.

»Wann?«

»Sobald ich eine Passage buchen kann.«

Die plötzliche Kühle, die von ihr ausging, ließ ihn leichter atmen.

»Ich nehme an, du wirst mich nicht fragen, ob ich mitkomme.«

»Nein.«

»Und auch sonst hast du mir nichts zu sagen?«

Er schüttelte den Kopf.

Ihr Schweigen klang eher verwundet als anklagend, aber ihr Blick versengte seine Haut, und er stand auf.

»Leb wohl, Cathrin.«

Mit jedem Schritt, den er über den Rasen tat, gewann er an Stärke, an Sicherheit.

»Fahr zur Hölle, Jakob Levgrün!«, rief sie ihm nach.

Da war ich doch schon, antwortete er ihr in Gedanken. Und bin es immer noch.

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