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Cathrin faltete einen makellos gebügelten Kissenbezug zusammen und legte ihn in den Korb. Durch das offene Fenster der Wäschekammer spähte sie hinunter in den sommerbunten Garten, um sich zu versichern, dass Henny der Besuch ihrer Enkel nicht zu viel wurde.

Viktoria, gerade zwölf Jahre alt geworden, wirbelte um die eigene Achse, um ihrer Großmutter auf der Sonnenliege das neue Sommerkleid zu präsentieren, während der fünfzehnjährige Claudius auf dem Rasen lümmelte und seinen sechs Jahre jüngeren Bruder zu verscheuchen suchte, der ihn umschwirrte wie eine übermütige Fliege. Thalia, mit fast achtzehn Jahren eine junge Dame der Gesellschaft und mit den ersten Verehrern, blätterte die nächste Seite des Romans um, aus dem sie vorlas; etwas mit Abenteuer und viel Romantik und einem glücklichen Ende, wie Henny es liebte. Marie saß in einiger Entfernung im Gras und hielt diese Szene auf ihrem Skizzenblock fest.

Voller Staunen ruhte Hennys Blick auf ihrer ältesten Enkelin, die Jette im selben Alter so sehr glich. Zärtlich zupfte sie an den Rüschen der Ärmel und strich über Thalias hochgebundene Korkenzieherlocken, und ein Lächeln zog über Cathrins Gesicht.

»Mama ist doch noch ganz gut beieinander, nicht?«, fragte Jette, die zu ihr ans Fenster getreten war.

Cathrin runzelte die Stirn. »Das ist das Morphium, Jette. Doktor Fölsch ist großzügig damit. Es nimmt ihr nicht nur die Schmerzen, sondern bringt sie auch ganz gut über den Tag.«

Sie verkniff sich die Bemerkung, dass ihre Schwester das wüsste, käme sie häufiger vorbei.

Sogar Betje Reintjes war öfter hier, manchmal von Hanno oder ihren Töchtern begleitet, immer eine liebevoll verpackte Spezialität aus dem Feinkostladen dabei. Mit Grischa kam jedes Mal eine besondere Heiterkeit ins Haus, sogar an Regentagen. Auf liebenswürdige Art flirtete er mit Henny, sodass sie freudig errötete und verlegen kicherte wie ein Backfisch.

Katya brachte jedes Mal eine selbst gebackene Nascherei mit, wie Henny sie immer noch liebte und sich damit jetzt auch nicht mehr zurückzuhalten brauchte. Bei diesen Besuchen schienen Katya und Henny nie viel miteinander zu reden. Aber sie hatten sich ohnehin noch nie groß etwas zu sagen gehabt, so verschieden, wie sie waren, zwei entgegengesetzte Pole der Weiblichkeit. Und trotzdem suchte Henny immer wieder Katyas Hand, streichelte Katya über Hennys Arm. Kleine und geradezu scheue Gesten, die augenscheinlich beiden wohltaten.

Unter Jettes eindringlichem Blick ließ Cathrin Zug um Zug weiter das Plätteisen über ein Leintuch gleiten.

»Warum gibst du dich eigentlich neuerdings mit Hausarbeit ab?«, wunderte sich Jette. »Haben wir dafür nicht das Personal?«

»Agathe und Mine kümmern sich mehr als genug um Mama, obwohl es eigentlich nicht ihre Aufgabe ist. So ersparen wir ihr, dass eine fremde Person als Pflegerin ins Haus kommt. Und mir bricht bestimmt kein Zacken aus der Krone, wenn ich mal mit anpacke.«

Dass Bügeln und Fensterputzen und Erbsenpalen einem Halt in schwierigen Zeiten gaben, das hatte sie von Katya gelernt.

»Vielleicht wird ja doch noch eine richtige Hausfrau aus dir«, bemerkte Jette hörbar hoffnungsvoll.

Um Cathrins Mund zuckte es. »Das halte ich für unwahrscheinlich.«

Jette strich über den Wäschestapel frisch von der Leine, der noch darauf wartete, unter das Plätteisen zu kommen.

»Vermisst du die Arbeit in der Firma denn nicht?«

Natürlich vermisste sie sie. Seit fast einem Jahr hatte Cathrin das Kontor nicht mehr von innen gesehen. Als hätte sie einen Arm oder ein Bein dort gelassen, so fühlte es sich an.

»Die Firma wird in ein paar Monaten noch da sein«, antwortete sie über dem nächsten Strich mit dem Plätteisen. »Mama aber nicht mehr.«

Henny wurde zusehends schwächer, je weiter der Krebs sich durch ihre Eingeweide und Knochen fraß. Sogar die dünn und glanzlos gewordenen Haare sanft mit einer weichen Bürste aufzulockern bereitete ihr Schmerzen, auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen wollte und die Zähne zusammenbiss. Umso mehr genoss sie es, wenn Cathrin ihr die Füße knetete, die ihr oft wehtaten, besonders morgens. Als hätte Henny in ihren Träumen die Nacht durchgetanzt.

Einige Wochen blieben ihr auf jeden Fall noch, hatte Doktor Fölsch gesagt, aber wohl nicht sehr viel mehr. Cathrin schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter.

Jette öffnete einen der Schränke und inspizierte die Tischtücher darin.

»Ludger sagt, dass wir glänzenden Zeiten entgegensehen. Überall herrscht Goldgräberstimmung. Zumal Hamburg durchgesetzt hat, ein Freihafen zu bleiben. Ohne den Zollzwang, der im übrigen Reich herrscht. Und noch nie war unser Eis so gefragt. Ein Vielfaches mehr hätten wir verkaufen können, sagt Ludger.«

»Es strömt nur immer noch mehr Eis auf den Markt«, hielt Cathrin dagegen. »Besonders aus Norwegen. Eis ist jetzt schon keine Luxusware mehr, sondern ein Alltagsgut. Über kurz oder lang wird das den Preis drücken, und unterm Strich wird weniger Gewinn übrig bleiben.«

»Das stimmt doch gar nicht«, entgegnete ihre Schwester verständnislos. »Wir haben dieses Jahr genauso viel verdient wie sonst auch.«

»Dieses Jahr schon«, erwiderte Cathrin ruhig. »Weil der Winter um Boston und entlang des Hudson zu mild ausgefallen ist und dieses Eis dann auf dem Markt gefehlt hat. Sollte eine solche Wärmeperiode je den Süden Norwegens heimsuchen, würden auch wir den Umsatz eines ganzen Jahres verlieren wie die Händler Neuenglands jetzt.«

»Was für ein Unsinn«, schnaubte Jette. »Als ob so weit oben im Norden der Winter einmal nicht kalt sein könnte.«

Von Wohl und Wehe der Elemente unabhängig zu sein, das war das große Ziel dieser Zeit. Deshalb hatte die Eisenbahn ihren Siegeszug angetreten, deshalb stand man an der Wende von der großen Ära der Segler hin zu der dampfangetriebenen Zukunft der Schifffahrt.

Im Bayerischen Industrie- und Gewerbeblatt hatte Cathrin einen Aufsatz von Carl von Linde gelesen, der zahlreiche Verbesserungen vorschlug, um die noch neue und mangelhafte Kältetechnik besser und effizienter zu machen. Cathrin hatte daraufhin an diesen Ingenieur und Professor in München geschrieben und eine Zusammenarbeit angeboten. Doch eine österreichische Großbrauerei war schneller gewesen. Ein kostspieliges Unterfangen, selbst für den Bierkönig von Wien, der sogar nach Übersee exportierte, sodass auch noch ein Münchener Brauhaus mit ins Boot stieg.

Sicher würde es Jahre dauern, bis eine solche Eismaschine einwandfrei funktionierte und sich vor allem rentierte. Dass es eines Tages so weit sein würde, daran hegte Cathrin jedoch keinen Zweifel. Eine Revolution in der Kühlung von Lebensmitteln und Getränken, die für die an sich simple, aber doch umständliche Gewinnung von Eis aus zugefrorenen Flüssen und Seen des Nordens das Ende bedeuten würde. Und damit auch für diesen Geschäftszweig von Petersen & Voronin, der die Firma erst groß gemacht hatte. Eine Entwicklung, die sich vielleicht hinauszögern, aber nicht aufhalten ließe.

Cathrin überlegte noch, ob sie auf diesen gemächlich anrollenden Zug der Zeit aufspringen und Herrn von Linde vorschlagen sollte, ebenfalls in seine Experimente zu investieren, oder ihre Erbschaft lieber in etwas Eigenes steckte.

Gerade rechtzeitig hob sie das Plätteisen wieder an, bevor es den Stoff versengte.

Mine erschien in der Wäschekammer, ein Strahlen auf dem Gesicht.

»Post für Sie, Fräulein Cathrin.«

Jette, die näher an der Tür stand, schnappte sich den Brief aus Mines Hand.

»Gib her«, verlangte Cathrin.

Jette gehorchte, wenn auch nicht ohne einen eingehenden Blick auf Briefmarken und Stempel zu werfen.

»Aus Indien«, kommentierte sie mit vielsagend hochgezogenen Brauen. »Etwa von Gerrit Reintjes?«

Wortlos schob Cathrin den Brief in ihre Rocktasche; einen allzu flüchtigen Augenblick hatte sie gehofft, es wäre eine Nachricht von Jakob.

»Willst du nicht lesen, was er schreibt?«, bohrte ihre Schwester nach.

Jeder von Gerrits Briefen brachte das Rauschen des Ozeans mit sich und das Rascheln der Palmen im Wind. Den Duft des Monsunregens auf ausgedörrtem Boden und den überbordenden Lärm in den staubigen Straßen, das Keckern der wilden Äffchen oben auf den Mauern und das Kreischen von Papageien. Zwischen den Zeilen schmeckte Cathrin lassi und chai heraus, Cashewnüsse und Mangos, wenn sie von kleinen Abenteuern las, von dem einen oder anderen lustigen Malheur und amüsanten Missverständnissen. Wie das Curry aus Bombay Duck, in dem Gerrit kein einziges Bröckchen Ente gefunden hatte, nur Fisch. Bis er herausfand, dass eben dieser in natura hässlich anzusehende Fisch so genannt wurde, weil sein Geruch an die Druckerschwärze der Zeitungen erinnerte, die mit der Bombay Daak, der Post aus Bombay, ins Hinterland geliefert wurde.

Während Cathrin hier mit einer todkranken Mutter festsaß, die förmlich vor ihren Augen verfiel, manchmal Darm und Blase nicht mehr kontrollieren konnte und dann in Tränen ausbrach, weil sie sich schämte und vor sich selbst ekelte und sich wie eine Last für alle anderen im Haus vorkam.

Cathrin beklagte sich nicht. Es war ihre Entscheidung gewesen, vor der sie jetzt nicht mehr weglaufen konnte und es auch nicht wollte. Eine besondere Nähe war zwischen ihr und Henny entstanden, wenn sie ihre Mutter wusch und ihr das Essen ans Bett brachte, ihr vorlas und sich von früher erzählen ließ, als die vier Eisbarone noch jung gewesen waren und Henny ein aus Lübeck hergezogenes Mädchen, das von der Liebe und dem Leben träumte.

Alles, alles davon wollte sie aus dieser Zeit jetzt noch herausquetschen wie aus einer Zitrone und keinen einzigen dieser süß-sauren und manchmal bitteren Tropfen verschwenden.

»Gerrit sieht ziemlich gut aus«, sprach Jette weiter, listig und wie lauernd. »Wenn man Rotfüchse mag.«

Cathrin hatte noch nie der Sinn nach derartigem Backfischgeplapper gestanden, dem Jette offenbar auch mit Anfang vierzig noch nicht entwachsen war.

»Fass mal mit an«, forderte sie ihre Schwester auf.

Gemeinsam schlugen sie das gebügelte Leintuch knallend aus und falteten es dann Ecke auf Ecke, Kante und Kante zusammen, bevor Cathrin es als handliches Paket in den Wäschekorb legte.

»Jakob ist übrigens wieder zu Hause«, hörte sie Jettes Stimme in ihrem Rücken. »Seit Samstag.«

Cathrin fuhr herum. »Das erzählst du mir erst jetzt?«

Natürlich war sie am Samstag durch die mit Blumen und Lorbeerkränzen und Flaggen geschmückten Straßen zum Rathausmarkt gelaufen, der noch immer kein Rathaus hatte und auch so bald keines bekommen würde, aber nun wenigstens mit einer Reiterstatue des deutschen Kaisers aufwarten konnte. Bis in die vorderste Reihe hatte Cathrin sich durch die jubelnde Menge gekämpft und unter den vorbeimarschierenden Soldaten in ihren schmucken Uniformen nach Jakobs Zügen Ausschau gehalten. Irgendwann war sie sogar so dreist gewesen, ein paar der Heimkehrer am Ärmel zu fassen und sie nach Jakob zu fragen, Jakob Levgrün. Einiges an Kopfschütteln und Schulterzucken später, nach dem einen oder anderen anzüglichen Grinsen und ein paar unverschämten Sprüchen war sie mit hängenden Schultern wieder nach Hause gegangen.

»Wie geht es ihm?«, brachte sie mit trockenem Mund hervor, eine Verdurstende, die um etwas Wasser bettelte.

»Die Kugel eines Freischärlers hat ihn ins Bein getroffen, als er auf einem Botengang war. Und ein paar Streifschüsse hat er abbekommen. Sonst fehlt ihm wohl nichts. Er wird aber etwas Zeit und Ruhe brauchen, meint Grischa.«

Cathrin atmete tief durch, mit einem Schlag von einer zentnerschweren Last befreit. Von unten perlten Vogelgezwitscher und Kinderlachen herauf.

Am liebsten wäre sie jetzt allein gewesen.

»Willst du nicht auch hinuntergehen?«, fragte sie. »Du hast Mama heute noch gar nicht gesehen.«

»Später vielleicht«, murmelte Jette.

Im Augenblick schien es für sie nichts Wichtigeres zu geben, als lose Fädchen von der Wäsche zu zupfen. Cathrins strengem Blick wich sie aus.

»Du musst mich gerade für unglaublich oberflächlich und selbstsüchtig halten«, flüsterte Jette.

»Das habe ich vorher schon«, erwiderte Cathrin ungnädig.

Jette versuchte sich an einem Auflachen, das misslang. Ihr immer noch ausnehmend hübsches Gesicht geriet in Bewegung und zerfiel dann zu einer Elendsmiene, und Cathrin begriff, warum ihre Schwester so selten hier war.

»Ich weiß, es ist schwer«, sagte sie leise.

Jettes Kinn zitterte, während ihr Tränen über die Wangen liefen.

»Ich halte das nicht aus, Cathrin«, würgte sie hervor. »Mama so zu sehen. Zu wissen, dass wir sie bald begraben müssen. Ich halte es einfach nicht aus.«

Ausgerechnet Jette, die sich und alles andere immer beispiellos im Griff hatte und niemals Schwäche zeigte. Unbeholfen legte Cathrin den Arm um ihre weinende Schwester und drückte sie an sich. Ein merkwürdiges Ungleichgewicht zwischen der Älteren und der Jüngeren. Zwischen der Erstgeborenen, sehnsüchtig erwartet und der Glanz in den Augen ihrer Mutter, und ihr, Cathrin, dem Kind, das es nicht hätte geben sollen.

Cathrin hätte nicht sagen können, ob ihr dadurch der Abschied von Henny leichterfiel oder ihn im Gegenteil nur noch schwerer machte; vielleicht spielte es auch keine Rolle.

Sobald Jettes Schluchzer abebbten, lösten die Schwestern sich voneinander, fast ein bisschen verlegen. Jette zog ein Taschentuch hervor und putzte sich geräuschvoll die Nase.

»Mamas Schmuck gehört aber allein mir«, schniefte sie.

Zu jedem beliebigen Zeitpunkt wäre dies ein Funken gewesen, der in Cathrin einen Feuersturm ausgelöst hätte. Nicht etwa, weil ihr besonders viel an dem Geschmeide gelegen hätte, das ihr Vater über Jahre hinweg ihrer Mutter zum Geschenk gemacht hatte. Sondern aus Prinzip.

Jetzt jedoch verstand sie, dass dies Jettes Art war, sich in das Unabänderliche zu fügen. Eine greifbare und bleibende Erinnerung an ihre Mutter in den Händen zu halten, das versprach ihr den Trost, den sie brauchte.

»Geschenkt, Jette«, erwiderte Cathrin mit ruppiger Großzügigkeit.

Ein kleines Lächeln entfaltete sich zwischen ihnen, spitzbübisch und doch noch vorsichtig; diese Art von Schwesterlichkeit war ihnen fremd.

Cathrin fasste nach Jettes Hand.

»Geh schon«, befahl sie sanft. »Mama wartet sehnsüchtig auf dich, das weiß ich.«

Jette nickte, wie um sich selbst Mut zu machen, bevor sie sich über die nassen Wangen wischte und den Gang in den Garten antrat.

Cathrin ging ans Fenster. Schwungvoll schritt ihre Schwester unten über den Rasen. Wie eine Sonnenblume sich nach der Sonne drehte, so wandte Henny das Gesicht ihrer Ältesten zu, von jenem glückseligen Strahlen erleuchtet, das allein Jette vorbehalten blieb.

Cathrin blinzelte über den weitläufigen Garten hinweg zum Himmel, der jetzt blauer schien als vorhin, die Sonne wärmer.

Jakob war wieder zu Hause.

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