19
Schweigend ließ Jakob die Blicke Grischas über sich ergehen, während er seinen Tornister packte.
»Ich kann das nicht zulassen«, sagte Grischa rau.
»Ich bin volljährig«, gab Jakob genauso ruppig zurück. »Ich brauche deine Zustimmung nicht.«
Grischa schwieg einige Herzschläge lang.
»Hast du dich wenigstens von Cathrin verabschiedet?«, fragte er dann.
Jakob erstarrte. Eine verlegene Röte kroch ihm den Hals herauf, vielleicht war es auch nichts als blanker Zorn. Weil Grischa, der immer alles konnte, alles wusste, ihn sogar in dieser Hinsicht durchschaut hatte.
Jakob schüttelte den Kopf. Er wollte die Erinnerung an diese eine Nacht in der Elbe mit in den Krieg nehmen. Keine Vorwürfe, keine Missbilligung, womöglich eine Abfuhr. Vor allem wollte er, dass Cathrin den Mann in Erinnerung behielt, der er in jener Nacht gewesen war, im schwarzen Wasser unter dem Sternenzelt. Nicht einen zweiundzwanzigjährigen Burschen, der große Töne gespuckt hatte und nun kleinlaut der Wahrheit ins Gesicht sehen musste, wie elend ihm zumute war.
Ein Teil von ihm war überzeugt gewesen, in der Kaserne würde man ihn auslachen und nach Hause schicken. Ihn, den Grünschnabel, der keinen Wehrdienst abgeleistet und in seinem ganzen Leben noch keine Waffe in der Hand gehalten hatte. Doch sie hatten ihn genommen, wenn auch nur für Botendienste und kleine Kundschaftsgänge. Zumindest in der ersten Zeit; Jakob wusste nicht, ob es das besser oder schlechter machte.
Heillos verspekuliert hatte er sich, und die Falle, die er sich selbst in einem unbedachten Augenblick gestellt hatte, aus Eifersucht und Geltungsdrang, war zugeschnappt.
»Noch ist Zeit«, drang Grischa weiter in ihn. »Noch könnte ich dich freikaufen. Mein Wort zählt etwas in dieser Stadt. Nicht erst, seit ich das Bürgerrecht erworben habe.«
Jakob schüttelte erneut den Kopf, fester dieses Mal. Cathrin würde er danach nie wieder in die Augen sehen können.
Grischa blieb genauso hartnäckig.
»Bislang sind keine Schiffe der französischen Marine in Sicht, der Seeweg ist weiter offen. Wir finden noch einen Frachter, der dich auch nach Indien bringt. Oder wir schicken dich nach Amerika. Wohin du willst.«
Jakob blinzelte auf den Tornister unter seinen Händen. Nichts wünschte er sich in diesen Tagen mehr, als einfach zu verschwinden wie ein Maulwurf in seinem unterirdischen Gängewerk. Nur auftauchen dürfte er dann nie wieder, ein Fahnenflüchtiger, ein Deserteur. Nie wieder könnte er Cathrin gegenübertreten, mit ihrem brillanten Verstand, ihrer Geradlinigkeit und einer klaren Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch, nicht aufrecht und mit erhobenem Haupt. Falls er überhaupt je wieder deutschen Boden betreten durfte.
»Ich bin damals auch geflohen«, hörte er Grischa jetzt leise sagen, fast sanft. »Vor dem Gesetz, das mich zum Leibeigenen des Grundherrn machte. Und keinen einzigen Tag habe ich es bereut.«
Jakob riss den Kopf hoch. »Ich bin aber nicht wie du!«
Er brüllte es fast.
Grimmig funkelten sie einander an, unerbittlich und unversöhnlich. Ein Glutfeuer, das in Jakob allzu bald erlosch und zu Asche zerfiel. Sein Mund war ausgedörrt, er musste ein paarmal schlucken.
»Hast du jemals einen Menschen getötet?«, fragte er.
Grischas Blick verlor sich in einem Winkel des Zimmers. Manchmal suchte sie ihn noch heim, jene Oktobernacht in der Elbe. Mit einer Eiseskälte in seinen Adern, die schlimmer war als das Wasser in jener finsteren Nacht. Dass Jakob ihn danach fragte, schnitt tiefer in ihn als die Messerklinge damals.
»Einen jungen Mann«, sagte Grischa zögernd. »Dreißig Jahre ist es her. Er oder ich, darauf lief es hinaus.«
Mehr zu sagen brachte er nicht über sich, mehr brauchte er auch nicht zu erzählen, das entnahm er Jakobs Nicken, das entschlossen und furchtsam zugleich ausfiel.
»Ein dummer Junge bist du!«, brach es donnernd aus ihm heraus. »Alle beide!«
Letzteres bezog Tristan mit ein, der in seiner Uniform ins Zimmer trat, nachdem er sich in der Küche mit Rékas Kirschkuchen gestärkt hatte. Tristans Stellungsbefehl war spät gekommen, aber er war gekommen, obwohl sein Militärdienst im alten Hamburger Regiment schon mehr als fünfzehn Jahre zurücklag.
»Gerade du müsstest es besser wissen«, herrschte er Tristan an. »Verheiratet, ein kleines Kind zu Hause und das zweite unterwegs. Für dich wäre es doch ein Leichtes gewesen, dich freistellen zu lassen und in London darauf zu warten, dass dieser Krieg einfach vorbeigeht.«
Mit der Nachsicht der jüngeren Generation gegenüber der älteren hob Tristan seine kräftigen Brauen.
»Genau deshalb ziehe ich ins Feld. Ich will auch nach diesem unsinnigen Krieg noch in London Geschäfte machen. Dort schätzt man Drückeberger nicht sonderlich. Und meine Kinder sollen in einem freien und stolzen Hamburg groß werden. Nicht in einer Kolonie dieser Froschfresser. Du hättest an meiner Stelle sicher genauso gehandelt.«
Ein kleines Grinsen im Mundwinkel, versetzte Tristan Jakob einen Klaps auf den Rücken.
»Außerdem muss doch irgendjemand auf diesen Jungspund hier achtgeben.«
Ohnmächtig musste Grischa zusehen, wie seine beiden Söhne in den Krieg zogen. Und er fragte sich, warum er nach all den Stürmen in seinem Leben ausgerechnet diesen nicht hatte kommen sehen.