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Majestätisch lag sie an den Landungsbrücken vor Anker, die Eisbaronin. Lang und schlank mit ihren rund einhundertvierzig Metern vom Bug bis zum Heck und geradezu schnittig, trotz ihrer rund viertausend Tonnen. Verblüffend filigran mit ihren vier Masten, dem Gespinst aus Leinen und Tauen und noch eingerollten Segeln.

Auf dem Kai drängten sich Schaulustige zusammen, um den Dampfer zu bestaunen, von dem man ja schon einiges gehört hatte. Aus der Zeitung, im Klönschnack mit den Nachbarn und auf dem Markt, oder weil man jemanden am Stammtisch hatte, der auf der Werft oder im Hafen arbeitete. Sicher hatten manche auch die Prospekte gesehen, die in weiten Teilen der Stadt auslagen, die Plakate in den Schaufenstern und an Litfaßsäulen. Vielleicht waren es gerade diese Zuschauer, die so neidvoll zu den Passagieren hinüberschielten, die bereits eine Runde über das Deck drehten, während die Besatzung die letzten Handgriffe vor dem Auslaufen vornahm.

Auch einige Angestellte von Petersen & Voronin hatten sich eingefunden, allen voran Cornelius Overbeck und Margarete Paal, um »ihren« Dampfer auf dem Wasser zu sehen und ihren Familien und Freunden das große neue Projekt des Unternehmens zu zeigen.

Über den Köpfen der Menge schwebten bunte Farbtupfer. Luftballons, die Cathrin und Jakob aus London hatten kommen lassen und die im Augenblick der Abfahrt in die Luft steigen sollten. Eine Blaskapelle sorgte für schmissige Musik, und zwei Frauen in blauweiß gestreiften Röcken verteilten aus ihren Bauchläden Tütchen mit Bonbons und gebrannten Mandeln.

Ein mehr als großzügiges Budget hatten Cathrin und Jakob rund um diesen Tag eingeplant, aber gute Werbung kostete eben.

Mit großem Hallo und Glückwünschen wurden Katya und Cathrin am Kai von den Reintjes und den Kopstedes begrüßt, alle in ihren guten Anzügen oder im Sonntagskleid. Auf dem Arm ihrer Mutter tat Emma kieksend ihre Freude kund, gleich so viele vertraute Gesichter auf einmal zu sehen. Verlangend streckte sie die Hände nach ihren Spielkameraden aus, die auf den Hüften ihrer Mütter Famke und Finja saßen und Emma ähnlich verzückt begrüßten.

»Prächtig ist euer Dampfer geworden, Cathrin«, ließ Hanno sich vernehmen und strich sich vergnügt über den Bart. »Ganz prächtig.«

»Jakob hat uns vorhin herumgeführt«, warf Jordis ein. »Da kann man sich wirklich wohlfühlen, zehn Tage lang. Da hätt ich nichts dagegen, mal mit zu verreisen.«

Die halb schicksalsergebene, halb belustigte Miene Fietes verriet, dass er das heute nicht zum ersten Mal hörte, und genauso den Stolz, seinen Beitrag zu diesem Wunderwerk geleistet zu haben.

»Er sieht aus, als wäre er jede Mark wert«, stellte auch Betje fest, ein an Cathrin gerichtetes Zwinkern in den klarblauen Augen.

Hauke und Nils, mittlerweile fast schon junge Burschen, versuchten, sich gegenseitig damit zu übertrumpfen, was sie während der Besichtigung alles entdeckt und sich an Zahlen, Maßen und Fakten über den Dampfer gemerkt hatten.

»Ich glaube, du musst«, bemerkte Katya mit Blick auf die zunehmende Betriebsamkeit rings um das Schiff.

Cathrin nickte, sichtlich hin und her gerissen. Den Mund auf Emmas Wange, murmelte sie ihr Zärtlichkeiten zu, bevor sie sie widerstrebend Katya übergab.

»Gute Reise«, sagte Katya und drückte Cathrin mit einem Arm an sich. »Kommt gesund wieder.«

Mit einem tiefen Durchatmen, das zittrig ausfiel, straffte sich Cathrin und drehte sich auf dem Absatz um. Bei den ersten Schritten zog sie sich die Handschuhe über, die zum guten Ton gehörten, dann raffte sie den schmalen Rock und lief los.

In dem mit dicken Kordeln abgesperrten und von einem roten Läufer markierten Bereich unterhielten sich Grischa und Christian mit den geladenen Honoratioren und Persönlichkeiten der Stadt nebst Gattinnen oder Töchtern, Gläser mit Champagner in der Hand. Jakob war im Gespräch mit gleich mehreren Herren, die an ihren gezückten Bleistiften unschwer als Journalisten zu erkennen waren. Ludger, der ganz auf die Aufmerksamkeit der Presse setzte, hatte gründliche Arbeit geleistet; wie er sich in die Brust warf und mit großen Gesten auf den ohnehin nicht zu übersehenden Dampfer zeigte, erweckte den Eindruck, er hätte das Schiff eigenhändig geplant und gebaut.

Ein Lachen auf dem Gesicht, trat Cathrin hinzu, schüttelte ringsum Hände und stellte sich mit den anderen Eisbaronen und Ludger zu einem Erinnerungsfoto auf, bevor sie mit lebhafter Gestik Fragen der anwesenden Herren und Damen beantwortete.

»Sie macht das gut«, sagte Betje lächelnd.

Katya nickte. Man musste Cathrin schon sehr gut kennen, um ihre Aufregung zu bemerken. In ihrem Seidenkleid in Perlgrau, Bleu und Weiß, ein keckes Hütchen auf dem Kopf, wirkte sie für Außenstehende mit Sicherheit wie eine durch und durch selbstbewusste Geschäftsfrau, die über ihr Herzensprojekt sprach.

Eine Leidenschaft, die sie mit ihrem Mann teilte. Wer sie und Jakob zusammen sah, sie wie aus Glas und Stahl, er wie eine dunkle Eiche, in ihren unterschiedlichen Temperamenten einander ergänzend und befeuernd, der hegte keinen Zweifel daran, dass den Levgrüns die Zukunft gehörte.

Während Martin und Friedrich, die Schwiegersöhne der Reintjes und der Kopstedes, sich über die Eisbaronin im Besonderen und die Schifffahrt im Allgemeinen austauschten, berichteten Hanno und Betje die jüngsten Neuigkeiten aus Bombay.

Gerrits Geschäfte liefen gut, selbst in holprigen Zeiten wie diesen; Shilpas Chutneys waren weit über Hamburg hinaus gefragt, und den Musselin verkaufte er bis nach England und Frankreich. Im Herbst wollten Betje und Hanno mit Jordis und Fiete hinfahren, um sich von Henning durch die Universität führen zu lassen, und vor allem, um ihr jüngstes Enkelkind zu sehen. Stolz zeigte Hanno die sepiatonige Photographie, die Gerrit geschickt hatte; mit seinen sechs Monaten war der kleine Jasper Lisje wie aus dem Gesicht geschnitten.

Ein einsetzendes Dröhnen und Wummern rief ein Raunen unter den Schaulustigen hervor, den einen oder anderen Ausruf. Kaum merklich vibrierten die Masten des Schiffs, während rußiger Rauch aus den Schornsteinen quoll.

»Das dauert trotzdem noch«, verkündete Nils altklug. »Erst müssen sich die Maschinen warmlaufen.«

»Und wann werden die Segel gesetzt?«, fragte Levke.

Sie hatte sich bei einem noch milchgesichtigen jungen Mann untergehakt, der sich Katya als Philipp Strathoff vorgestellt hatte. Ein Ingenieur, der mit dem Ausbau der Hafenanlagen am Grasbrook betraut gewesen war und sich nach seinem Feierabend oft im Feinkostladen mit Lebensmitteln versorgt hatte; seit vier Wochen waren sie verlobt.

»Erst auf See«, erklärte Hauke fachmännisch. »Auf der Elbe lohnt das nicht.«

Clara wechselte einen heißblütigen Blick mit einem jungen Mann in der Menge; als ihre Augen auf Katyas trafen, errötete sie, erwiderte aber Katyas Lächeln. Wiebke, die dritte Tochter der Kopstedes, kicherte und erntete dafür einen verlegenen Ellbogenstoß Claras.

Ludger kam auf sie zu, Claudius und Richard im Schlepptau.

»Sind Jette und die Mädchen nicht mitgekommen?«, erkundigte sich Katya.

Ludger kratzte sich im Backenbart und murmelte etwas von Gästen und Tee im Garten.

Nachdem Cathrin sich seinerzeit so vehement dagegen gestemmt hatte, etwas vom Firmenvermögen in amerikanische Eisenbahnanleihen und Bauvorhaben in Wien zu stecken, hatte Ludger kurzerhand nicht nur sein eigenes Geld dafür verwendet, sondern auch ein Darlehen aufgenommen, und Jette hatte etwas von ihrem Erbe beigesteuert. Auch als die Kosten für den Bau und Unterhalt der Eisenbahnen sich in schwindelerregende Höhen schraubten, der Wert der Aktien aber nicht mitzog und die Kredite dafür zu wackeln begannen, hatte Ludger daran festgehalten. Mit dem Gründerkrach im vergangenen Jahr hatten sich diese Investitionen in Luft aufgelöst.

Ludger selbst trug es mit erstaunlicher Fassung. Sein Posten bei Petersen & Voronin sicherte ihm ein respektables Einkommen, und mit dem Verkauf der Familienvilla konnte er seine Schulden fast vollständig tilgen. Nur Jette litt sehr darunter; nicht einmal die elterliche Villa in Hamm, die Christian ihnen überlassen hatte, konnte sie darüber hinwegtrösten.

»Wir müssen auch«, brummte Ludger vor sich hin. »Leider.«

»Grüß sie lieb von mir«, sagte Katya. »Ich komme nächste Woche einmal bei Jette vorbei.«

Ludger nickte und schickte einen Abschiedsgruß in die Runde, bevor er Claudius an der Schulter stupste. Mit langen Gesichtern trotteten seine Söhne hinter ihm her und blickten sich immer wieder um, sie wären gern noch geblieben.

Auch Christian schien sich nur schwer vom Schiff lösen zu können und noch weniger von Jakob und Cathrin. Von Jakob verabschiedete er sich mit einem kräftigen Handschlag und Schulterklopfen, bevor er Cathrin lange umarmte. Doch schließlich schlenderte er durch die Menge auf dem Kai, einen versonnenen Ausdruck auf dem Gesicht.

Seine scharfen Züge wurden weich, als sein Blick auf Katya und Emma fiel. Er streichelte seiner Enkeltochter über den Kopf, legte dann den Arm um Katya und zog sie an sich.

»Wir haben uns eine Hälfte der Welt erobert«, sagte sie leise. »Jetzt strecken die beiden die Hand nach der anderen aus.«

Christian nickte. »Ja, das tun sie. Und das wird ihnen auch gelingen.«

»Stolz?«, fragte Katya.

»Sehr«, erwiderte er hörbar bewegt.

Suchend schweifte sein Blick umher und blieb schließlich auf Marie liegen.

Abseits der Menge hatte sie ihren Arm in Griets geschoben, und Griets entschlossener Blick verriet, dass sie jeden zu rüffeln gedachte, der ihnen achtlos zu nahe kommen und Marie damit in Bedrängnis bringen würde.

Katya wusste, dass es für Christian nach so langen, schwierigen und oft bangen Jahren befremdlich war, Marie auf eigenen Füßen stehen zu sehen. Vierzig Jahre alt war sie jetzt, eine auf anmutige Art gereifte Fee. Für die Bilder, die sie in ihrer hellen Wohnung am Neuen Wall schuf, Käufer zu finden war das einzige Geschäft, in dem Christian sich noch betätigte.

»Ich weiß, du machst dir Sorgen«, sagte Katya. »Aber schau sie dir nur an.«

Beide, Marie und Griet, beobachteten die Möwen, die in einem dichten Wirbel über den Landungsbrücken aufflogen und dann weiter über den Himmel zogen. Das Leuchten auf Maries Gesicht gab nicht nur ihr Glück in diesem Augenblick wieder; es erzählte auch von der tiefen Zuneigung und Nähe, die zwischen ihr und Griet gewachsen war.

»Nicht jede Frau braucht einen Mann, um glücklich zu sein«, fügte Katya neckend hinzu.

Lachend legte Christian auch den anderen Arm um sie.

Lange sahen sie sich in die Augen, in einem Moment, der keine Worte brauchte. Emma zwischen sich, in deren Adern durch Christian auch ein paar Tropfen von Thilos Blut flossen, genau wie sich darunter auch durch Grischa etwas von Katyas Blut mischte. Dieses Kind, das aus der Vergangenheit der Eisbarone geboren worden war und gerade in einem immerwährenden Jetzt lebte, aber eines Tages die ersten Schritte in seine eigene Zukunft machen würde.

Dieser Moment zerstob, als sich das Dröhnen der Schiffsmaschinen zu einem ohrenbetäubenden Lärm steigerte. Vorfreudige Erregung brandete durch die Menge am Kai, und mit einem hallenden Brüllen des Horns legte die Eisbaronin ab.

Jubelnd spurteten Hauke und Nils los, wie auch andere Halbwüchsige und Kinder im Zickzack zwischen den Schaulustigen hindurchfegten, um ganz nahe dabei zu sein, wenn der Ozeandampfer ins Fahrwasser der Elbe steuerte. Aus Leibeskräften rannten sie dann den Kai entlang, vielleicht, um dem Schiff Geleit zu geben, vielleicht auch schlicht, um ihre Kraft und Ausdauer mit dem Dampfer zu messen und abends zu Haus dann damit zu prahlen.

»Schau, Emma«, sprach Katya die Kleine auf ihrem Arm an. »Schau, da fahren deine Mama und dein Papa nach Amerika.«

Emma blickte ratlos drein. Das sich entfernende Schiff, dessen Deck dunkel war vor Passagieren, die einen letzten Blick auf Hamburg werfen wollten und das Winken der Zuschauer auf dem Kai erwiderten, konnte sie noch nicht mit ihren Eltern in Verbindung bringen.

Halbherzig wedelte sie mit einer Hand, dann nahmen die aufsteigenden Ballons ihre ganze Aufmerksamkeit gefangen. Den Kopf in den Nacken gelegt, strahlte sie über das ganze Gesicht und streckte die Arme aus, als wollte sie mit den Ballons emporfliegen, geradezu berstend vor Glück und Seligkeit.

Es würde nicht so bleiben, das wusste Katya. Spätestens heute Abend würde sie nach Cathrin und Jakob weinen; dann würden Katya und Christian da sein, um sie zu trösten.

»Was für ein Schiff«, ertönte Grischas Stimme hinter ihnen. »Was für ein Tag.«

Emmas freudig geplapperten Gruß erwiderte Grischa, indem er ihr erst einen Kuss auf die Nasenspitze tupfte und ihr dann übers Haar fuhr.

Bereitwillig übernahm Christian seine Enkeltochter, deren Interesse an den sich entfernenden Ballons schon erlahmt war. Viel lieber tatschte sie in das Gesicht ihres Großvaters und versuchte mit andächtiger Neugierde, ihm einen Finger in den Mund zu schieben.

»Wann fährst du?«, erkundigte sich Katya.

Sobald Cathrin und Jakob zurück waren, würden Katya und Christian nach Tromsø zu Silja reisen; dreiundachtzig Jahre alt war sie jetzt und noch ganz rüstig. Eine Fahrt mit der Eisbaronin nach Amerika planten sie und eine nach Sankt Petersburg, vielleicht noch weiter ins Landesinnere hinein, die Newa entlang. Katya war noch hin und her gerissen, an ihrer alten Heimat hingen zu viele schlechte Erinnerungen, auch wenn sie Christian gern gezeigt hätte, wo sie geboren worden war.

Doch zuvor würde Grischa aufbrechen, für unbestimmte und wohl auch längere Zeit.

»Gleich morgen früh«, antwortete er.

Ein leises Lächeln schien auf ihren Gesichtern auf. Bruder und Schwester, die durch mehr verbunden waren als nur ihr Blut. Ein Band, das sich über die Zeit gelockert hatte, heute ausgefranst und verblichen war, aber allen Stürmen, allen Kämpfen standgehalten hatte.

Grischas Hände legten sich um ihr Gesicht.

»Auf bald, Katyuscha«, murmelte er, seine Stirn an ihrer.

Katya sah ihm nach, wie er davonging und sich durch die sich zerstreuenden Zuschauer fädelte. Langsamer als früher, aber genauso ungeduldig, genauso rastlos.

Ein ewig Getriebener, immer noch auf der Suche.

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