3
Zügig rollte der Wagen durch das Häusermeer, und doch nicht schnell genug für Cathrin. Erst als der Mastenwald des Hafens an ihr vorüberzog, konnte sie wieder frei atmen.
Dich hätte es sowieso nie geben dürfen, hatte Jette ihr einmal vorgeworfen, als Cathrin noch klein gewesen war, reinste Säure unter zuckersüßem Tonfall. Du hättest Mama bei der Geburt umbringen können, das habe ich genau gehört. Deshalb wollten sie dich nicht haben.
Tief verletzt hatte Cathrin sich auf ihre viel ältere, viel größere Schwester gestürzt und nicht einmal von ihr abgelassen, als diese vor Schmerz heulte. Die ausgerissenen goldblonden Haare zwischen Cathrins Fingern eine Trophäe, für die sie Schelte und Strafe fast stolz in Kauf nahm.
Nur Katya und Thilo zuliebe war sie in ihr Elternhaus zurückgekehrt. Der Versuch, jetzt, im Erwachsenenalter, doch noch in diese Familie hineinzuwachsen, der sie entsprungen war. Aber offenbar war dafür bereits viel zu viel Wasser die Elbe hinabgeflossen.
Wäre es nach ihr gegangen, wäre sie längst ausgezogen, in eine kleine Wohnung, ein möbliertes Zimmer. Aber jeder Vermieter, bei dem sie vorstellig geworden war, jede Hauswirtin hatte das schriftliche Einverständnis ihres Vaters verlangt, und das gab er ihr nicht. Hilfesuchend hatte sie sich an Thilo gewandt, auf dem Papier war schließlich ein Herr Petersen so gut wie der andere. Doch auch er hatte ihr ein solches Dokument nicht unterschrieben, dafür war er zu korrekt gewesen.
Hinter den herrschaftlichen Villen der Elbchaussee schob Cathrin das Wagenfenster auf und ließ den Wind und den Geruch des Wassers herein. Der starke Dunst von Landwirtschaft hing in der Luft, nach Schweinen, Kühen und Schafen und frisch aufgebrochenen Äckern, der süße Duft der Obstblüte. Mit nassen Augen blinzelte Cathrin in das Wechselspiel von Sonnenstrahlen und Schattenflecken der Bäume hinauf, die hier noch urwüchsig und ursprünglich waren.
Thilo hatte sie immer darin bestärkt, dass sie alles erreichen konnte, was sie wollte. Ohne ihn würde sie vielleicht ihre Träume begraben müssen.
Wie eine sonnengebleichte Schneckenschale lag das Haus zwischen alten Bäumen. Jan, der Stallbursche, lief herbei, um zusammen mit Kutscher Hans die Pferde zu versorgen. Trude erschien in der Tür, um Cathrin an ihren ausladenden Busen zu drücken.
»Sag Frau Katya Bescheid«, rief Trude über ihre Schulter. »Unsere Deern ist zu Hause.«
Griet, ein halbwüchsiges Mädchen mit nussbraunen Zöpfen, deutete einen Knicks an und eilte die Stufen hinauf. Zusammen mit dem Stallburschen war sie die Jüngste in einer ganzen Reihe von Mädchen und Jungen, die über die Jahre hier zum ersten Mal ein sicheres Nest erlebt hatten. Auch die beiden Kinder von Trude hatten einmal dazugehört; mit ihnen zusammen war Trude hierhergekommen, auf der Flucht vor ihrem prügelnden Ehemann, und dann geblieben.
Bestürzt blickte Cathrin auf die gepackte Reisetasche, die Griet am Fuß der Treppe abgestellt hatte. Katyas Tasche, abgegriffen und blank gewetzt von unzähligen Meilen im Pferdewagen und auf See. Einen mitfühlenden Zug auf dem gütigen Gesicht und die Augen feucht, strich Trude Cathrin über die Wange, bevor sie Kutscher Hans für eine Erfrischung und einen kleinen Schnack in die Küche lotste.
Cathrin ließ sich durch die Räume treiben, in denen sie groß geworden war. Die abgelegte Sommerresidenz eines Tuchfabrikanten, wie aus Licht und Luft erbaut. Anders als die protzige Villa in Hamm mit ihren schweren Teppichen und Vorhängen, bis in den letzten Winkel vollgestopft mit teurem Mobiliar und Nippes. In der es für Cathrin niemals wirklich einen Platz gegeben hatte, nicht zwischen Marie, der man alle Freiheiten einer Närrin schenkte, und Jette, der geborenen Bienenkönigin.
Cathrins Zuhause war hier, wo ihre neugierigen Kinderhände alles hatten anfassen dürfen, auch die Kostbarkeiten, die Katya und Thilo auf ihren Reisen gesammelt hatten.
Ihr Blick fiel auf die indische Schale, von Katya besonders in Ehren gehalten. Wehmütig zeichnete Cathrin die Narben im Porzellan nach. Immer schon war sie von den Fugen fasziniert gewesen, die die Bruchstücke zusammenhielten, und von den Goldtropfen, die verloren gegangene Splitter ersetzten. Ein Versprechen, dass sich alles heilen ließ, das hatte Cathrin verstanden, noch ehe sie solche Gedanken in Worte fassen konnte.
Dieses Mal würde es nicht so sein.
Bis in den letzten Winkel durchdrang Thilos Gegenwart das Haus. Als ob er im Sessel sitzen würde, sobald sie sich umdrehte, eine Zeitung auf den übereinandergeschlagenen Beinen, eine Tasse Tee neben sich. Oder drüben im Arbeitszimmer an seinem Schreibtisch, unter dem die kleine Cathrin so oft gespielt hatte und wo sie dann auf seinen Schoß geklettert war, um sich von seinen Kalkulationen erzählen zu lassen, die ihr genauso bunt und spannend vorgekommen waren wie Katyas Märchen.
Die Leere, die sie stattdessen vorfand, war ein Kahlschlag in der Seele. Kein Wunder, dass Katya dem entfliehen wollte.
Cathrin trat durch die verglaste Tür ins Freie. Nicht in eine dieser aufgeräumten Parklandschaften mit ausgezirkelten Blumenrabatten, mit denen die Bürger der Hansestadt Geld und Geschmack demonstrierten. Dies war ein Garten Eden, in dem Hennen frei herumscharrten und zufrieden glucksten. Wo alles saftig wuchs und dazu einlud, daran zu schnuppern oder davon zu kosten, bevor es im Haus auf den Tisch kam. Sogar die Rosen des Sommers waren Bauernsorten, deren sonnenpralle Hagebutten die Speisekammer über den Winter mit Marmelade füllten.
Ein Paradies für ein Kind wie Cathrin, das es liebte, zwischen den Fingern Löwenmäulchen auf- und zuschnappen zu lassen, mit Butterblumen, Klee und Gänseblümchen ein Bankett für ein Feenvolk auszurichten und Schmetterlingen nachzuspringen.
Auch in diesem Frühling stand der alte Apfelbaum wieder in voller Blüte, eine irdische Wolke aus Duft und Bienengesumm. Eine von Cathrins frühesten Erinnerungen lag unter diesem Baum: In einem kurzen Spielkleid hatte sie auf der Erde gesessen, das Gras an ihren nackten Beinchen genauso herrlich wie die saftigen Apfelschnitze, die Katya ihr einen nach dem anderen reichte. Und als Thilo sie dann auf seine Schultern gehoben hatte, war sie der Sonne so nahe gewesen, dass sie vor lauter Glück kiekste, Thilos Lachen warm in ihrem Bauch vibrierend.
Cathrin legte den Kopf in den Nacken. Das Baumhaus war noch da. Eigentlich eine stabile Gemüsekiste aus dem Gemischtwarenladen, eine Wand herausgetrennt und dann von Thilo zwischen die stärksten Äste montiert. Ein Krähennest, von dem aus Cathrin ihre Blicke bis auf die Elbe und die Schiffe hatte schweifen lassen. Ihr Lieblingsplatz, um zu lesen oder einfach die Beine baumeln zu lassen und von Abenteuern in fernen Ländern zu träumen, von denen sie mit Schätzen wie denen aus Ali Babas Höhle zurückkehrte und aus Petersen & Voronin ein weltumspannendes Imperium machte, in dem es alles zu kaufen gab, was das Herz begehrte.
Cathrin versetzte der Schaukel unter dem Apfelbaum einen Stoß, das abgeschürfte Holz, das leere Pendeln wie ein Sinnbild für Vergänglichkeit. Ein Nimmermehr, das nicht zu ertragen war.
Schritte näherten sich, raschelnd im Gras, und einige Herzschläge lang klammerte Cathrin sich an die wahnwitzige Hoffnung, alles könnte nur ein Irrtum gewesen sein. Ein böser Traum, aus dem Thilo sie herausholte, indem er sie an sich drückte und versprach, dass er noch viele Jahre vor sich haben würde.
Doch es war Katya, die in ihrer Witwentracht durch den Garten auf sie zukam. Jeglicher Vorsatz, angesichts von Katyas eigenem Schmerz tapfer zu sein, zerstob, und an Katyas Schulter ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Geborgen in gemurmelten Zärtlichkeiten wie damals, wenn sie sich die Knie aufgeschlagen hatte oder im Streit mit sich selbst und der ganzen Welt lag, das Russische wie Cathrins eigentliche Muttersprache, weil es Katyas Sprache war.
Die Gesichter im Wind, schlenderten sie am Elbufer entlang, ihre Fußabdrücke im weichen Grund nie weit voneinander entfernt und bald schon wieder unsichtbar. Ausgelöscht von den Rinnsalen, die das Wasser durch den Sand zog, fein verzweigte und endlose Labyrinthe, glänzend und glimmernd wie fließendes Metall.
Unwillkürlich hielt Cathrin nach besonderen Steinchen Ausschau, nach Meerglas und den geriffelten Muscheln mit der leuchtend fliederfarbenen Innenschale. Obwohl sie doch wusste, dass sie an Land schnell ihren Glanz verloren, ihre Farbigkeit.
Genauso waren sie hier an jenem Tag spazieren gewesen, von dem sie nicht hatten wissen können, dass es der letzte sein würde. Katya und Marie hatten die Vögel am Strand beobachtet, während Thilo und Cathrin über das Leben im Allgemeinen und Geschäfte im Besonderen sprachen.
Sie musterte ihre Tante, die wie so oft keinen Hut, keine Handschuhe trug. Das nachtschwarze Haar war zu einem schlichten Knoten geschlungen, die weißen Strähnen darin wie die Fehlfarbe im Gefieder eines Raben. Erstaunlich gefasst wirkte sie, aber Katya kehrte ihr Innerstes selten nach außen. Im feinen porzellanhellen Gesicht, von der Zeit nahezu unberührt geblieben, erzählten jedoch die Schatten unter den frostblauen Augen von Kummer und unruhigen Nächten, eine Spur von Erde unter den Fingernägeln davon, wie tief sie im Garten gegraben hatte, um Halt zu finden.
Cathrin kannte niemanden, der stärker und unabhängiger war. Undenkbar, dass eine Hamburger Bürgersfrau ohne männliche Begleitung auf einen Kaffee, einen Tee ausging. Katya tat es, und niemand wagte es, ihr einen Platz allein am Tisch zu verwehren. Und genauso selbstverständlich hatte Katya sich zwar zuerst zurückgezogen, wie man es von einer Witwe erwartete, aber bereits wieder ihre Tasche gepackt.
»Wohin fährst du?«, fragte Cathrin.
»Nach Tromsø.«
Cathrin hatte die unbeschwerten Spätsommer dort nicht vergessen. Wo sie frei über die Wiesen und Hügel gerannt war, so weit ihre Beine sie trugen, unter einem Himmel, der so viel höher und weiter war als hier, und wann immer sie ins Gästehaus zurückkehrte, hatte sie sowohl den Bauch als auch ihren geschürzten Rock voller Multbeeren gehabt. Mit Magnus, mehr ein großer Bruder denn ein entfernter Cousin, war sie auf das Meer hinausgesegelt, um Wale zu sehen und nicht nur zu lernen, wie man angelte, sondern hinterher auch die Fische auszunehmen.
Bis heute war Weihnachten erst dann vollkommen, wenn Silja Guðmundsdóttir, auf zweckmäßig liebevolle Art wie eine echte Großmutter für Cathrin, ein Paket mit Marmeladegläsern schickte, mit einer Trachtenbluse oder etwas Selbstgestricktem, norwegisches Lakritz und pepperkaker, die viel besser schmeckten als deutsche Pfefferkuchen, mit dem Salz des Meeres und klarer Bergluft gewürzt.
Wo sonst ließe sich jetzt Frieden und Heilung finden, wenn nicht in dem Gästehaus mit Blick auf den Sund. In dieser beschaulichen kleinen Welt für sich, hinter Bergen und Fjorden versteckt, in der die Zeit zwar nicht stehen geblieben war, aber gemächlicher verstrich.
»Nimm mich mit.«
Katya zögerte. »Ein anderes Mal. Ich muss jetzt ein wenig klein und schwach sein, weißt du. Und das kann ich nicht, wenn du bei mir bist.«
Vierundfünfzig war sie mittlerweile, und schien sich doch wie ein Kind nach dem Trost zu sehnen, den nur eine Mutter geben konnte.
Cathrin nickte, das verstand sie. Wie sie es immer verstanden hatte, wenn Katya Nein sagte.
Für Cathrin hatte es nie Zweifel gegeben, wer ihre leiblichen Eltern waren. Und trotzdem hatte sie sich früher ausgemalt, Katya wäre ihre wirkliche Mutter, Thilo ihr richtiger Vater, sie war ihm ja wie aus dem Gesicht geschnitten. Tagträume, in denen Henny eine böse Fee war, die Katya das Kind mit dem Silberhaar neidete. Mit wohligem Schaudern hatte sie diese Geschichten weitergesponnen, ungeachtet aller Lücken, Widersprüche und Sackgassen, bis der logische Verstand schließlich ihre kindliche Fantasie einholte.
Geblieben war jedoch das Gefühl, niemandem auf der Welt näher zu sein als Katya und Thilo. Daraus schöpfte sie jetzt Mut.
»Warum sagt mir niemand, wie er gestorben ist?«
Katya blinzelte auf das Sonnenfunkeln der Wellen hinaus. Wie am Meer war es hier, wo die kleine Flottbek sich in der mächtigen Elbe verlor. In der offenen Weite schienen die Inseln von Finkenwerder und Waltershof ferner, als sie tatsächlich waren, und im Spiel der Gezeiten und des Windes wirkte jedes vorbeiziehende Schiff wie ein Gruß der weiten Welt.
Städter verbrachten hier ihre Sonntage und die Sommerfrische, auf der Suche nach luftiger Idylle. Die überwiegende Zeit jedoch gehörte die Gegend den Fischern und Bauern in den reetgedeckten Backsteinkaten. Den Möwen und Raben, Gänsen und Enten, den Libellen und Schmetterlingen, die sich auf bemoosten Steinen sonnten.
Deshalb hatten Katya und Thilo sich hier niedergelassen, an diesem grünen Rand der Welt. Um wieder Luft holen zu können nach atemlosen Jahren. Damit Ebbe und Flut das forttrugen, was gewesen war.
Nur wenn Nebel heraufzog oder Sturmwolken alles an Licht, an Farbe schluckten, wurde Teufelsbrück seinem Namen gerecht. Ein Schauplatz für Schauermärchen von Geisterschiffen und unheimlichen Wasserwesen, Irrlichtern und verlorenen Seelen, heraufbeschworen von den orakelhaften Rufen der Vögel.
Von einem Aufblitzen auf dem Wasser geblendet, schloss Katya die Augen. Als ob sie jemals hätten vergessen können, dass die Dunkelheit, die sie zu bannen suchten, nie weit entfernt war.
Auf ihrer Wange haftete noch immer ein Hauch von Thilos letztem Kuss. Sie hatte nicht gefragt, wohin er ging, er hatte nichts gesagt. Eine Freiheit, die sie einander in ihrer Ehe geschenkt hatten, jahrzehntelang.
Unmöglich war es, ihn sich als Jäger vorzustellen, der auf der Suche nach leichter Beute durch die Gassen strich. Er war jemand gewesen, der sich in den Schatten hielt, scheu und fast schamhaft. In der bangen Hoffnung auf ein Paar Augen, das seine geheime Sehnsucht widerspiegelte. Auf eine Männerhand, die seine ergriff und ihn mit sich fortzog, um das gegenseitige Begehren zu stillen.
Vielleicht irrte sie auch, und es waren noblere Beweggründe, die ihn in die Neustadt gezogen hatten.
Ein Missverständnis mochte es gewesen sein, das ihn das Leben gekostet hatte. Ein falsches Wort, eine fehlgedeutete Geste, ein plötzlich und unerwartet heftig aufgeflammter Streit. Lust an der Gewalt, Habgier oder schlicht Neid; die Taschen seines teuren Anzugs waren leer gewesen, die Uhr an der Kette abgerissen. Eine blinde und mörderische Wut, gegen die Thilo sich nicht hatte wehren können. Ein Hüne von einem Mann war er gewesen, aber eben schon zweiundsechzig Jahre alt und mit einer empfindsamen Seele.
Das war das Schlimmste. Sich Thilo hilflos und unter Qualen vorzustellen. Die Faustschläge und Tritte, die seine Knochen zersplitterten und Blutgefäße zerrissen, und jenen einen Augenblick, in dem er wusste, dass er nicht mehr lebend davonkommen würde.
Zärtlich strich sie Cathrin über den Kopf.
»Sein Herz war es«, sagte Katya leise, die Stimme brüchig. »Sein großes und immer viel zu weiches Herz.«
Jede Wahrheit hatte ihre Grenzen. Besonders eine Wahrheit, die mehr Fragen aufwarf, als sie beantwortete. Die ohne Gerechtigkeit bleiben würde, ohne Sühne und deshalb keinen Frieden brachte.
Schutzsuchend schmiegte Cathrin sich an Katya. Wie damals, als Christian sie zu ihr gebracht hatte, ihr heller Haarschopf in der Sonne leuchtend wie eine Pusteblume.
Obwohl Katya nie ein Kind in sich getragen, nie eines geboren hatte, war eine Mutter aus ihr geworden. Für Marie, zu Anfang, und für Betje. Für die Mädchen und Jungen, die sie und Thilo bei sich aufgenommen hatten; struppige Nestlinge, ausgehungert im Leib wie in der Seele. Als starke Jungvögel mit glänzendem Gefieder zogen sie wieder in die Welt hinaus, um ein Handwerk zu erlernen oder ein Geschäft zu gründen, selbst Vater oder Mutter zu werden.
Mit Cathrin war es etwas Besonderes gewesen, vom ersten Tag an. Als ob mit ihr wirklich und wahrhaftig ein Teil von Thilo in Katya herangewachsen und gereift wäre. Ein gegenseitiges Erkennen und Verstehen, schon als sie einander zum ersten Mal ins Gesicht geblickt hatten, Cathrin kaum ein paar Stunden alt.
In einstimmigem Schweigen lenkten sie ihre Schritte vom Wasser weg, durch den wilden Rhabarber, dessen weiße Blüten gerade aufbrachen.
»Wie ist es zu Hause?«, erkundigte sich Katya.
Etliche Herzschläge lang war nur das Rauschen der Wellen und der Bäume zu hören.
»Wir haben gestritten«, erzählte Cathrin schließlich widerstrebend. »Wegen der Firma. Vater und Ludger stören sich daran, dass du jetzt Thilos Anteile hältst. Beide sind davon überzeugt, sie hätten eher Anspruch darauf gehabt.«
Ihre Wangen wurden heiß, als sie an ihre eigene Rolle in dieser Auseinandersetzung dachte. Aber wem konnte sie sich sonst anvertrauen, wenn nicht Katya?
»Ich bin um kein Haar besser, genauso ein Aasgeier«, sprudelte sie hervor. »Ich hätte die Anteile genauso sehr gewollt! Ich bin immer davon ausgegangen, dass Thilo sie eines Tages mir überlassen würde.«
Katya nickte. »Er hat auch daran gedacht, sie dir zu vermachen, wir haben oft darüber gesprochen. Aber was glaubst du, was dann erst los gewesen wäre?«
Ein Funke glomm zwischen ihnen auf, von wissender Ironie und fast spitzbübischer Heiterkeit.
Katya fragte sich, ob irgendjemand sonst wahrnahm, wie viel von Christian in Cathrin durchschien, in ihrer Gestik und Mimik, ihrem Wesen.
Als ob sie Einblicke in Christians Kindheit erhielt, so war es gewesen, Cathrin aufwachsen zu sehen, wie sie mit ausgestreckten Händen durch ihre kleine Welt rannte. Durstig nach immer neuen Sinneseindrücken, dem Nervenkitzel eines Abenteuers. Berstend vor einer unbändigen Energie, die genauso viel Freiheit brauchte wie einen sicheren Halt. Etwas, das Christian als kleinem Jungen nicht vergönnt gewesen war, nicht in jener Zeit von Krieg und Not.
Gedankenversunken griff Katya in die Reben des wilden Hopfens, der entlang des Pfads wucherte.
Ein unentwirrbares Dickicht aus Schuld und Wiedergutmachung verband sie mit Christian. Es mit Stumpf und Stiel auszureißen war aussichtslos gewesen, und sobald man den überschießenden Trieben zu Leibe rückte, schlugen auch schon neue aus, mit aller starrsinniger Kraft. Seiner Tochter Wurzeln zu schenken, ohne ihre Flügel zu beschneiden, hatte Katya nicht mit Christian ausgesöhnt. Aber es hatte dieses Dickicht ausgedünnt und bei Katya keinen anderen Nachgeschmack hinterlassen als den von jungen Hopfensprossen, herb und nur leicht bitter.
»Hab etwas Geduld«, bat Katya jetzt, wider besseres Wissen.
»Ich bin fünfundzwanzig«, rief Cathrin aus und zerrte an den Hopfenranken. »Ein Vierteljahrhundert! Und ich habe noch nicht einmal einen Fuß in der Tür.«
»Wir haben die Firma auch nicht an einem Tag gegründet«, mahnte Katya sanft. »Es hat Jahre gedauert, sie zu dem zu machen, was sie heute ist. Für so ein Geschäft braucht man einen langen Atem.«
»Dann gibt es doch erst recht keine Zeit zu verlieren«, erwiderte Cathrin leidenschaftlich. »Lasst es mich doch einfach versuchen. Ich weiß, dass ich es kann!«
Bislang hatten Katya und Thilo die Wünsche Christians für Cathrins Zukunft respektiert, ob es um den Aufenthalt in einem Pensionat für höhere Töchter gegangen war oder um die Rückkehr in ihr Elternhaus. Vor allem Thilo, von jeher harmoniebedürftig und kompromissbereit, war viel an einem guten Verhältnis zu seinem Bruder gelegen. Obwohl auch er es als eine Verschwendung betrachtet hatte, Cathrin nicht in das Unternehmen zu holen.
Auf die Zeit hatte er gesetzt. Nicht ahnend, dass ihm keine mehr bleiben würde.
»Kann ich dich um einen Gefallen bitten?«, fragte Katya.
Cathrin sah sie aufmerksam an.
»Würdest du mich im Kontor vertreten, während ich fort bin? Und auch hier nach dem Rechten sehen? Um diese Jahreszeit gibt es in Haus und Garten viel zu tun, Trude ist bestimmt froh, wenn du sie unterstützt. Wahrscheinlich ist es besser, du bleibst gleich für ein paar Tage. Falls nötig, auch länger.«
Ein Aufzucken in der Brust, starrte Cathrin auf den Schlüsselbund in Katyas Hand. Die Schlüssel zu all dem, was sie sich so lange ersehnt hatte.
Der Jubelruf blieb in ihrer Kehle stecken, als sie Katya um den Hals fiel und spürte, wie mager diese geworden war, in kürzester Zeit.
Ihr Blick traf sich mit dem eines Rotkehlchens, im Unterholz eine Erscheinung wie aus Nebel und Feuerglut. Der Tröster der Sterbenden, hatte Trude gesagt, und ihr Begleiter in die andere Welt. Der oft noch einmal zurückkehrte, um den Lebenden einen Gruß zu überbringen.
»Ich werde dich nicht enttäuschen«, flüsterte Cathrin.