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Jakob Levgrün setzte seinen Seesack ab und wischte sich über die Stirn. Die Gasse, die er von den Holzkähnen am Ufer heraufgestapft war, an aneinandergequetschten Backsteinhäuschen vorbei, war steil gewesen. Einen anständigen Eindruck hatte er in seiner guten Jacke machen wollen, jetzt erwies sie sich als viel zu warm; Hamburg hatte er sich immer kühl und sturmumtost vorgestellt.
Im Kontor am Dovenfleet hatte man ihm höflich, aber in geschäftiger Eile mitgeteilt, Herr Voronin sei heute nicht im Haus, er könne gern eine Nachricht hinterlassen. Lange hatte Jakob auf das Stück Papier vor sich gestarrt, im Stimmengewirr und Federkratzen, dem dumpfen Knallen von Stempeln und dem Klackern der Rechenschieber. Worte hatte er keine gefunden.
Schon halb wieder zur Tür hinaus, war sein Blick an den aufgereihten Adressbüchern von London, Lübeck, Berlin und Hamburg hängen geblieben, und mit einer ungeduldigen Geste hatte man ihm erlaubt, einen Blick hineinzuwerfen.
Aus der Stadt wäre auch eine Eisenbahn nach Altona gegangen, aber die Fahrt von Lüneburg hatte schon genug gekostet, Jakob würde später jeden Pfennig brauchen. Also war er zu Fuß aufgebrochen, am Wasser entlang, und hatte sich Etappe für Etappe weiter nach der Adresse durchgefragt. Und nun stand er hier, auf der baumgesäumten Prachtstraße der Palmaille.
Solche feinen Bürgerhäuser gab es auch in Lüneburg, nur waren diese hier um einiges feudaler; selbst die Salzbarone zu Hause wären vor Neid erblasst. Ganz und gar fehl am Platz kam Jakob sich vor, zwischen den Damen, die mit ihren Reifröcken und Sonnenschirmen zarten Schmetterlingen glichen, die Herren mit ihren Gehröcken und Hüten eleganten Kranichen.
Am liebsten hätte er kehrtgemacht. Er hatte nur keine Wahl.
»Herr Voronin ist ein viel beschäftigter Mann«, wies ihn die Mamsell an der Tür ab, die die scharfe Autorität eines Bussards vor sich hertrug, ihre Aussprache klebrig und zäh wie Hefeteig.
»Bitte, ich muss Herrn Voronin wirklich sprechen«, beharrte Jakob. »Es ist wichtig.«
»Réka«, ertönte eine Männerstimme im Hintergrund und kam dann näher. »Wer ist es denn?«
Stumm musterten sich Grischa und Jakob, im gedämpften Licht des Korridors ein zeitversetztes Spiegelbild des anderen. Da waren die dunklen Farben, die Jakob von Kindesbeinen an zum Sonderling gemacht hatten, die kräftigen Züge, in die er gerade erst hineinwuchs.
Lange Erklärungen waren unnötig; was sie miteinander verband, stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
»Jakob also«, sagte Grischa, nachdem Réka den Kaffee auf dem niedrigen Tisch abgestellt hatte.
Die Schultern zum Schutz vor Grischas forschendem Blick hochgezogen, hielt Jakob sich steif auf der Kante des Sessels. Das Zuhause von Grischa Voronin hatte er sich anders vorgestellt. Nicht derart licht und geradezu spartanisch eingerichtet, aber mit edlen Hölzern ausgestattet, kostbare Orientteppiche auf dem Boden. Er weigerte sich, sich hier allzu wohl zu fühlen.
»Lenes Sohn«, ergänzte Jakob, herausfordernd und fast angriffslustig.
Grischas Hand, die sich nach dem Service ausstreckte, verharrte in der Luft.
»Lene.« Weich kam es aus seinem Mund, mit einem andächtigen Nachklang. »Dann bist du jetzt … wie alt? Neunzehn?«
»Zwanzig.«
Die drei Monate, die noch fehlten, schlug Jakob einfach drauf, misstrauisch, ob Grischa Voronin nur gut geschätzt hatte oder sich tatsächlich noch genauer erinnerte.
Ein kleines Lächeln im Mundwinkel, rührte Grischa Zucker in seinen Kaffee, den er genau so trank, wie Jakobs Mutter es immer erzählt hatte, stark und schwarz wie Teer, zu gleichen Teilen süß und bitter wie das Leben.
»Wie geht es Lene?«
»Sie ist vergangenen Winter gestorben. Die Lunge, nach Jahren in der Spinnerei.«
Mit genüsslicher Befriedigung registrierte Jakob den Schatten, der sich auf Grischas Gesicht legte.
»Das tut mir leid.«
»Muss es nicht«, gab Jakob grimmig zurück. »Sie haben sich ja sonst auch nicht um sie gekümmert.«
Erstaunen zog über Grischas Gesicht.
»Lene hat mich damals verlassen, nicht ich sie. Im Guten, aber endgültig. Sie hat mir nicht gesagt, wo sie hingeht, und auch nicht, dass sie ein Kind von mir erwartet.«
»Natürlich nicht. Oder hätten Sie sie etwa geheiratet?«
Grischas Schmunzeln war von entwaffnender Gelassenheit.
»Ich bin kein Mann zum Heiraten. Das hat Lene von Anfang an gewusst, und soweit mir bekannt ist, hat es sie auch nicht gestört.«
Jakob starrte in den Kaffee vor sich, an dem er nur kurz genippt hatte, anstandshalber.
Wie die Glühwürmchen einer Sommernacht, hatte seine Mutter sich ausgedrückt. So waren wir, dein Vater und ich.
Ein Märchen, das Jakob als Junge wieder und wieder hatte hören wollen. Vom Küstenmädchen, das in die große Stadt gekommen war, um an seinem Glücksfaden zu spinnen, bis er sich in pures Gold verwandelte. Und vom Eisbaron, der auf den Meeren der Welt zu Hause war und ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen hatte.
Je weiter Jakob aus seinen Jungenhosen herausgewachsen war, umso stärker hatten die Zweifel an ihm genagt, ob er diese Legende wirklich glauben konnte.
»Hätte ich gewusst, dass es dich gibt …«, ließ Grischa sich leise vernehmen. »Ich sorge für meine Kinder und ihre Mütter.«
Ein feiner Stich der Eifersucht durchzuckte Jakob, einer unter vielen zu sein. Das zufällige Nebenprodukt eines ausschweifenden Lebenswandels.
»Ist es das, was Sie unter Verantwortung verstehen?«, warf er Grischa Voronin an den Kopf. »Ein Scheck alle paar Monate?«
Grischa deutete ein Kopfschütteln an.
»Es war immer mehr als das. Aber alles, was ich geben konnte. Das musst du verstehen.«
Jakob dachte an Inkens lebenssprühende Augen. An ihre Küsse und wie sich ihre Hände unter sein Hemd geschoben hatten, dass ihm Hören und Sehen vergangen war. Über die Vorbehalte ihres Vaters gegen Jakob hatte sie genauso gelacht wie über Jakobs Wunsch, noch zu warten, bis er ihr ein gutes Leben bieten konnte. Dann war ein anderer gekommen, der Sohn eines Salzbarons, und hatte Inken vom Fleck weg geheiratet.
Geld war nicht alles, hieß es. Hatte man jedoch keines, war man nichts, das hatte Jakob schmerzhaft erfahren.
»Nein, das muss ich nicht verstehen«, schoss er jetzt zurück. »Und ich will es auch nicht.«
Seit Grischa als Dreizehnjähriger dem Gehöft in Russland den Rücken gekehrt hatte, hatte er kaum je zurückgeblickt. In letzter Zeit jedoch drängten sich ihm zunehmend Erinnerungen auf, vielleicht ein Zeichen beginnenden Alters. Noch fiel es ihm leicht, diese Geister der Vergangenheit zu bannen.
Jetzt jedoch saß eine dieser Erinnerungen leibhaftig vor ihm und klagte ihn für seine Versäumnisse und Fehler an. In Gestalt seines unbekannten Sohnes, das dunkle Haar ein wenig zu lang, der Oberlippenbart fast noch flaumig und nur halbherzig getrimmt. Hohlwangig sah er aus, die kräftigen Konturen seines Gesichts, die knochigen Schultern unter der Jacke noch lange nicht ausgefüllt. Ein zorniger junger Mann, wie er selbst es als Junge einst gewesen war, mutterlos und hungrig nach dem, was das Leben ihm bislang vorenthalten hatte.
»Lene«, begann Grischa nach einer längeren Pause, »Lene hatte ihren eigenen Kopf. Nein hieß Nein und blieb in Stein gemeißelt, und jedes Ja kam aus vollem Herzen.«
Eine trostlose Schwere machte sich in ihm breit. Vielleicht hatte man dann ein gewisses Alter erreicht, wenn die, die man einmal geliebt hatte, nacheinander von dieser Welt gingen. Wie Lene. Wie Thilo.
»Ich habe noch ihre Stimme im Ohr«, fuhr er nachdenklich fort. »Wie sie gesungen hat, wenn sie sich morgens die Haare flocht. Die derbsten Gassenhauer, aus vollem Hals. Und wenn ihr etwas kaputtging oder das Essen anbrannte, hat sie geflucht, dass selbst der raubeinigste Seemann rote Ohren bekommen hätte.«
»So erinnere ich mich auch an sie.«
Die Blicke der beiden Männer blieben aneinander hängen, und so etwas wie ein Lächeln entspann sich zwischen ihnen. Unsicher und sich vorsichtig aufeinander zutastend, auf beiden Seiten.
»Bist du deshalb nach Hamburg gekommen?«, wollte Grischa wissen.
Die Art, wie Jakob den Kopf bewegte, war halb ein Ja und halb ein Nein.
»Ich will auswandern«, erklärte er. »Nach Amerika.«
Grischa nickte. Die Zahl derer, die es aus ganz Deutschland in die Häfen von Hamburg und Bremerhaven zog, um in eine neue, eine bessere Welt aufzubrechen, war in den vergangenen Jahren zu einem gewaltigen Strom angeschwollen. Mit jedem Aufstand, jedem Krieg, jeder Missernte wurden es mehr. Das brachte der Fortschritt mit sich, der menschliche Arbeitskraft zunehmend ersetzte, und der Ansturm von Arbeitern aus Dänemark, Polen und Russland, die ihrem eigenen Elend entfliehen wollten und bereit waren, für geringeren Lohn härter zu schuften.
»Da ich aber noch nicht volljährig bin«, fügte Jakob hinzu, »brauche ich dafür Ihr schriftliches Einverständnis.«
Grischa warf ihm einen aufmerksamen Blick zu. »Demnach hat Lene nie geheiratet?«
»Doch. Aber mein Stiefvater ist dagegen. Außerdem ist es Ihr Name, der in meiner Geburtsurkunde steht.«
»Natürlich. Ich unterschreibe dir deine Papiere.«
Die Erleichterung lief wie ein Zittern durch Jakob. Nun griff er doch zu seinem Kaffee, der schon fast kalt war. Ein guter Kaffee war es, er hätte schon früher davon trinken sollen.
»Außerdem dachte ich«, sprach er weiter, mit jedem Schluck erst die Worte auf der Zunge kostend, »wenn jemand weiß, wie man sich ein neues Leben in einem fernen Land aufbaut, dann Sie.«
Grischa nickte wieder.
Eine befangene Stille breitete sich aus. Wie ein lauernder Abschied, bevor ein Willkommen überhaupt ausgesprochen war.
»Willst du so lange bei mir unterkommen?«, schlug Grischa dann vor. »Bis du fährst?«
Unschlüssig rieb Jakob mit dem Kinn über seine Schulter. Über die ersehnte Unterschrift hinaus hatte er sich wenig Gedanken gemacht, was ihn hier erwarten mochte. Sicher nicht, dass der Mann, der ihn vor zwanzig Jahren unwissentlich gezeugt hatte, ihm freundlich die Hand reichte.
Mit einem fragenden Ausdruck hob Grischa die Kanne, und nach kurzem Zögern ließ Jakob sich bereitwillig nachschenken.