25





Zornige Böen trieben den Regen vor sich her, als der Wagen vor der spätabendlich beleuchteten Villa hielt. Donner rollte drohend heran und walzte krachend über die windgepeitschten Baumwipfel, hinter denen es gespenstisch flackerte. Wie ein bockendes und durchgehendes Pferd schüttelte die Natur die Hitze der letzten Tage von sich ab.

Beim Aussteigen lehnte Katya den aufgespannten Schirm ab, den Kutscher Hans ihr reichte.

»Lass nur. Sind ja bloß ein paar Schritte.«

Die Röcke gerafft, hastete sie die Stufen zur Eingangstür hinauf, wo Mine bereits auf sie wartete. Über die Treppe drang lang gezogenes Wimmern und Heulen herab. Maries Ausdruck ihrer inneren Not.

»Gut, dass Sie kommen, Frau Katya.«

Das Dienstmädchen wollte noch etwas hinzufügen, schluchzte aber stattdessen auf.

»Danke, dass du gleich Hans zu mir hinausgeschickt hast«, sagte Katya und strich Mine tröstend über die Schulter.

Die Jacke über dem Arm, die Katya sich bei der nicht ganz unerwarteten, aber doch überraschenden Ankunft des Kutschers in Teufelsbrück hastig übergeworfen hatte, wischte Mine sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Sind alle oben, Frau Katya. Frau Niebuhr müsste auch bald hier sein.«

Sanftes Lampenlicht füllte das Schlafzimmer und schnitt Christians Profil aus den Schatten heraus. Cathrin war gerade dabei, den Vorhang zurückzuziehen und das Fenster ein Stück weit zu öffnen. Damit der Wind es nicht zuschlug, klemmte sie eine Haarbürste in den Spalt. Wie frisch gewaschen quoll der Luftzug in den stickigen Raum.

»Hörst du, Mama?«, flüsterte sie. »Es regnet. Riechst du den Gewitterregen?«

Als Cathrin sich umdrehte, sah Katya die silberglänzenden Tränenspuren auf ihrem Gesicht.

Auf leisen Sohlen trat Katya an das Bett und ließ sich auf der Kante nieder. Unruhig bewegten sich Hennys Finger über das Leintuch, dürr wie Spinnenbeine. Innerhalb kürzester Zeit hatten der Krebs und das Morphium von ihr nur faltige Haut und spitze Knochen übrig gelassen, Henny in einen nebelhaften Dämmerzustand hinabgezogen.

»Ich bin es, Henny. Katya.«

Suchend blickte Henny umher, bis sie Katyas Blick auffing. Ihre Augen weiteten sich ängstlich, die Mundwinkel zitterten. Katya legte ihre Hand auf die Hennys.

»Wir sind bei dir, Henny. Alle sind wir da. Wir lassen dich jetzt nicht allein.«

Maries Heulen gewann an Dringlichkeit; ein Wolfsjunges, das nach dem Schutz seines Rudels schrie. Hennys Finger zuckten.

»Ich kümmere mich um Marie, Henny. Das verspreche ich dir.«

Kaum merklich entspannten sich Hennys eingefallene Züge. Ihre Augen wanderten zu Christian, bevor sie sich mühsam wieder auf Katya richteten. Zart wie Schmetterlingsflügel regten sich ihre Finger, und Katya neigte sich vor.

Danke, dass du ihn mir gelassen hast, glaubte sie aus Hennys schwerfälligen Atemzügen herauszuhören.

»Er hat sich richtig entschieden«, wisperte Katya an Hennys Ohr.

Lange sahen sie sich in die Augen, Katya und Henny. Nie wirklich Rivalinnen, obwohl sie denselben Mann geliebt hatten, und aus demselben Grund nie wirklich Freundinnen. Auch keine Schwestern, dafür waren sie sich zu fremd geblieben, Räbin die eine, gurrende Taube die andere. Untrennbar miteinander verflochten waren ihre beiden Leben dennoch gewesen. Durch Christian. Durch Marie. Vor allem aber durch Cathrin.

Am Ende gab es nichts zu beneiden, zu verzeihen oder zu vergeben. Was blieb, war ein leises Lächeln zwischen ihnen, zärtlich und weh.

Katya hob Hennys Hand an und drückte einen Kuss hinein. Dann stand sie auf, um nach Marie zu sehen, damit deren Mutter unbesorgt und in Frieden gehen konnte.


Das letzte Aufblitzen am Himmel war verglommen, das letzte Donnergrollen längst verhallt. Katya saß weiterhin auf dem Boden von Maries Zimmer und spielte mit ihr das altvertraute Fingerspiel aus Kindertagen, um sie zu beruhigen.

Der Regen war geblieben, ein satter und gleichmäßiger Landregen, der die Grenze zwischen Nacht und Tag verwischte.

Ein paar Türen weiter schluchzte Jette unvermittelt auf und begann dann laut zu weinen. Wenig später schlich Cathrin über die Schwelle und kauerte sich neben Katya zusammen, zittrig und die Wangen tränennass. Wie ein Schwan, der die Flügel über seinen Küken ausbreitet, hielt Katya die beiden Frauen in ihren Armen. Hennys Mädchen, die gerade ihre Mutter verloren hatten.


Das Grau vor den Fenstern war von fließender Zeitlosigkeit. Etliche Stunden mochten verstrichen sein, Jette war schon nach Hause gefahren, als Mine den Kopf ins Zimmer hereinstreckte, einen verlegen hilfesuchenden Ausdruck auf dem verweinten Gesicht.

»Könnten Sie noch einmal kommen, Frau Katya? Wegen Herrn Petersen? Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

Leise betrat Katya das Schlafzimmer. Christian hielt noch immer Hennys leblose Hand, seine Miene in Ungläubigkeit erstarrt. Wie ein alter Mann sah er aus, zerschunden und gramgebeugt, und es schnitt Katya ins Herz.

»Es ist vorbei, Christian«, wisperte sie. »Lass sie gehen.«

»Ich kann nicht«, kam es erstickt von ihm.

Katya ließ sich in die Hocke nieder und berührte ihn sanft an der Schulter.

»Ich weiß. Sie war das Licht in deinem Leben.«

In Christians Gesicht zuckte es. Eine harte Fassade, die Risse bekam und dann in sich zusammenfiel. Schuldbewusst sah er aus und wie verschämt, dabei hatte Katya das lange schon gewusst.

»Was soll ich denn jetzt machen, ohne sie?«, murmelte er, die Stimme grabesschwer.

Katya war diesen Weg vor ihm gegangen.

»Das wird sich finden. Fahr weg. Weg aus Hamburg und weg von all den Erinnerungen. Ich kann dir meine Hütte am Voroninvatnet überlassen. Das ist ein guter Ort, um zu trauern und zu heilen.«

Christian schüttelte den Kopf. »Ich kann Marie nicht allein lassen.«

»Dann nehme ich sie zu mir. Marie kennt das Haus und die Leute darin. Sie ist gern dort.«

Es fiel ihm sichtlich schwer, Hennys Hand auf das Leintuch zu betten. Ein Schluchzen ruckte dabei durch seinen ganzen Körper, und er begann zu weinen, laut und haltlos wie ein kleiner Junge.

Auf den Knien richtete sich Katya auf und schlang die Arme um ihn, bot ihm Halt und Trost in dieser schweren Stunde. Beide jetzt verwitwet, des einen Menschen beraubt, mit dem sie ihr Leben geteilt und mit dem sie hatten alt werden wollen.

Mit Christians Tränen, mit dem Regen, der draußen niederging, wusch sich nach und nach auch der letzte Groll zwischen ihnen aus. Die letzte Enttäuschung, der letzte Kummer.

Katya hatte nicht gewusst, dass einem zugleich so schwer und so leicht ums Herz sein konnte. Dass ein solch schmerzlicher Verlust einen solch tiefen Frieden in sich trug.

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