33





Wie Glühwürmchen leuchteten die Laternen zwischen den Bäumen und Sträuchern. Auch jetzt, nach Sonnenuntergang, lag noch der Duft der Bauernrosen in der Luft.

In dieser Mainacht wirkte das Haus in Teufelsbrück wie verwunschen.

Katya hatte es sich nicht nehmen lassen, die Hochzeitsfeier für ihr Patenkind Finja auszurichten. Zwischen den blühenden Sträuchern hatten Finja und Martin gemeinsam die Hochzeitstorte angeschnitten, ihre Hand auf der seinen, was zu Scherzen Anlass gegeben hatte, die Martin mit vergnügten Erwiderungen parierte. Nach der Kaffeetafel war die Gesellschaft zu einem Spaziergang an der Elbe aufgebrochen, um dann zu einem kleinen, aber feinen Menü unter freiem Himmel zurückzukehren, nach dem man noch zusammen sitzen blieb oder durch den nächtlichen Garten wandelte.

Das Streichquartett hatte sich gerade mit einem Imbiss gestärkt, seinen Durst gelöscht und spielte erneut auf. Nach den romantischen und geradezu feierlichen Melodien vorhin kehrte eine jubelnde Ausgelassenheit ein, passend zur Stimmung in dem von Gelächter und angeheiterten Gesprächen erfüllten Garten.

Daniel, einer der Brüder des Bräutigams, lehnte sich neben Cathrin an den Baumstamm, einen erwartungsvollen Ausdruck auf dem Gesicht, das mit seinen starken Zügen etwas Draufgängerisches hatte.

»Kann ich dich jetzt vielleicht zum Tanzen überreden?«

Cathrin verneinte lächelnd.

»Schade«, schnurrte er mit einem letzten Rest Verführungswillen.

Nur halb bedauernd hob Cathrin die Schultern.

Betont lässig schlenderte Daniel durch den Garten und forderte dann Clara auf, die sich nicht zweimal bitten ließ; sie tanzte für ihr Leben gern und genoss es sichtlich, endlich zu den Erwachsenen zu zählen. Finja und Martin, in Brautkleid und Anzug von der schlichten Eleganz eines weißen und eines schwarzen Schwans, ließen sowieso keinen Tanz aus, um ihr gemeinsames Glück zu feiern.

Dass es am Morgen noch geregnet hatte, hatte diesem Tag keinen Abbruch getan. Vielmehr schien es ein gutes Omen zu sein, dass sich pünktlich nach der Trauung auch die letzten grauen Wolken verzogen hatten.

In Sankt Katharinen hatten Finja und Martin sich das Jawort gegeben, wie Hanno und Betje zuvor; der Legende nach hatte Cathrin, gerade ein paar Monate alt, an jenem Tag die halbe Kirche zusammengebrüllt und sich erst auf Katyas Arm wieder beruhigt. Auch Cathrins Großeltern hatten dort geheiratet, ihre Eltern und Katya und Thilo. Als ob sich ein Kreis schloss und ein neuer begann; Finja und Martin waren die erste Generation, bei der ein Photograph diesen Meilenstein vor dem Kirchenportal festgehalten hatte.

Ein karottenroter Haarschopf lugte hinter dem Baumstamm hervor.

»Vor wem versteckst du dich?«, raunte Hauke ihr zu.

Cathrin runzelte die Stirn. »Vor niemandem.«

Hinter Hauke tauchte Nils auf, das Strohblond seiner Kindertage zu einem Honigton nachgedunkelt.

»Sieht aber so aus!«

»Und was führt ihr zwei im Schilde?«, lenkte Cathrin gekonnt ab.

Mit Verschwörermiene legte Hauke den Zeigefinger an die Lippen, und in langen Schritten huschten sie in den nächtlichen Garten hinaus, zwei Großwildjäger, Schatzsucher, Detektive.

Cathrins Lächeln verlosch, während sie in die Baumkronen hinaufblinzelte. Tatsächlich hatte sie sich in den Schutz der Nacht zurückgezogen, weil sie an diesem Abend überall Jakob sah. Neben ihr am Tisch oder auf dem Platz gegenüber. Als verspätet eintreffender Gast in den Garten tretend oder als Schatten zwischen den Bäumen. Wohin Cathrin sich auch drehte und wandte, immer spürte sie seine Nähe.

Obwohl er sie so kaltherzig von sich gestoßen hatte, als er nach Amerika wollte, und sich nun am See ihrer Familie in Norwegen verkroch.

Tief durchatmend richtete Cathrin den Blick zum Haus hin. Jette und Ludger waren bereits gegangen. Cathrin hatte ihnen angesehen, dass sie nur anstandshalber gekommen waren; eine solch schlichte und bodenständige Feier traf nicht ihren Geschmack. Grischa tanzte gerade mit Frau Wisser, Herr Wisser mit Lore, einer Freundin Finjas, und Levke mit einem Cousin von Martin, der aus Cuxhaven angereist war. Marie hatte sich bald nach dem Essen zurückgezogen; von einem Fenster oben sah sie versonnen zu den Feiernden im Garten hinunter. Ihre Art, dabei und doch für sich zu sein, wie sie es brauchte. Wann immer jemand hinaufwinkte, winkte Griet neben ihr fröhlich zurück.

Cathrins Herz ging auf, als sie Jordis und Fiete Kopstede beobachtete, die sich zusammen im Takt der Musik wiegten, sie klein und rund, er hochgewachsen und hager, mit einem langen und einem kurzen Bein. Die Linke herunterbaumelnd, schmiegte Betje sich in Hannos Arm, zumindest für diesen einen Tanz nicht die Eltern der Braut, sondern schlicht Betje und Hanno, immer noch verliebt nach langen Jahren.

Liebende, fand Cathrin, waren wie in einen Goldschimmer gehüllt. Sie fragte sich, ob sie selbst das auch spürten. Und wie man jemals wissen konnte, dass man den einen Menschen gefunden hatte, der zu einem gehörte.

Gerrit, der Finjas Trauzeuge gewesen war, saß mit einem der Wisser-Brüder noch am Tisch; bestimmt ging es bei ihrer lebhaften Unterhaltung um Karpfen, Krabben und Hummer. Einen Augenblick lang war Cathrin versucht, ihre Abneigung gegen das Tanzen über Bord zu werfen und ihn aufzufordern.

Lisje Kopstede war schneller. Rotwangig und mit blitzenden Augen führte sie Gerrit auf den Rasen und zeigte ihm dann die Schritte eines Modetanzes. Lachend versuchte Gerrit sich daran, seine Blicke auf Lisje von einer Scheu, die Cathrin nicht an ihm kannte.

Lisje, die im Feinkostladen mit Feuereifer bei der Sache war und ständig neue Spezialitäten im Sinn hatte. In ihrem Brautjungfernkleid so weich und weiblich wie eine der Rosen im Garten, sah sie bei allem Übermut mit einer bewundernden Zärtlichkeit zu Gerrit auf.

Lisjes Strahlen sprang auf Gerrit über. Wie ein Docht, dessen Wachs erst langsam schmilzt, bevor er Feuer fängt, schien ein Leuchten auf Gerrits Gesicht auf und tauchte sie beide in einen goldenen Hauch.

Da wusste Cathrin es. Hätte sie Gerrit wirklich gewollt, hätte sie lange zuvor bereits Ja gesagt. Eine Erkenntnis voller Wehmut, und doch machte es ihr das Herz ein gutes Stück leichter.

Cathrin löste sich von dem Baum und schlich den Lichtkreis der Laternen entlang; nach einer ausgedehnten Verabschiedung, die womöglich Fragen zu ihrem vorzeitigen Aufbruch nach sich zog, war ihr nicht zumute. Sie musste jetzt allein sein.

Katyas scharfem Blick entging sie dennoch nicht. Mit Henning und einem Onkel des Bräutigams am Tisch, hob sie fragend die Brauen. Cathrin nickte beruhigend, um ihr zu bedeuten, dass alles in Ordnung war, und warf ihr eine Kusshand zu, bevor sie um das Haus herumging und sich rasch Hut und Handtasche aus der Garderobe holte.

Wenn sie Katya so sah wie an diesem Abend, im fünften Jahr ihrer Witwenschaft, gab es sicher schlimmere Schicksale als das einer alleinstehenden Frau.

Cathrins Schritte waren fest und sicher, als sie auf die Pferdewagen zustrebte, deren Kutscher sich bei einer Zigarette, einer Pfeife klönend die Zeit vertrieben. Im Garten hinter ihr brandeten die Stimmen zu einem Hoch auf das junge Paar auf, begleitet von Gläserklingeln; jemand rief nach dem Brautstrauß. Wie ein Trommelwirbel aus Menschenkehlen klang es, dann ein Tusch. Eine junge Frau kiekste verzückt auf, bevor Glückwünsche und Scherze auf sie niederprasselten. Lisje.

Halb traurig, halb merkwürdig froh gestimmt, lächelte Cathrin in sich hinein.


Als Schattenrisse dümpelten die Kähne im Binnenhafen, nur vereinzelt brannte in den Häusern am Kehrwieder noch Licht, es war schon spät.

»Danke, Jan«, sagte Cathrin, als sie aus dem Wagen stieg. »Lass dir zu Hause von Trude ein Stück Hochzeitstorte geben, ist noch genug übrig.«

»Woll«, erwiderte der junge Mann, inzwischen vom Stallburschen zum Kutscher befördert. »Ich bring Sie noch eben bis zur Tür, Fräulein Cathrin.«

»Nicht nötig. Ist doch immer noch eine halbwegs ehrbare Gegend. Nacht, Jan.«

Jan steckte die Münze ein, die Cathrin ihm reichte, und tippte sich zum Dank grinsend an die Mütze.

In langen Schritten eilte Cathrin in den Durchgang neben dem Feinkostladen und schloss die Haustür auf. Darauf hatte sie sich schon den ganzen Tag gefreut, wenn sie ehrlich war. Wie sie sich überhaupt jeden Tag darauf freute, nach Hause zu kommen, in ihre eigenen vier Wände, von Hanno und Betje gemietet.

Gerade heute kam ihr diese Wohnung wie eine Zuflucht vor. Seltsam eigentlich, wo sie sie doch praktisch unverändert von Gerrit übernommen hatte, der für die Zeit, die er noch hier war, wieder oben bei seinen Eltern mit Henning in einem Zimmer schlief. Und doch dachte Cathrin kaum je an ihn, wenn sie sich schlafen legte, in der Küche zugange war oder im Badezimmer. Was wahrscheinlich allein schon Bände gesprochen hätte.

Das Jawort von Finja und Martin heute hatte Erinnerungen an Tristans Hochzeit vor vier Jahren zurückgebracht. Bei dem Gedanken daran prickelte es heiß hinter Cathrins Augen. Judith kam zwar finanziell zurecht und fand starken Halt in Elli, Aurora und Grischa; dennoch tat sie sich schwer ohne Tristan, auf den Scherben ihres jungen und viel zu kurzen Glücks.

Vielleicht war das ein Zeichen für Cathrin, selbst noch einmal neu anzufangen. Grischa war mit dem Geschäftsführer, den er für Tristans Firma eingestellt hatte, nicht recht zufrieden, über kurz oder lang würde er wohl jemand anderen suchen. Cathrin kannte sich inzwischen ein wenig mit Kaffee aus, mit Geschäften sowieso, und sie stellte es sich aufregend vor, zwischen Hamburg und London zu pendeln; von dort mochte der frische Wind wehen, den sie sich so sehr ersehnte. Womöglich könnte sie den Handel ganz übernehmen, indem sie Judith auszahlte, ihre kaum angetastete Erbschaft gäbe das sicher her, und Kredite waren gerade günstig zu haben.

Darüber dachte sie nach, während sie im Schein der Gaslampen die Treppen zu ihrer Wohnung hinaufstieg.

»Hallo, Cathrin.«

Cathrin fuhr herum. Auf dem oberen Treppenabsatz schälte sich eine Männergestalt aus dem Halbdunkel und trat ins Licht.

Jakob.

Einige stolpernde Herzschläge lang geriet der Boden unter ihr ins Wanken; es brauchte einige Herzschläge mehr, bis sie wieder sicher stand.

Jakob ging ein paar Stufen hinunter auf sie zu, unwillkürlich wich sie zurück.

»Ich bin heute nach Hause gekommen«, erklärte er. »Grischa war nicht da. Ihr wärt auf einer Hochzeit, hat Réka erzählt.«

Cathrin starrte ihn nur an. Gut sah er aus mit seinem frisch getrimmten Bart, die Haut leicht gebräunt; in seinem schlichten Alltagsanzug auf athletische Weise schlank und doch kraftvoll.

»Sie hat auch gesagt, dass du jetzt hier wohnst«, sprach Jakob weiter und drehte dabei seinen Hut in den Händen. »Bei den Reintjes. Da dachte ich … Aber es steht nur dein Name an der Tür.«

»Ja«, erwiderte Cathrin, die langsam ihre Fassung zurückgewann. »Hier wohne nur ich. Und das bleibt auch so.«

Die hoffnungsvolle Erleichterung, die über sein Gesicht zog, ärgerte sie.

»Wenn ich länger auf der Feier geblieben wäre«, setzte sie hinzu, »oder gleich in Teufelsbrück übernachtet hätte, hättest du bis morgen da oben hocken können.«

»Ich hätte trotzdem auf dich gewartet.«

Cathrin runzelte die Brauen. »Du bist ein seltsamer Vogel, Jakob Levgrün.«

Sein Lächeln hatte etwas Entschuldigendes.

»Ich weiß.«

Kopfschüttelnd steckte Cathrin den Schlüssel ins Schloss, und Jakob eilte die letzten Stufen zu ihr herunter.

»Was willst du?«, herrschte sie ihn an.

Am liebsten hätte sie ihm die Tür ins Gesicht geknallt.

»Ich will dir ein Geschäft vorschlagen.«

Sie musterte ihn misstrauisch. »Was für ein Geschäft?«

Ein kleines Grinsen blitzte in Jakobs Mundwinkel auf.

»Ein ganz und gar irrwitziges und äußerst riskantes Geschäft.«

»Mitten in der Nacht?«

Jakob hob die Schultern und ließ sie wieder sinken.

»Das hat doch sicher bis morgen Zeit«, fauchte Cathrin.

»Wenn du es so lange aushältst, ja.«

Unter dem Seidenstoff kroch Gänsehaut über Cathrins Unterarme. Bei ihrer Neugierde, ihrem Ehrgeiz packte er sie, und das wusste er auch. Ihre Augen wurden schmal.

»Also schön. Komm rein. Aber nur für eine halbe Stunde.«


Die Schuhe abgestreift, wanderte Cathrin auf Strümpfen in der Küche herum, während sie Jakob zuhörte. Vorgeblich, um Tee aufzubrühen und in den Schränken nach Keksen zu kramen, die Gerrit vielleicht dagelassen hatte. Tatsächlich machte es sie nervös und wütend zugleich, dass Jakob bei ihr am Tisch saß, als wäre nichts gewesen.

Am meisten störte sie, welchen Sog das ausübte, was er ihr von seinen Eindrücken auf dem Auswandererschiff erzählte. Seine Gedanken, die Überfahrten für die Passagiere des Zwischendecks besser und komfortabler zu gestalten, brachten ihren Verstand auf Trab und ihren Geschäftssinn nicht minder. Irgendwann holte sie Stift und Papier zu sich an den Tisch, um Stichworte festzuhalten, Überlegungen zu skizzieren, Zahlen hinzuwerfen.

»Was hältst du davon?«, schloss Jakob seine Ausführungen, halb zaghaft, halb selbstbewusst.

Cathrin schwieg einige Augenblicke, während sie an ihrem Tee nippte und die Notizen vor sich betrachtete.

»Die Zahl der deutschen Auswanderer ist stark zurückgegangen«, sagte sie schließlich nüchtern. »Es sind fette Jahre im neuen Kaiserreich.«

»Das wird nicht so bleiben, Cathrin«, erwiderte Jakob mit einer gewissen Wärme. »Das tut es doch nie.«

Die Stirn in grüblerische Falten gelegt, schob sie die Blätter vor sich auf dem Tisch herum.

»Sei’s drum«, fügte Jakob hinzu. »Je fetter die Zeiten, desto mehr Leute können es sich leisten, nach Amerika zu fahren. Aus reinem Vergnügen, oder weil sie dort Geschäfte machen wollen. Und das sind ohnehin die Passagiere, die das große Geld bringen, da bin ich keineswegs blauäugig. Die Passagiere der dritten Klasse sind immer nur der Beifang. Und trotzdem finde ich, dass auch sie ein Recht darauf haben, anständig befördert zu werden.«

Cathrin zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Jakobs Idee dehnte das Spannungsfeld zwischen Wirtschaftlichkeit und moralischen Grundsätzen auf das Maximum aus, das machte sie so reizvoll.

»Was die Eisenbahn an Land jetzt schon ist«, setzte Jakob noch eins drauf, »wird die Schifffahrt zwischen den Kontinenten morgen sein. Das spüre ich in den Knochen, Cathrin.«

Cathrin trank einen langen Schluck und warf Jakob über die Tasse hinweg einen scharfen Blick zu.

»Wie willst du bitte schön der großen HAPAG Konkurrenz machen? Oder Sloman und all den anderen alteingesessenen Reedereien in Hamburg und Bremerhaven? Von den Briten, die in der Seefahrt von jeher die Nase vorn haben, gar nicht zu reden. Blue Funnel, White Star, Inman, Cunard, mit keiner dieser Linien könnten wir es auch nur annähernd aufnehmen.«

Die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft war die eine Reederei Hamburgs, die als erste mehr auf die Beförderung von Passagieren als auf Frachtgut setzte. Mein Feld ist die Welt, verhieß ihr Wahlspruch vollmundig. Allen Schwierigkeiten zum Trotz, den die zurückliegenden Kriegsjahre in Amerika und Deutschland mit sich gebracht hatten, stand das Unternehmen gut da.

Und doch war sie immer noch ein kleines und ziemlich glanzloses Licht, verglichen mit den englischen Titanen der Meere. Nun drängte auch noch die neu gegründete Deutsche Transatlantische Schifffahrts-Gesellschaft, nach ihrem Flaggentier kurz Adler-Linie genannt, auf den überschaubaren und hart umkämpften Markt. Neulinge würden da bestimmt nicht sehnsüchtig erwartet.

Jakob war jedoch um keine Erwiderung verlegen.

»Wie es die Eisbarone geschafft haben, dem Eiskönig von Boston die Stirn zu bieten. Indem sie sich abgeschaut haben, wie es geht, und daraus etwas Eigenes machten. Etwas Besseres. Etwas Großes.«

Was Jakob da vorschlug, war wirklich etwas Großes. Wesentlich größer als die ersten Fahrten der Eisbarone seinerzeit, an Aufwand, Kosten, Risiko. In der Tat ganz und gar wahnwitzig.

Jakob ließ nicht locker.

»Der Markt ist da, Cathrin, spätestens in ein paar Jahren. Wir müssen nur rechtzeitig am Start sein und es besser und billiger hinkriegen als alle anderen.«

Sie warf ihm einen schiefen Blick zu.

»Dass besser und billiger sich in der Regel ausschließen, weiß du, ja?«

Jakob grinste. »Dann brauchen wir nichts weiter als ein schnelles Schiff, das uns jeden unnötigen Tag auf See spart.«

Cathrin schüttelte den Kopf.

»Du versuchst die Quadratur des Kreises, Jakob. Einen solchen Dampfantrieb, wie du ihn dir offenbar vorstellst, gibt es wahrscheinlich noch gar nicht, sonst würde er schon auf den Meeren kreuzen. Falls er doch irgendwo gerade konstruiert und gebaut wird, kostet er nicht nur ein Vermögen, sondern wird dazu noch Unmengen an Kohle verschlingen, die ebenfalls bezahlt werden muss.«

Den Kopf in die Hände gestützt, brütete sie über ihren Notizen, während ihre Gedanken herumwirbelten.

»Egal, was es auch kosten wird«, sagte sie nach einer Weile leise. »So viel Kapital kriegen wir nicht zusammen. Ganz bestimmt wird uns beiden keine Bank der Welt einen solch hohen Kredit gewähren. Nicht einmal jetzt, da der Erfolg nur so auf der Straße liegt.«

»Vielleicht doch.«

Jakob griff in die Innentasche seines Jacketts, das über der Stuhllehne hing, und legte ein entfaltetes Papier vor Cathrin auf den Tisch.

Cathrin stockte der Atem. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus und steigerte sich dann zu einem Freudentaumel. Vor ihr lag die Erfüllung eines lebenslangen Traums, und die Möglichkeiten, die sich ihr damit eröffneten, juckten ihr förmlich in den Fingerspitzen.

Nur langsam wurde ihr klar, dass dieses Schriftstück auch Jakob und sie aneinanderband, ob sie wollten oder nicht.

»Jetzt sitzen wir wirklich in einem Boot«, sagte er.

Wohl oder übel, ging es Cathrin durch den Kopf.

Unmut empfand sie dennoch nicht, noch nicht einmal einen Anflug von Eifersucht, weil dieses Schriftstück Jakob als Grischas Sohn dasselbe zugedachte wie ihr als Christians Tochter. Als hätte er damit gerechnet, dass Cathrin Jakob hochkant hinauswerfen wollte, sobald er wieder auf ihrer Schwelle stand.

Ihr Vater schien sie wirklich gut zu kennen. Vor allem aber hielt er offenbar inzwischen große Stücke auf Jakob.

»Was für ein gerissener Fuchs«, murmelte sie anerkennend über der Unterschrift ihres Vaters.

»Ich weiß nicht«, drang Jakobs Stimme leise zu ihr, »ob ich der Verantwortung gerecht werden kann, die dein Vater mir damit übertragen hat. Aber ich will mein Bestes tun.«

Cathrin betrachtete ihr Spiegelbild und das Jakobs, das die Fensterscheibe aus Nacht und Lampenschein schuf. Merkwürdig verschwommen sahen sie beide darin aus, als müssten sie zu zweit erst zu einer klaren und scharfen Form finden.

»Ich will dieses Geschäft unbedingt machen«, beharrte Jakob. »Und ich will es mit dir zusammen machen.«

»Und warum sollte ich dieses Geschäft ausgerechnet mit dir machen wollen?«, schoss Cathrin zurück.

»Weil ich niemanden kenne, der das Unmögliche so sehr liebt wie du«, erwiderte er leise.

Cathrin senkte den Kopf wieder auf die beschriebenen Blätter vor sich. So musste es sein, wenn man mit dem neuen Medium der Elektrizität in Berührung kam. Ein heißes Kribbeln, das durch den ganzen Körper jagte und die Haut kräuselte.

»Ich muss erst darüber schlafen«, entgegnete sie.

Eine goldene Regel von Thilo, die sich mehr als ein Mal bewährt hatte.

»In Ordnung. Danke für den Tee.«

Jakob stand auf und zog sein Jackett von der Stuhllehne.

»Willst du jetzt noch nach Altona hinaus?«, entfuhr es Cathrin. »Um diese Zeit wirst du hier in der Gegend keine Mietdroschke mehr bekommen.«

Jakob zuckte mit den Schultern. »Dann gehe ich eben zu Fuß.«

Cathrin zögerte und erhob sich ebenfalls.

»Du kannst auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Ich hole dir Kissen und eine Decke.«


Der Widerschein des Sonnenaufgangs auf den Hausmauern flutete durch das Küchenfenster und fiel auf Cathrins Gesicht. Der starke Kaffee vertrieb nur unzureichend den Nebel in ihrem Kopf, während ihr Körper hellwach war, zappelig geradezu.

Das, was von der Nacht übrig geblieben war, hatte sie in einem wilden Wirbel aus Gedanken und Überlegungen verbracht, voller Fragen und Ideen.

Passagiere nach Amerika befördern. Ein im Grunde simples Vorhaben, dessen Fallstricke jedoch zahlreich und tückisch sein würden, vielleicht sogar die längste Zeit unübersehbar, das sagte ihr der Instinkt. Etliche Nummern zu groß schien dieser Plan, selbst wenn man schon gewisse Erfahrung im Verschiffen von Waren und ein Unternehmen wie Petersen & Voronin im Rücken hatte.

Genau dieses ungeheure Wagnis daran mochte der Grund dafür sein, weshalb Jakobs Idee sich wie mit Widerhaken in ihr festgesetzt hatte und ihr eine fast schon körperliche Lust bereitete.

Nüchtern betrachtet würde das größte Problem darin bestehen, genug Geld zusammenzubekommen. Nicht nur für ein Schiff und dessen Unterhalt und einen Liegeplatz. Sondern auch, um den laufenden Betrieb in der ersten Zeit über Wasser zu halten, die ganz bestimmt kein Zuckerschlecken sein würde, das war sie nie.

Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu den Deckenbalken hinauf. Mit zwölftausend Mark Banco hatten Thilo und Christian seinerzeit dieses Haus beliehen, Cathrins Großvater Arno hatte als Eigentümer den Darlehensvertrag unterschrieben. Damals eine gewaltige Summe, wenn man sonst nicht viel hatte und damit rechnen musste, mit seiner Geschäftsidee Schiffbruch zu erleiden. Hätten sie es nicht praktisch im letzten Augenblick geschafft, den Kredit zurückzuzahlen, hätten sie mit einem Schlag das Haus und den Gemischtwarenladen verloren.

Ungleich mehr Kapital würde heute Cathrin und Jakob zur Verfügung stehen, aber sie würden auch ungleich mehr Geld benötigen.

Eine Aktiengesellschaft mochte eine Lösung sein, so hatte auch die HAPAG vor etwas über zwei Jahrzehnten angefangen. Mit einem durchaus bescheidenen Kapital von dreihunderttausend Mark Banco. Cathrin erinnerte sich noch gut daran, wie Ludger bei einem Abendessen vor ein paar Jahren darüber gelästert hatte. Dennoch eine schwindelerregende Summe, selbst wenn man Cathrin Petersen hieß.

Hinter den Holzkränen und dem schon belebten Binnenhafen erstrahlte der Turm von Sankt Katharinen in der Morgensonne wie ein Leuchtfeuer auf See, und Cathrin lächelte entschlossen vor sich hin.

Alle hatten sie doch einmal klein angefangen. Schließlich war sie nicht nur die Enkelin eines Gemischtwarenhändlers, sondern auch die von Reeder Pohl und nicht zuletzt die Tochter, die Nichte der Eisbarone von Hamburg.

Cathrin füllte einen zweiten Becher mit Kaffee und ging auf leisen Sohlen hinüber ins Wohnzimmer. Das Gesicht halb im Kissen vergraben, die Decke bis zur bloßen Brust hochgezogen, schlief Jakob noch. Im Morgenlicht prägte sich die verheilte Narbe auf seiner Wange deutlicher heraus, die knotige Erhebung auf seinem Arm, wo ihn im Krieg eine Kugel gestreift hatte. Wie ein schiffbrüchiger Pirat sah er aus, der auf ihrem Sofa gestrandet war, und doch von einer Verletzlichkeit, die Cathrin die Brust eng machte.

Beneidenswert, wie tief er schlief, während sie kaum ein Auge zugemacht hatte. Um Cathrins Mund zuckte es. Strafe musste sein.

»Aufstehen!«, rief sie und stellte den Becher unsanft auf dem Tisch ab.

Mit einem erstickten Laut ruckte Jakob hoch und blinzelte suchend. Dann zog ein Lächeln über sein Gesicht, hell und warm wie das Licht zu dieser frühen Stunde.

»Morgen, Cathrin.«

Noch schläfrig, war seine Stimme dick und weich wie Polstersamt. Mit beiden Händen wühlte er durch sein Haar und setzte sich auf, so selbstverständlich, als wäre er hier zu Hause.

Cathrins Blick fing sich an seinen Brustmuskeln, den dunklen Härchen darauf, und mit dem nächsten Luftholen atmete sie seinen Geruch ein, der schwer und erdig und ein bisschen moosig war.

Schroff wandte sie sich ab.

»Beeil dich. Wir haben eine Menge vor.«

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