16
Im Nachthemd und die roten Locken zum Zopf geflochten, lauschte Betje am offenen Küchenfenster in die Sommernacht hinaus, eine Tasse Tee in der Hand.
Unwirklich still war es draußen, wo doch sonst auch zu später Stunde noch irgendjemand in den Gängen krakeelte, Eheleute stritten und den Blechtopf gegen die Wand schmetterten, ein Kind aus voller Lunge kreischte oder ein Betrunkener auf dem Heimweg grölte.
Vielleicht kam es ihr aber nur so vor, weil gerade alles ganz und gar unwirklich war.
Natürlich hatte man auch in Hamburg mitbekommen, dass in Spanien die Königin gestürzt worden war. Recht so, hatte man hier befunden, schließlich hatte man dem Adel und jedweder Krone immer schon misstrauisch gegenübergestanden. Blaublüter waren noch nie eine annehmbare Partie für die Töchter und Söhne der Hansestadt gewesen, und bis vor zehn Jahren ließ man sie noch nicht einmal ein Haus oder Grundstück in Hamburg erwerben. Für Faulpelze, die dem dekadenten Müßiggang frönten, hatte man hier immer noch nichts übrig. Hier bedeuteten Geld und Status nur etwas, wenn sie auf harter Arbeit und findigen Geschäften beruhten, und jede nachkommende Generation fühlte sich verpflichtet, diese Tradition fortzusetzen.
Deshalb hatten die Hamburger auch mit hochgezogenen Brauen mitverfolgt, wie sich der Kaiser von Frankreich mit Kanzler Bismarck und dessen preußischen König darum zankte, wer nun auf den spanischen Thron folgen sollte. Den Kandidaten der Hohenzollern wollten die Franzosen keinesfalls akzeptieren. Gar niemanden von Bismarcks Gnaden, damit das gefräßige Preußen nicht auch noch Macht auf der Iberischen Halbinsel ausübte und Frankreich so in die Zange nahm.
Tüddelkram, hatten die Hamburger hinter ihren Tabakspfeifen und Zigarren, den Bierkrügen und Schnapsgläsern gebrummt. Dumm Tüch, befanden auch die Hausfrauen und Mamsells, während sie im Feinkostladen Gänseleberpastete und Räucherlachs, belgische Pralinen und Reintjes’ feines Johannisbeergelee einkauften.
Niemand hier konnte verstehen, warum man sich überhaupt darum scherte, wer anderswo auf einem güldenen Thron saß. Geradezu lächerlich war es, wie die schnöseligen Franzosen jedes diplomatische Wort auf die Goldwaage legten und schließlich aus gekränkter Ehre und Eitelkeit den Fehdehandschuh hinwarfen, den Bismarck mit grimmiger Entschlossenheit allzu schnell aufhob.
Hätten sie sich allesamt mal lieber ein Beispiel an Hamburg genommen, das immer schon sein eigenes Süppchen gekocht hatte und stets gut damit gefahren war. Die gute Hamburger Aalsuppe, in die allens rinkümmt, herzhaft und unverfälscht und bodenständig wie die Hamburger Seele selbst.
Doch die Zeiten hatten sich geändert. Seit zwei Jahren war Hamburg keine Insel mehr, sondern Teil des Norddeutschen Bundes. Wie sich alle anderen Hansestädte, Königreiche, Herzogtümer und Fürstenländer unter der schwarz-weiß-roten Flagge und preußischer Führung versammelt hatten, von der Nordsee und der Ostsee bis an den Main, vom Rhein bis an die Oder.
Nur zähneknirschend war Hamburg beigetreten und nur, um sich mit dem ewig säbelrasselnden Preußen gut zu stellen. Mit hanseatischer Sturheit zwar auf den alten Handelsprivilegien beharrend, aber dafür der stets so hochgehaltenen Freiheit beraubt.
Wat mutt, dat mutt.
Irgendwo auf den Dächern krächzte eine Krähe, missgelaunt und angriffslustig. Zu dieser Stunde der Nacht ein drohend unheilvoller Ruf, bei dem sich Betjes Magen zusammenzog.
Im Pyjama erschien Hanno in der Tür. Er musste nicht erst fragen, warum Betje mitten in der Nacht in der Küche saß, und setzte sich zu ihr an den Tisch.
»Sie werden Gerrit schon nicht einziehen«, sagte Hanno nach einer Weile.
Darum kreisten ihre Gedanken in diesen Tagen. Wie viele Hamburger Familien gerade beunruhigt waren, wenn sie an ihre Söhne, ihre Brüder und Ehemänner dachten, deswegen genauso schlecht schliefen wie Betje und Hanno.
»Sein Wehrdienst ist längst abgeleistet«, fügte Hanno in aller Zuversicht hinzu.
Betjes Daumen fuhr über das Blumenmuster der Tasse.
»Doktor Spreckelsen war gestern im Laden, um sich zu verabschieden und sich noch mit ein paar Delikatessen für die Front einzudecken. Er zählt genauso zur Reserve wie Gerrit.«
Hanno nickte. »Aber Ärzte sind im Feld sicher immer Mangelware. Einfache Soldaten gibt es dagegen zuhauf.«
Betjes Miene bekam etwas Angestrengtes, während sie fester über das bemalte Porzellan rieb.
»Doktor Spreckelsen hat seinen Stellungsbefehl noch vor der Kriegserklärung erhalten. Auch in anderen Landstrichen wurde vorher schon mobilgemacht, hat er erzählt. Offenbar hat man bereits einige Zeit mit diesem Krieg gerechnet.«
»Deshalb wurde das altehrwürdige Hamburger Bürgermilitär abgeschafft«, erklärte Hanno. »Deshalb haben wir mit dem Beitritt zum Bund Soldaten aus Lübeck, aus Mecklenburg und Vorpommern hierherversetzt bekommen. Berufssoldaten. So viele, dass kaum noch einer von unseren Hamburger Jungs seine Zeit in der Kaserne absitzen muss.«
»Und wenn das aber nicht reicht?« Bang sah Betje ihn an. »Doktor Spreckelsen sagt, dieses Mal wird es ein großer Krieg. Viele glauben das.«
Der einzige Pulverdampf, den man in Hamburg duldete, war derjenige aus der Sprengölfabrik des Schweden Alfred Nobel. Und auch nur vor den Toren der Stadt, auf dem Krümmel bei Geesthacht. Weil jeder mit Sinn und Verstand sich ausrechnen konnte, dass neuer und besserer Sprengstoff den Bau von Eisenbahngleisen und Straßen, von Tunnels und Kanälen erleichterte und damit auch den Handel.
Bis auf wenige Querköpfe, die von Bismarck als dem starken Mann fantasierten, der dem Rest der Welt zeigte, was eine Harke ist, und ihr eigenes armseliges Dasein damit aufwertete, murrte man in Hamburg über diesen Krieg, der womöglich den freien Fluss von Waren ins Stocken brachte. Vor allem eine mögliche Seeblockade wie seinerzeit unter Napoleon bereitete den Händlern, den Reedern und den Seeleuten Sorgen.
»Das haben wir vor vier Jahren auch gedacht«, wiegelte Hanno ab. »Als Hamburg an der Seite Preußens gegen Österreich marschierte. Nach nicht einmal drei Monaten war es schon vorbei und Gerrit wohlbehalten wieder zu Hause.«
Der erste Krieg seit mehr als einer Generation, an dem Hamburg sich beteiligt hatte. Sogar als Preußen sich mit Dänemark Schlachten um die Herzogtümer Schleswig und Holstein geliefert hatte, hatte Hamburg bockbeinig darauf beharrt, neutral zu bleiben. So hatte man es immer gehalten, und so hätte man es auch gern weiter haben wollen; man hatte schließlich Besseres zu tun. Hätte Bismarck nicht durch die Blume zu verstehen gegeben, dass er andernfalls die reiche Hansestadt mit Militärgewalt Preußen einverleiben würde.
»Dieses Mal wird es nicht so sein«, erwiderte Betje heftig.
»Warum glaubst du das?«
Zärtlich wollte Hanno sie bei der Hand fassen, doch sie entzog sich ihm, einen erbitterten Zug um den Mund.
»Weil es dieses Mal gegen Frankreich geht!«
Hannos Gedanken wanderten zurück in das Dorf im Moormerland, in dem er seine ersten dreizehn Jahre verbracht hatte. Zu Fred Peters, dem Tischler mit dem kriegsvernarbten Gesicht, der ihm den Tornister und die Feldflasche aus dem Marsch gegen Napoleon vermacht hatte, bevor Hanno zu seiner Wanderung nach Hamburg aufbrach.
Obwohl sich heute nur noch die Generation von Christian Petersen aus ihrer Kindheit daran erinnerte, hatten jene Jahre der französischen Besatzung Spuren im Gedächtnis Hamburgs hinterlassen, weit über Franzbrötchen und Ausdrücke wie auf dem Quivive sein, Fisimatenten, Zisslaweng und Plörre hinaus. Die Grande Nation hatte nie verwunden, dass mit der Niederlage von Waterloo ihr Weltreich untergegangen war. Der Gedanke, der Tag der Abrechnung würde irgendwann gekommen sein, war ein Gespenst, das nicht nur in Hamburg umging.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte er mit Gerrit noch darüber gelacht, dass die altbekannten Sauerlappen jetzt vielerorts als Bismarckheringe verkauft wurden. Im Angesicht des Krieges, den der Kanzler des Norddeutschen Bundes heraufbeschworen hatte, ein abgeschmackter Witz.
Erneut griff Hanno nach Betjes Hand, und dieses Mal widersetzte sie sich nicht.
»Wir haben immer so viel Glück gehabt«, sagte er.
Hanno folgte Betjes Blick, der durch die Küche wanderte.
So viele Erinnerungen hingen zwischen den alten und stellenweise feuchten Mauern, zwischen Gebälk und ausgetretenen Dielen. Das erste Sonntagsessen bei Katya und Thilo und Hannos Lehrzeit bei Arno Petersen unten im Gemischtwarenladen. Der erste Kuss und die erste gemeinsame Nacht in der Dachkammer oben, und wie Hanno neben den Gemüsekisten Betje gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle.
Jahre hatte es gedauert, bis sie sich guten Gewissens ein paar faule Tage an der See leisteten, da waren sie schon eine kleine Familie gewesen. Als frisch vermähltes Paar hatten sie jeden Pfennig gespart und trotzdem jeden Sonntag einen Ausflug aus der Stadt gemacht, um die besten Radieschen und Gurken der Vierlande zu finden, die besten Äpfel im Alten Land. Und wenn sie dann irgendwo mit einem Körbchen voller Erdbeeren oder Kirschen im Gras saßen und Pläne für die Zukunft spannen, verliebten sie sich nur noch mehr ineinander und in dieses Leben, das vor ihnen lag.
»Das ist es ja, was mir Angst macht«, entgegnete Betje leise. »Dass dieses Glück irgendwann einmal aufgebraucht sein könnte.«
Ihr größtes Glück waren die Kinder. Keines, das ihnen geschenkt worden war, hatten sie verloren. Eine Seltenheit, nicht nur hier am Kehrwieder, wo sich in den Vorder- und Hinterhäusern kleines Bürgertum und elendige Verhältnisse ineinander verzahnten.
Hanno, der selbst nie einen Vater gehabt hatte, liebte es, Vater zu sein. Von jenen Wochen an, als sich Betjes Bauch zu runden begann, hatte er die wachsende Kugel gestreichelt und den ersten Tritten nachgespürt. Das Ohr hatte er darauf gedrückt, um zu horchen, und dann den Mund an Betjes Bauch gelegt, um ihrem Kind alles Mögliche zu erzählen, bis Betje vor Lachen nach Luft schnappte, weil er sie dabei kitzelte. Bei jeder Wehe hatte er mitgelitten und war doch fast geplatzt vor Stolz auf seine Frau, die so stark, so tapfer war und ein ums andere Mal ein solches Wunder in die Welt brachte.
Viele Nächte war Hanno in der Wohnung umhergewandert, ein brüllendes Baby an der Schulter, damit Betje noch ein wenig Schlaf nachholen konnte. Nachtschichten, in denen er Kamillentee aufbrühte, weil einem der Kinder übel geworden war, oder in denen er unter dem Bett nach Gespenstern suchte, weil eines schlecht geträumt hatte.
Das war es wert gewesen über die Jahre, in denen sich die Räume hier nach und nach mit rotwangigen und vor Gesundheit strotzenden Kindern füllten, die mit ihrer Fröhlichkeit den Leuten auf der Straße ein Lächeln aufs Gesicht zauberten. Fast wie einer Reklametafel für das Obst und Gemüse im Laden entsprungen, hatte Hanno oft gedacht. Ein sechsfacher Segen, für den sie nicht dankbar genug sein konnten.
Eine von Betjes Haarsträhnen kringelte sich störrisch aus dem Zopf hervor. Zärtlich wickelte Hanno sie um seinen Finger. Heute faszinierten ihn diese Locken noch genauso wie damals, als Betje zehn Jahre alt gewesen war. Ein Fuchsmädchen, das er eines frühen Morgens schlafend auf einer Wiese in Ostfriesland vorgefunden und das ihm als Allererstes einen Faustschlag ins Gesicht verpasst hatte.
»Es ist aber noch kein Stellungsbefehl gekommen, Betje. Womöglich kommt auch keiner mehr.«
Offen sah Betje ihn an. »Noch einmal stehe ich das nicht durch, Hanno. Das bange Warten. Diese Angst. Am Ende holen sie sich auch noch Henning.«
Sechs sind genug, hatte Betje eines Tages beschlossen, Hauke war gerade ein paar Wochen auf der Welt gewesen. Und obwohl sich zwischen ihnen als Mann und Frau nichts geändert hatte, war es bei sechs geblieben. Vielleicht musste sich sogar die Natur beugen, wenn Betje Reintjes sich etwas in den Kopf gesetzt hatte; an eine Löwin erinnerte sie zuweilen, so wie jetzt.
Hanno faltete beide Hände um Betjes Finger. Er kannte diesen Blick, tiefblau wie ein trügerisch stilles Wasser. So blickte sie immer, wenn sie einer Differenz in der Buchhaltung auf der Spur war oder kurz bevor sie ihn über dem Spielbrett schachmatt setzte.
»Was hast du vor?«, fragte er.
»Grischa muss uns helfen.«