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Als Jakob von seinem Rundgang durch das Schiff in ihre gemeinsame Kabine zurückkehrte, war Cathrin nicht dort, ihr Hut lag auf dem Bett.

Lange musste er nicht nach ihr suchen. In einem verborgenen Winkel des Achterdecks fand er sie, zwischen den Rettungsbooten an ihren Galgen, im Stampfen und Wummern der Maschinen. Dort, wo der Seegang unter den Füßen deutlicher zu spüren war; immer wieder spritzte Gischt auf.

Strähnen ihres hellen Haares, die sich aus dem Knoten gelöst hatten, umwehten Cathrins Kopf wie ein Heiligenschein; ihr Gesicht war verweint.

Wortlos zog Jakob sie an sich.

»Ich habe mich nicht einmal richtig von ihr verabschiedet«, murmelte Cathrin an seiner Wange, ihre Stimme dick von Tränen.

Auch Jakob fühlte sich, als hätte er sich ein Stück seines Herzens herausreißen müssen, als er am Morgen Emma noch ein letztes Mal an sich gedrückt hatte. Seine kleine Tochter. Zusammen mit Cathrin sein größtes Glück.

Es war schwer, für seine Träume bis an die Grenzen zu gehen, wenn es einen kleinen Menschen gab, der eine solch wilde und gleichzeitig unendlich zarte Liebe in einem heraufbeschwor.

Unwirklich war es ihm vorgekommen, dass Cathrin neues Leben in sich tragen sollte, das sie beide zusammen geschaffen hatten. Eine Wirklichkeit, an die er sich nur langsam gewöhnte, während ihr Bauch wuchs. Umso größer war der Schock, in den gewalttätigen Strudel der Geburt hineingezogen zu werden und danach dieses Kind im Arm zu halten, das nichts anderes als der reinste Frieden war.

Mit Emma zog ein Kinderkörbchen in das Büro ein, das Jakob und Cathrin von Christian übernommen hatten. Jakobs liebste Stunden waren die gewesen, in denen Cathrin den Stuhl mit dem Rücken zur Tür drehte, die Bluse aufknöpfte und Emma die Brust gab, während sie nebenbei Unterlagen durchsah oder sich mit der freien Hand Notizen machte. Nichts erzählte mehr über Cathrin als Mutter, als Frau, als der Mensch an seiner Seite.

Liebe, so hatte er früher geglaubt, war wie ein kostbarer Schatz, den man unverhofft überreicht bekam und bei dem man fürchten musste, dass er irgendwann zur Neige ging. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass Liebe etwas Lebendiges war, das keimte und austrieb und wuchs, mit Wurzeln, die sich tiefer und tiefer in der Seele verzweigten.

»Es war trotzdem das Richtige, sie zu Hause zu lassen«, flüsterte er.

Cathrin nickte. In seiner Umarmung richtete sie sich auf, wischte sich über die Wangen und schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln.

Das liebte er am meisten an ihr. Dass sie sich ihrer Schwächen nicht schämte, sondern aus ihnen neue Stärke zog. Darin war sie ihm eine große Lehrmeisterin.

Wie in den Nächten, in denen ihn die Träume vom Krieg heimsuchten. Gleich, wie fest Cathrin geschlafen hatte, sie tapste dann in die Küche und brachte eine heiße Gewürzmilch nach Katyas Rezept mit zurück, um dann einfach nur neben ihm zu sitzen und mit ihm zu warten, bis der klebrige Schatten des Albtraums von seinem Rücken glitt. Oder wenn sie nackt beieinanderlagen und Cathrin seinen Narben besondere Zärtlichkeit schenkte. Als ob sie anerkannte, wie sehr sie für den Mann standen, der er geworden war. Markierungen des steinigen Weges, der hinter ihm lag.

Cathrin löste sich aus seinen Armen, um ihr Taschentuch hervorzuziehen und sich die Nase zu putzen.

»Wie liegen wir in der Zeit?«, fragte sie schniefend.

Jakob zog ein zusammengefaltetes und mit winzigen Zahlenreihen beschriebenes Papier aus der Westentasche und verglich es mit dem, was seine Taschenuhr anzeigte.

»Mehr als zwei Stunden haben wir schon reingeholt.«

Beide blickten sie zu den Segeln hinauf, prall voll Wind.

»Wir schaffen es«, sagte sie. »Wir holen uns dieses verdammte Band.«

Das Blaue Band ehrte dasjenige Schiff, das den Atlantik am schnellsten überquerte. Der Ritterschlag für einen Dampfer und der Ehrgeiz eines jeden Reeders, weil es die entsprechende Aufmerksamkeit bescherte und das Interesse möglicher zahlungskräftiger Passagiere weckte.

»Abwarten«, wiegelte Jakob ab. »Noch sind wir nicht dort.«

Doch auch er hatte ein gutes Gefühl.

Schulter an Schulter lehnten sie sich an die Reling und blickten auf das wogende und schaumgekrönte Meer hinaus.


Aus den Augenwinkeln sah Cathrin zu Jakob.

Wähle deinen künftigen Ehemann mit Bedacht, hatte Katya ihr einst geraten.

Am Ende war es nicht einmal eine bewusste Entscheidung gewesen, sondern der natürliche Lauf der Dinge. Die unerschütterliche Gewissheit, dass sie und Jakob einfach zusammengehörten. Mit niemand anderem hätte sie durch dieses Leben gehen wollen. Niemand sonst verstand es, gemeinsam mit ihr zu träumen und Wagnisse zu schultern, während er mit beiden Beinen fest auf der Erde stand.

Der Gründerkrach hatte sich für Petersen & Voronin zwar nicht als Fluch erwiesen, aber immerhin doch als ein massiver und scharfkantiger Stolperstein. Einen Segen allerdings hatte er für die neue Sparte der Passagierschifffahrt bedeutet. Die Eisbaronin war bis auf den letzten Platz ausgebucht, und für die nächsten geplanten Fahrten lagen bereits zahlreiche Reservierungen vor.

Ob es so bleiben würde, vermochte derzeit keiner zu sagen. Viele rechneten jedoch damit, dass die Wirtschaft dauerhaft Schlagseite erlitten hatte und einige wenige immer reicher machen würde, während die kleinen Leute zunehmend darbten. Womöglich stand ihnen die Zeit der großen Auswanderung erst noch bevor; darauf verlassen wollten sich Cathrin und Jakob allerdings nicht.

Gerade jetzt nicht, wo sie einen Berg an Schulden für dieses Schiff angehäuft hatten, die nach und nach übernommenen Firmenanteile in Raten abstotterten und noch immer in drei Zimmern über dem Feinkostladen wohnten, weil sie jede Mark, die sie übrig hatten, lieber ins Geschäft steckten.

»Remington hat das Patent für eine Schreibmaschine gekauft«, erzählte Cathrin und klopfte nachdenklich mit der flachen Hand auf den obersten Holm der Reling. »Damit ließe sich die Arbeit in sämtlichen Büros, Schreibstuben und Behörden einfacher und vor allem ungleich schneller erledigen. Ich würde gern wenigstens ein Exemplar davon kaufen und mit nach Hause nehmen, um es auszuprobieren.«

»Hast du die jüngsten Artikel über Elektrizität gelesen?«, fragte Jakob. »Über ihre Nutzung als Strom? Die Norddeutsche Affinerie in der Elbstraße verwendet ihn jetzt schon für die Verarbeitung ihres Kupfers.«

Einige Herzschläge lang ließ er seine Gedanken mit dem Wind über das Wasser ziehen.

»Ich hoffe ja«, sprach er dann weiter, »dass wir in New York die eine oder andere Erfindung dazu entdecken. Zum Beispiel für Licht. Weißt du, woran ich immer wieder denken muss? Wie es wäre, wenn die Kais nachts beleuchtet wären. Nicht mit solchen Funzeln, wie sie jetzt in Gebrauch sind. Sondern richtig hell, fast wie am Tag. Mit Strom. Rund um die Uhr könnte die Fracht verladen werden. Das Gütervolumen ließe sich auf einen Schlag verdoppeln und damit auch der Umsatz.«

Ein Kribbeln jagte durch Cathrins Adern, als sie daran dachte, dass sie wirklich und wahrhaftig auf dem Weg nach New York waren, dem fernen Zwilling Hamburgs. Und das sollte nur der Anfang sein.

»Wenn wir im Winter wirklich weniger Überfahrten anbieten können«, überlegte sie halblaut, »sollten wir vielleicht darüber nachdenken, stattdessen andere Ziele anzusteuern.«

»Wie eine Rundreise durch das Mittelmeer?«, fragte Jakob, ein kleines Grinsen im Mundwinkel.

Cathrin machte ein vielsagendes Gesicht. »Zum Beispiel.«

Lächelnd sahen sie einander in die Augen.

»Zu neuen Ufern«, raunte Jakob.

»Zu neuen Ufern«, flüsterte Cathrin zurück.

Der Werbespruch, den sie unter die Inserate für ihre Atlantiklinie und auf Prospekte und Plakate drucken ließen, und doch viel mehr als das. Eine Verheißung, der sie vertrauten. Ein Versprechen, das sie einander gaben, jeden Tag aufs Neue.

Jakob legte den Arm um Cathrin, und zusammen blickten sie auf den weiten Ozean voller Träume, der vor ihnen lag.

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