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Als die Kutsche unter den blühenden Linden hielt, geduldete sich Cathrin nicht, bis Hans vom Kutschbock herabgestiegen war, sie öffnete selbst den Wagenschlag.

»Du brauchst nicht zu warten«, rief sie dem Kutscher zu. »Ich nehme dann einen Mietwagen nach Hause oder komme mit dem Zug.«

In großen Schritten lief sie über die Palmaille, und genauso eilig stürmte sie die Treppen hinauf, während ihr Herz freudig Purzelbäume schlug.

»Mein Kätzchen«, gurrte Réka in der Tür und strahlte dabei beseelt über das ganze Gesicht.

Zärtlich streichelte sie Cathrins Arm und erkundigte sich nach der Frau Mama und dem Herrn Papa, nach Jette und den Kindern und nach Marie. Mit einer großen Geste griff sie sich ans Herz, als Cathrin ihr die Blumen aus dem Garten und ein Spankörbchen mit Erdbeeren vom Markt übergab. Cathrin hatte nicht mit leeren Händen kommen wollen, und etwas anderes war ihr nicht eingefallen; offenbar kannte sie Jakob nicht halb so gut, wie sie geglaubt hatte.

»Cathrin.«

Grischa erschien hinter Réka und drückte Cathrin an sich. Eine seiner Bärenumarmungen, die keine Fragen, keine Antworten brauchten.

Am Ende des Flurs klopfte er an eine Tür, rief mehrmals leise Jakobs Namen.

»Cathrin ist hier«, fügte er hinzu.

Ein undeutliches Murmeln drang durch das Holz, das für Cathrin erst dann einen Sinn ergab, als Grischa sich umdrehte und bedauernd den Kopf schüttelte. Unter Rékas mitfühlendem Blick stand sie da wie vom Donner gerührt.

Jakob wollte sie nicht sehen.


Grischas Augen ruhten auf Cathrin, die ihm im Sessel gegenübersaß. Kerzengerade und den Blick starr zum Fenster gerichtet, hielt sie die Tasse mit dem Kaffee in den Händen, an dem sie noch nicht einmal genippt hatte. An eine zu straff gespannte Feder aus Stahl erinnerte sie, die jeden Augenblick brechen konnte.

»Mich will er die meiste Zeit auch nicht sehen«, sagte Grischa, obwohl er genau wusste, dass es nicht dasselbe war.

Aus nächster Nähe hatte Grischa beobachtet, wie Cathrin Jakob in ihren Bann gezogen hatte, ein ziellos umherfliegender Gesteinsbrocken, der in die Schwerkraft eines Planeten geraten war. Wohin dieser Planet sich auch wandte, sein neuer Mond folgte ihm und schuf dabei kaum merklich einen eigenen Sog. Bis sie beide umeinander zu rotieren begannen, mit einem wachsenden Schwung, der sie beide im Licht der Sonne umso heller strahlen ließ.

Der Krieg, dieser verdammte Krieg, hatte sie auseinandergerissen; jetzt taumelten sie beide allein durch ihre eigene Dunkelheit.

»Er wird Zeit brauchen«, fügte Grischa hinzu, »um sich zu erholen und sich wieder in diesem Leben zurechtzufinden. Lass ihm diese Zeit.«

Cathrin nickte mechanisch.

Wie sie vorhin im Flur gestanden hatte, mit den Blumen und den Erdbeeren, so musste Christian damals vor Katyas Tür gestanden haben. Und der schwache Hoffnungsschimmer, der sich jetzt auf Cathrins Gesicht abzeichnete, erinnerte Grischa so sehr an Thilo, dass er den Blick abwandte.

Er fragte sich, ob die Nachkommen dazu verdammt waren, die Fehler der Älteren zu wiederholen. Oder ob jede Generation ihre eigenen Geschichten von Herzensglück und Herzensleid schrieb.

»Er wird zu dir kommen, wenn er so weit ist«, appellierte er an Cathrins Geduld.

Beide wussten sie, dass das nicht ihre größte Stärke war, genauso wenig wie die ihres Vaters.

»Danke für den Kaffee«, brachte sie hervor.

Behutsam stellte sie die noch volle Tasse ab und stand auf. An der Tür drehte sie sich um.

»Und wenn er doch nicht kommt?«

»Dann wein ihm keine Träne nach.«


Die halb zugezogenen Vorhänge machten aus Jakobs Zimmer eine dämmrige Höhle. Der einzige Ort, der ihm ein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Wo er aß, schlief, sich wusch und ansonsten ruhelos umhertigerte oder stundenlang Löcher in die Luft starrte. Ein Kriegsgefangener in Friedenszeit.

Angestrengt horchte Jakob in den Flur hinaus. In Rékas herzlichem Wortschwall ging Cathrins Stimme fast vollständig unter, einsilbig und flach. Sobald die Eingangstür ins Schloss gefallen war, atmete Jakob tief durch.

Cathrin sollte ihn nicht so sehen. Ein Bündel Knochen, von einem Rest Überlebenswillen zusammengehalten, aber sonst nicht viel mehr. Nicht genug für Cathrin, für die er in diesen Krieg gezogen war, um sich ihr als Held zu präsentieren. Wie könnte er das jemals vergessen.

Mit zitternden Händen rieb er sich über das Gesicht und stieß dabei an die Narbe auf seiner Wange, die jetzt weniger pochte, dafür unerträglich juckte. Ein gutes Zeichen, hatte der Arzt befunden, weil es Heilung versprach.

Als Jakob ihn gefragt hatte, ob es auch eine Kur für all das andere gab, was in ihm kaputtgegangen war, hatte der Arzt ihn mitleidig angesehen und ihm auf die Schulter geklopft.

Die Zeit, mein Junge. Die Zeit.

In Jakobs Gehörgang begann es, hallend zu dröhnen und zu wummern. Ein Echo des Geschützdonners, durchsetzt von Gewehrsalven. Instinktiv presste Jakob die Hände auf die Ohren, obwohl er wusste, dass es nichts nützte, alles spielte sich in seinem Kopf ab.

Wie die Bocksprünge, die er nachts unwillentlich im Bett vollführte, wenn sein Körper gerade dabei war, in den Schlaf hinabzugleiten, sein Kopf jedoch blitzartig Alarm schlug. Vor lauter Angst, was ihn im Traum erwarten mochte oder dass er womöglich nie wieder aufwachte. Wenn ihn jedes Peitschenknallen eines Kutschers unten auf der Straße aufschreckte oder auch nur das Wiehern eines Pferdes.

Zu viele Pferde hatte er sterben sehen, zerschunden und durch die blutige Mangel des Krieges gedreht. In ihrer Arglosigkeit, ihrem Menschenvertrauen ein solch schmerzlicher Anblick, dass es einem das ohnehin schon zersprungene Herz endgültig brach.

Nichts jedoch war entsetzlicher gewesen als der Ausdruck in Tristans Augen. Gequält und gefoltert, ein Jungtier, das sich in einer Dornenhecke verfangen hatte und sich mit jedem Atemzug, jeder Regung die Stacheln nur noch tiefer in Fleisch und Eingeweide trieb. Um Hilfe hatten diese Augen Jakob angefleht, um Rettung und dann um Erlösung. Bis Tristans Herz zu schlagen aufhörte, seine Augen flach und tot und leer.

Seither trug Jakob diesen Blick in sich. Wann immer er sich im Spiegel, einer Fensterscheibe entdeckte, starrte ihn sein Doppelgänger mit Tristans Augen an. Er wusste nicht, wie er Grischa jemals wieder offen ins Gesicht sehen konnte, wie Elli oder Aurora oder Judith.

Oder Cathrin.

Manchmal wünschte er sich, er wäre dort geblieben, auf den wild wuchernden Gottesäckern in Frankreich. Nicht weil er tot sein wollte. Sondern weil er dann seinen Frieden gefunden hätte.

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