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Der weiche Regen wusch an diesem Nachmittag die Herbstfarben des Oktobers aus. Eine behagliche Stille lag über dem Haus in Teufelsbrück, während Katya Briefe schrieb. Marie saß mit am Tisch und malte die bunten Blätter ab, die Muscheln und Steine und Stücke von Treibholz, die sie in den letzten Tagen auf ihren Spaziergängen am Wasser und durch die Wälder gesammelt hatte.

Auf dem Papier erinnerten die Blattadern an ein Flussdelta oder an bewässerte Reisfelder. Jede Riffelung, jede Wölbung glich einer Landschaft aus Bergen und Tälern und weiten Wäldern.

Die Karte eines noch unbekannten Kontinents.

»Mama ist tot«, sagte Marie unvermittelt in das Knistern des Kaminfeuers hinein.

Als müsste sie es erst noch begreifen, so viele Wochen nach Hennys Beerdigung auf dem Kirchhof zur Dreifaltigkeit in Hamm.

Katyas Brust zog sich zusammen. »Ja, Marie.«

Die Miene ernsthaft und fast schon täuschend gleichgültig, nahm Marie mit dem Pinsel frische Farbe auf und verlieh einem Schatten auf dem Blatt Papier vor sich mehr Tiefe.

»Papa ist fort«, setzte sie nach einiger Zeit neu an.

»Er kommt aber wieder.«

Marie nickte. Ihr Vertrauen darauf, dass man ihr stets die Wahrheit sagte, war grenzenlos.

»Gehst du auch fort?«, wollte sie nach einer Weile wissen.

»So bald nicht.«

Solange Christian mit Jakob in Norwegen blieb, war Katyas Platz hier bei Marie. Grischa würde derjenige sein, der diesen Winter ins Eis fuhr, während die Verantwortung für das Unternehmen hauptsächlich auf den Schultern von Ludger und Cathrin lag.

Geradezu verbissen hatte Cathrin sich wieder in die Arbeit gestürzt. Katya ahnte, dass der Grund dafür nicht allein in der Trauer um Henny zu suchen war. Ihr blutete das Herz, wenn sie an Jakob und Cathrin dachte. An die Verluste und Wunden, die einen Graben zwischen ihnen gesprengt hatte, der unüberwindlich schien.

Maries Pinselschwünge verlangsamten sich und kamen dann zum Stillstand.

»Wie ist es dort draußen? In der Welt?«

Katya überlegte kurz. »Laut ist es dort, Marie. Sehr laut. Und voller Menschen.«

Die Brauen zusammengezogen, widmete Marie sich wieder Pinsel und Farbe. Wenn auch nicht lange.

»Aber wie ist es dort?«, beharrte sie.

Katya legte den Füllfederhalter ab und stand auf, um den Atlas zu holen. Bereitwillig schob Marie das Aquarell zur Seite.

Anfangs versuchte sie noch, Katyas Schilderungen in Bildern auf ihrem Skizzenblock festzuhalten. Bis sie an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft kam und einfach nur zuhörte, den Bleistift unaufhörlich zwischen den Fingern drehend, angespannt und aufgeregt.

Auf leisen Sohlen kam Griet herein und stellte das Tablett mit Tee und Gebäck auf den Tisch.

Mehr als ihr halbes Leben hatte Griet hier in Teufelsbrück verbracht. Mit neun Jahren war sie hierhergekommen, ein Streunerkind, das Katya und Thilo im Gängeviertel aufgelesen hatten, so dürr, dass die Schulterblätter unter dem schmutzstarrenden Kleidchen hervorstachen wie gekappte Engelsflügel. Die Fragen, wo sie wohnte, wo ihre Eltern oder ihre Geschwister zu finden waren, hatte sie nur mit einem Kopfschütteln beantwortet. Ein verblassender Bluterguss auf ihrem Jochbein und verschorfte Stellen im Gesicht hatten eine eigene Geschichte erzählt.

Neunzehn Jahre alt war Griet jetzt, die nussbraunen Zöpfe inzwischen hochgesteckt. Bislang hatte sie nicht den Wunsch geäußert, sich eine andere Stellung zu suchen oder mit ihrem Ersparten etwas Eigenes aufzubauen. Katya wusste auch nicht, ob es in ihrem Leben einen jungen Mann gab; ihre freien Tage schien Griet am liebsten mit langen Spaziergängen oder einem Buch zu verbringen. Still und augenscheinlich zufrieden ging sie ihrer Arbeit im Haus nach, gewissenhaft und flink.

Jetzt jedoch füllte sie wesentlich langsamer als gewöhnlich die Tassen und stellte sie vor Katya und Marie. Fast so, als wollte sie jeden Augenblick ins Unendliche ausdehnen.

Katya fühlte sich an damals erinnert, als sie zwölf Jahre alt gewesen war und im Haus von Silja Guðmundsdóttir beim Staubwischen in einem Buch geblättert hatte. Ein reißendes Sehnen zwischen den Rippen, den schwarzen Zeichen auf den Seiten ihre Bedeutung abzuringen, einen Sinn.

»Möchtest du dir auch eine Tasse holen und dich zu uns setzen?«, schlug Katya vor.

Griets Wangen färbten sich. »Ich muss noch das Silber polieren, Frau Katya.«

»Das wird später auch noch da sein.«

Griet war sichtlich hin und her gerissen.

»Ja, Griet«, äußerte sich nun auch Marie.

Die beiden kamen gut miteinander aus. Griets stille und unaufgeregte Art war wie Balsam für Marie, und dazu schien das junge Mädchen noch ein instinktives Gespür für Maries Eigenarten zu besitzen.

Griet versicherte sich mit einem erneuten Blick auf Katya, dass wirklich nichts dagegensprach, bevor sie mit einem scheuen Lächeln zum Geschirrschrank eilte und sich dann neben Marie niederließ.

Die Augen der beiden leuchteten um die Wette, während Katya von den Weiten Kareliens erzählte, wo die Wölfe in den Wäldern heulten und Bären durch das Uferschilf streiften. Von der abweisenden Leere Grönlands und den Bauern und Tuchwebern im saftig grünen Hinterland von Madras mit seinen staubigen Straßen, von London und Paris.

Katya staunte selbst darüber, wie weit sie es gebracht hatte, nicht nur in Meilen gemessen. Das kleine russische Bauernmädchen in den löchrigen Strohpantinen, das auf dem Gehöft die Hennen versorgte und die Gänse hütete, für den Vater und die Brüder Brot buk und Gurken einsalzte.

Ein Leben, das den halben Erdball umspannte und eine Fülle an Erinnerungen aufgehäuft hatte. Untrennbar damit verbunden waren die Lieben, die sie erlebt und verloren hatte. Christian. Johann Silberberg. Thilo. Pawel.

Natürlich dachte sie noch an Pawel, nicht nur, wenn sie Borschtsch kochte oder ihr Blick auf die kunstfertig gekittete indische Schale fiel. Wenn ein kieselharter polnischer Akzent irgendwo an ihr Ohr drang, rau wie Pawel es selbst gewesen war, und doch von einer ungeahnten Zärtlichkeit und Wärme.

Diesen Winter würde sie neunundfünfzig Jahre alt. Am Tisch mit Griet und Marie, beide auf ihre Art mädchenhaft, fragte Katya sich, ob sie noch einmal den Mut aufbringen könnte, ins Unbekannte aufzubrechen.

Ob es ihn irgendwo auch für sie gab, den neuen Horizont.

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