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Der offene Wagen rollte über die Elbchaussee, in den grünenden und blühenden Maitag hinein. Bei jedem Ruckeln, jedem Holpern stieß das kleine Mädchen auf dem Schoß seiner Mutter ein entzücktes Quietschen aus.

Das Näschen vergnügt gekraust, hielt es das Gesicht in den Wind, der ihm das karamellfarbene Seidenhaar durchwirbelte. Immer wieder legte es den Kopf in den Nacken, um die Sonnenstrahlen zu bestaunen, die durch das Laub der Bäume fielen, und reckte die kleinen Hände, um einen davon zu fangen.

Emma. Ein Name wie ein Ausrufezeichen. Mit vollem Namen Emma Henriette Helene Levgrün, zu Ehren ihrer beiden Großmütter, die sie nicht mehr kennenlernen würde.

Emmas Augen wanderten zu denen ihrer Mutter. Eines davon war von so hellem Blau, dass es fast grau wirkte, wenn sie zufrieden war und sich angelegentlich mit einem Spielzeug beschäftigte, und schimmerte grün, wenn sie zornig ihren Willen durchsetzen wollte. Das andere war jedoch von tiefem Braun, das umso wärmer glänzte, wenn Emma hingebungsvoll eine der Hennen im Garten von Teufelsbrück umarmte oder eine der Speicherkatzen zu Hause am Kehrwieder.

Eine Besonderheit, die sich in Emmas ersten Lebensmonaten herausgebildet hatte. Scharf wie ein Adler sah sie trotzdem, das hatte der Kinderarzt bestätigt und Emma lachend unter dem Kinn gekitzelt. Womöglich würde es sich in den kommenden Jahren einfach verwachsen.

Die unterschiedlichen Augenfarben gaben Emma etwas Schelmisches, ihrem Blick eine Tiefe, die andere Kinder mit neun Monaten noch nicht hatten. Aber für Cathrin war sowieso alles ein Wunder, was Emma tat und was sie war.

In Emmas Augen spiegelte sich ihr reiches Erbe wider. Das der Levgrüns von der sandigen Küste der Ostsee und das der Pohls aus Lübeck. Das Hamburger Erbe der Petersens und das der Voronins vom großen See von Ladoga, dort, wo in den unendlichen Wäldern Russland und Finnland ineinanderflossen.

Ein Kind des Nordens.

Ein Strahlen schien jetzt auf dem Gesicht Emmas auf, so hell wie die Sonne selbst, und machte ihre Perlzähnchen sichtbar. Die Stirn voraus, ließ sie sich gegen die Brust ihrer Mutter fallen. Cathrin drückte den kleinen, quicklebendigen Kinderleib an sich, und ihr Herz quoll über.

Auf eine merkwürdige Art hatte sie nicht damit gerechnet, je ein Kind zu bekommen, nicht mit diesem überschlanken und geradezu jungenhaften Körper, der ihr immer ganz und gar unmütterlich vorgekommen war. Und dann hatte Emma sich doch angekündigt, fast wie ein Sturm aus heiterem Himmel.

Die erste Zeit hatte Cathrin neben ihrem Schreibtisch im Kontor einen Eimer stehen gehabt und diesen auch weidlich genutzt. Die Mahnungen des Arztes, eine späte Mutter wie sie solle sich schonen, hatte sie mit der Bemerkung pariert, dass andere Frauen in diesem sogenannten Zustand auf dem Feld oder der Fabrik arbeiten mussten, da sei das Beackern von Firmendokumenten in einem bequemen Bürostuhl ja wohl ein Klacks.

Nur Kundentermine hatte sie in jenen Wochen nicht wahrgenommen und schweren Herzens auch darauf verzichtet, die Werft zu besuchen, um den Baufortschritt des Dampfers zu begutachten, der nach und nach auf seiner Helling Gestalt annahm. Sich vor versammelter Mannschaft spontan zu übergeben hatte sie sich lieber erspart.

Emma drehte den Kopf und blinzelte vorwitzig zu ihr auf. Cathrin lächelte, und mit einem seligen Laut schmiegte Emma sich enger an sie.

Die Übelkeit war es genauso wert gewesen wie mit riesigem Bauch durch Zimmer und Flure zu rollen und Treppen hinaufzuschnaufen. Nur die Wehen hätte sie nicht gebraucht, eine Welle heißen Schmerzes nach der anderen. In endlosen Stunden, in denen es kein Vorwärts zu geben schien und schon lange kein Zurück mehr, jegliche Erlösung in unerreichbare Ferne gerückt.

Ohne Betjes erfahrene und zupackende Art, ohne Katyas tröstliche Stärke und ohne Jakob, der ihr die Hand hielt, hätte Cathrin es nicht geschafft, davon war sie überzeugt. Aber am Ende war Emma doch noch gekommen, stramm und glänzend wie ein Kupferling, die Fäuste triumphierend geballt und eine Glückshaube auf dem nassen Köpfchen, ihr erster Schrei eine Fanfare, die jede Faser in Cathrin zum Vibrieren brachte. Da ließ es sich sogar verschmerzen, dass sie danach wochenlang mit dem Gefühl herumgeschlichen war, in ihrem Schoß wäre ein Feuerwerkskörper explodiert.

Womöglich würde sie sich all dem noch einmal stellen müssen, zum Ende dieses Jahres hin, der Arzt war noch nicht ganz sicher. Sollte es tatsächlich der Fall sein, wäre sie die kommenden Wochen auf dem Schiff sicher nicht die Einzige, der regelmäßig schlecht wurde.

Obwohl sie nicht wusste, wie sie künftig den Alltag meistern sollte, mit zwei kleinen Kindern.

»Wie hast du das damals geschafft?«, fragte Cathrin. »Mit mir und der Firma?«

Katya neben ihr wiegte den Kopf unter dem schwarz bebänderten Strohhut hin und her. Zärtlich streichelte sie Emma, die das Tuten der Dampfer auf der Elbe nachahmte; wie eine kleine Eule klang sie.

»Irgendwie ging es eben. Wir haben uns viel abgewechselt, Thilo und ich. Wie du und Jakob auch. Aber es war auch eine andere Zeit.«

Keine zwei Jahre hatte die goldene Ära nach der Reichsgründung gedauert. Im vergangenen Frühling hatte das Gerücht die Runde gemacht, die Börse in Paris stünde kurz vor dem Zusammenbruch. Nichts als heiße Luft, hieß es beschwichtigend; zur Besonnenheit wurde gemahnt und an das Vertrauen in die Mechanismen des freien Markts appelliert.

Viele Anleger und Geschäftsleute jedoch suchten ihre Schäflein rechtzeitig ins Trockene zu bringen und machten alles an Aktien und Wertpapieren und Gütern zu Geld, was nur ging. Auch die österreichische Creditanstalt, und das gleich in vielfacher Millionenhöhe. Die Franko-Ungarische Bank versuchte vergeblich, noch ausstehende Kapitaleinlagen einzutreiben, und musste Konkurs anmelden, etliche weitere Banken folgten, und mit ihnen ein Unternehmen nach dem anderen. Mit Kursstürzen bis zu neunzig Prozent erlebte die Wiener Börse ihren Schwarzen Freitag. Tumulte brachen im Börsensaal aus, zahlungsunfähige Finanzjongleure flüchteten über die Hintertreppe vor ihren Gläubigern, schließlich räumte die Polizei das Gebäude. Finanziers und Anleger täuschten ihren Selbstmord vor, andere nahmen sich tatsächlich das Leben und brachten zuvor noch ihre Familien um. Ausgerechnet in Wien, wo doch die gerade eben eröffnete Weltausstellung den Glanz dieser neuen Zeit und die Verheißungen der Zukunft präsentierte, folgte auf den Walzerrausch ein Strudel aus Treibsand.

Die Schockwellen dieses Zusammenbruchs rollten im Sommer über New York und London hinweg und erreichten im Herbst dann auch Berlin und damit das Deutsche Reich, wo sich kleine Leute und Spekulanten gegenseitig die Schuld zuschoben und schließlich den Schwarzen Peter an die jüdischen Bankiers und Geschäftsleute weiterreichten.

Cathrin war heute noch dankbar, dass Christian deswegen aus dem Ruhestand vorübergehend in die Firma zurückgekehrt war. Sie hatten alle Hände an Deck brauchen können, um Petersen & Voronin möglichst unbeschadet durch diesen Mahlstrom aus Panik und Pleiten und noch größerer Panik zu steuern.

Ohne Verluste war es nicht abgegangen, aber es hätte schlimmer kommen können. Cathrins Weigerung ein paar Jahre zuvor, in riskante Geschäfte zu investieren, hatte das Unternehmen vor dem größten Schaden bewahrt.

»Es ist gut, dass du dir Hilfe holst, wenn du sie brauchst«, sagte Katya jetzt.

In Cathrins Seidenkleid gekrallt, zog und stemmte Emma sich hoch und holte sich ein Küsschen von Katya ab, bevor sie die Arme um Cathrins Hals schlang und interessiert verfolgte, was sich hinter dem Wagen abspielte. Angeregt brabbelte und plapperte sie dabei vor sich hin. Manchmal glaubten sie, schon etwas wie Mama oder Papa herauszuhören. Dada schien sich gleichermaßen auf Katya, Christian und Grischa zu beziehen, Tete stand für Betje und Hanno, und neu in ihrem Wortschatz fand sich Doon. Toonbank vermutlich.

Es brauchte ein Dorf, um ein Kind großzuziehen, hieß es. Für Emma bestand dieses Dorf aus Katya und Christian und manchmal auch aus Grischa, der stundenlang mit seinem jüngsten Enkelkind spielen und herumtollen konnte. Seit Emma mobiler geworden war und so schnell krabbelte, wie ein Kaninchen rannte, brachte Cathrin sie oft morgens zu Betje ins Kontor hinunter. Ein Laufstall hatte darin Einzug gehalten, in dem Emma mit den beiden Kleinen von Finja und Famke gut aufgehoben war und sich von den Frauen im Feinkostladen in deren Arbeitspausen reihum herzen und mit Obst füttern ließ.

Wenn Cathrin sie abends abholte, blieb sie oft noch auf einen Tee oder ein Glas Limonade. Die abgeklärte Ruhe und der Rat der erfahrenen Mütter taten ihr gut, und in Finja und Famke, die ganz ähnliche Sorgen und Ängste umtrieben wie Cathrin, genauso im Zwiespalt zwischen Geschäft und Kind steckten, hatte sie gute Freundinnen gefunden.

Eine Trennung auf Raten, in der sich sowohl Cathrin und Jakob als auch Emma bereits hatten üben können. Der große Abschied jedoch stand ihnen noch bevor.

Cathrin zog Emmas Kleid zurecht, das der Wind über dem Windelpaket hochgeblasen hatte, und streichelte über ihre Rippen, die sich bei jedem Atemzug ausdehnten und wieder zusammenzogen. Unwillkürlich drückte sie Emma fester an sich, die einen quiekenden Laut von sich gab und dann giggelte.

Tief sog Cathrin den Kinderduft ein, wie Vanille und Milch und Honig, schon jetzt ein schmerzliches Ziehen in der Brust.

»Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll«, gestand sie bang. »Einen ganzen Monat ohne sie.«

Keine Schiffsreise war ohne Risiko, nicht einmal auf einem Dampfer, der auf dem neuesten Stand der Technik vom Stapel gelaufen war, das wussten sie. Deshalb hatten Jakob und Cathrin entschieden, ihr Kind so lange in der sicheren Obhut der Familie zu lassen. Cathrin hatte noch ein paar von Emmas Sachen nach Teufelsbrück gebracht, um dann mit Katya zusammen zum Hafen aufzubrechen.

Jakob hatte sich bereits am Morgen von Emma verabschiedet, falls später am Kai keine Zeit mehr blieb; bei der Abfahrt durften sie sich nicht die geringste Verzögerung leisten. Mit Christian war er dann vorausgefahren, um noch alles für diesen Tag Notwendige abzuwickeln und die geladenen Gäste zu begrüßen.

»Jetzt weiß ich, wie meine Mutter sich damals gefühlt haben muss«, fügte Cathrin hinzu.

Mit einem wehen Lächeln sah sie ihre Tante an.

»Ich habe ihr gegenüber so oft Abbitte geleistet in den letzten Monaten. Als es wegen der Börsenkrise im Kontor hoch herging und Emma noch nicht durchschlief, manchmal auch einfach wütend auf mich war, weil sie genau spürte, dass ich mit den Gedanken nicht bei ihr bin. Während auf der Baustelle eine Schwierigkeit nach der anderen auftrat und einer von uns ständig zum Reiherstieg hinausfahren musste, um sich darum zu kümmern, und Emma unter den ersten Zähnchen litt. Scheußlich war das.«

Verstohlen wischte Cathrin sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Mutter zu sein, das hatte sie stärker gemacht, aber auch weich wie Butter.

»Immer wieder fällt mir etwas ein, was ich ihr gern sagen oder sie noch fragen möchte. Aber sie ist nicht mehr da.«

»Ich weiß«, erwiderte Katya und drückte Cathrins Hand.

Emma sah ihre Mutter unter zusammengezogenen Brauen fragend an. Dann schmiegte sie ihre Wange, so zart wie das Blütenblatt einer Pfingstrose, an die Cathrins, wie tröstend. Cathrin musste leise lachen und hatte dabei schon die nächsten Tränen in den Augen. Emma zurückzulassen zerriss ihr das Herz, aber genauso wenig hätte sie es ertragen, auf diese Reise zu verzichten.

Erst der Lärm von Pferdehufen und Wagenrädern, von Menschenmengen und Lastkarren und gleich einer ganzen Salve von Schiffshörnern machte Cathrin darauf aufmerksam, dass sie Altona schon hinter sich gelassen hatten und durch den Hafen fuhren.

Hamburg war groß geworden. Nicht nur in seiner Ausdehnung, an Häusern und Warenmengen, an Schiffen und Wagen und Zügen. Bald würden in dieser Stadt fast doppelt so viele Leute leben und arbeiten als noch vor knapp eineinhalb Jahrzehnten, geschätzt gegen dreihunderttausend Menschen. Manche redeten sogar schon von einer Weltstadt, vielleicht, weil der jüngst fertiggestellte Turm von Sankt Nikolai das höchste Bauwerk der Welt war. Ein neues Rathaus oder auch nur ein Entwurf desselben fehlte indes immer noch.

Sorgsam steuerte Jan den Wagen mit Cathrin und Katya durch den Verkehr und hielt an den Landungsbrücken. Kaum ein Wölkchen war am Himmel zu sehen, blau und endlos spannte er sich über die Dächer und Türme von Hamburg, über Masten und Schornsteine und Hafenbauten, und die Sonne lachte.

Kaiserwetter.

Cathrin entdeckte ihren Dampfer sofort, unverkennbar mit dem hellblauen Stern am Bug, der an einen Eiskristall erinnerte. Obwohl sie seine Entstehung von den ersten Eisenbalken an begleitet hatte, bis hin zu der letzten Schicht Farbe, der letzten Serviette, dem letzten Kaffeelöffel, schlug ihr Herz immer noch höher, wenn sie ihn sah. Alles an Energie und Unmengen von Geld, Schweiß und Arbeit hatten sie und Jakob dort hineingesteckt.

Der glücklichste Tag im Leben einer Frau sei ihr Hochzeitstag, hieß es oft. Glücklich waren Jakob und Cathrin zweifellos beide gewesen, als sie sich am Altar von Sankt Katharinen das Jawort gegeben hatten, in einer schlichten Zeremonie und im kleinen Kreis.

Heute jedoch war wahrhaftig Cathrins und Jakobs großer Tag. Der Tag, auf den sie fast zwei Jahre lang hingefiebert hatten.

Die Jungfernfahrt ihres Dampfers nach New York.

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