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Sanft schaukelte das Ruderboot über die Binnenalster. Rücklings auf die Ellbogen gestützt, streckte Cathrin die Beine von sich und reckte mit geschlossenen Augen das Gesicht in die Sonne. Ihren Strohhut hatte sie schon vor einiger Zeit abgelegt, die Schuhe abgestreift.

»Was ist das nur mit dir und den Schuhen?«, drang Jakobs Stimme zu ihr, im Takt seiner Ruderschläge.

Cathrin gab einen unbestimmt fragenden Laut von sich.

»Seit ich dich kenne, ziehst du dir die Schuhe aus, wo es nur geht.«

»Ich mag sie einfach nicht«, murmelte Cathrin schon leicht dösig. »Egal, wie gut sie mir passen, über kurz oder lang fühle ich mich darin eingeengt.«

Wie zur Bestätigung wackelte sie mit ihren bloßen Zehen.

»Trägst du deshalb auch keine Strümpfe?«

»Viel zu warm im Sommer. Und unter den langen Röcken sieht das auch keiner.« Um ihren Mund zuckte es. »Abgesehen davon ist das eine höchst unangemessene Frage an eine Dame, Herr Levgrün.«

Jakob lachte.

Unter halb gesenkten Lidern blinzelte Cathrin zu ihm hinüber. Seines Jacketts hatte er sich entledigt, die obersten Hemdknöpfe geöffnet. Die aufgekrempelten Ärmel ließen seine starken Unterarme sehen; unter der Maserung aus dunklen Härchen waren Sehnen und Muskeln in fortwährender Bewegung. Obwohl sie viel Zeit drinnen verbrachten, hatte seine Haut eine sommerbraune Färbung angenommen.

Cathrin tauchte die Hand in die Alster und spritzte Wasser in Jakobs Richtung. Grinsend schüttelte er sich die Tropfen vom Gesicht, und das dunkle Haar fiel ihm ungebärdig in die Stirn.

Beide genossen sie die Leichtigkeit dieses Sommertags. Zeit, die sie sich ganz frech einfach gestohlen hatten, um einmal den Kopf freizubekommen. Nach dem Tagesgeschäft im Kontor und den Lagerräumen von Petersen & Voronin dehnten sich die Stunden, in denen sie weiter an ihrem kühnen Plan des Passagierdampfers feilten, bis spät in die Nacht hinein, und fraßen dazu noch jeden Samstag, jeden Sonntag.

Einen freien Kopf konnten sie wahrhaftig gut gebrauchen. Die Inneneinrichtung für die erste und zweite Klasse, wie sie ihnen vorschwebte, erwies sich beharrlich als zu teuer, sogar mit dem günstigen Preis, den Fiete ihnen für Schreinerarbeiten bot. Angelehnt an die Ozeandampfer, die sie im Hafen besichtigt hatten, hätte sie sein sollen, ausgestattet wie die Salons in Cathrins Elternhaus und in den Villen, in denen Cathrin schon zu Gast gewesen war. Das Budget mit Trödel und Talmi zu strecken war genauso wenig eine Lösung; nicht für die zahlungskräftigen und damit anspruchsvollen Passagiere, die sie sich erhofften.

Selbst jetzt konnte Cathrin die Gedanken an das Unternehmen nicht von sich schieben. Das von Christian unterzeichnete Dokument, von dem bislang nur sie und Jakob wussten, lag ihr zunehmend schwer im Magen.

»Irgendwann müssen wir es ihnen sagen«, ließ sie sich vernehmen. »Ich fühle mich nicht wohl dabei, das weiter vor Katya und Grischa geheim zu halten.«

»Und vor Ludger«, warf Jakob ein.

Der Blick, der zwischen ihnen hin und her ging, war von erheiterter Ironie.

»Wir werden es ihnen auch sagen«, bekräftigte er dann. »Wenn wir so weit sind. Und das sind wir ja fast. Ich habe deinem Vater versprochen, dass wir so lange damit warten.«

Darüber schien Jakob nachzusinnen, während er das Boot um zwei dümpelnde Schwäne herumsteuerte, die in majestätischer Arroganz gar nicht daran dachten, ihrerseits auszuweichen.

»Ich konnte Christian lange nicht einschätzen«, begann er dann nachdenklich. »Wie unter einem Brennglas kam ich mir anfangs bei ihm vor, mit seinem scharfen Blick. Seine ganze Art war mir fremd. Als ob für ihn alles ein Spiel wäre, in dem er von vornherein auf der Gewinnerseite steht. Erst in Norwegen habe ich ihn besser kennengelernt. Ich bin ihm dankbar, dass er für mich da war. Ohne ihn hätte ich wohl nicht den Mut aufgebracht, zurückzukommen und mein Leben neu anzupacken.«

Bald ein Jahr war Christian jetzt am Voroninvatnet. Ein Einsiedler an einem verlassenen See, der Buße tat; wofür, das wusste nur er allein. Und gerade jetzt hätte Cathrin seine Erfahrung, seinen Einfallsreichtum gebraucht, vielleicht auch schlicht seine Anerkennung.

Spätestens, wenn Eltern schwer krank wurden oder starben, wenn sie auszogen, um wieder ihr eigenes Leben zu leben, schwand der letzte Rest an Kindheit dahin und zwang einen unwiderruflich, erwachsen zu sein.

»Ich denke bei ihm oft an einen Eisberg«, erwiderte Cathrin leise. »Mit scharfen Kanten und Graten, an denen sich die Sonne bricht und einen blendet. Wenn man ihm aber nahe genug kommt, dann lässt er tief blicken.«

»Ja. Ein großartiger Mensch.«

Ein kleines Lächeln schien zwischen ihnen auf.

»Dein Vater ist auch großartig«, sagte Cathrin dann.

Jakob lachte. »Solange man nicht sein Sohn ist. Wir kommen zwar gut miteinander aus, aber trotzdem gibt es Momente, in denen ich mich dagegen wehre, ihm ähnlich zu sein. Und andere, in denen ich fürchte, ich bin ihm nicht ähnlich genug. Womöglich ist das immer so zwischen Vätern und Söhnen, ich weiß es nicht.«

Cathrin gluckste in sich hinein und setzte sich auf.

»Zu meinem Unwillen entdecke ich auch mehr und mehr Ähnlichkeiten zwischen Henny und mir. In ganz kleinen alltäglichen Dingen. In einem Gedanken, der mir durch den Kopf schwirrt, oder wenn ich den Mund aufmache und einen Augenblick lang klinge wie sie.«

Jakob ließ die Ruder ruhen. »Sie muss dir sehr fehlen.«

Cathrin blinzelte auf das Wasser hinaus, auf dem Sonnenfunken tanzten.

»Seltsam, nicht?«, raunte sie dann. »Dabei standen wir uns nie sonderlich nahe. Nicht, bevor sie krank wurde.«

Eine Flaumfeder trieb vorbei. Ein winziges Himmelsboot, wie aus dem Stoff der Seele gemacht. Cathrin fischte sie heraus und wog sie auf der Fingerkuppe.

»Ich würde ihr so gern von unseren Plänen erzählen«, flüsterte sie. »Ich glaube, das hätte ihr gefallen, ein solcher Ozeandampfer. Vielleicht wäre sie sogar mitgekommen auf unserer ersten großen Fahrt.«

Jetzt war es Jakob, der auf das funkelnde Wasser sah.

»Dass du sie vermisst, wird auch nicht so schnell aufhören«, sagte er rau. »Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes sagen, aber das wäre gelogen.«

Sachte blies Cathrin die Feder davon und beobachtete sie im schwebenden Flug, ihr gewichtloses Aufsetzen auf dem Wasser.

»Bereust du, dass du nach Hamburg gekommen bist?«, fragte sie.

Nachdenklich rieb Jakob das Kinn an der Schulter.

»Ich bereue einiges«, antwortete er nach einer Weile. »Vieles hätte ich lieber nicht erlebt oder würde es gern ungeschehen machen.«

Cathrin hörte das Echo des Krieges heraus, über den er sonst nie sprach. Ihr Herz zog sich zusammen und wurde bei seinen nächsten Worten dann groß und weit.

»Aber nicht, dass ich nach Hamburg gekommen bin, nein«, setzte er hinzu. »Und auch nicht, dass ich mich dafür entschieden habe hierzubleiben.«

Mit einem tiefen Durchatmen zog Jakob die Ruder wieder zu sich heran.

Cathrin hockte sich auf die Fersen und reckte sich vor, um nach einem der Ruder zu fassen.

»Lass uns tauschen.«

»Finger weg, Leichtmatrose«, entgegnete Jakob mit einem Grinsen im Mundwinkel.

»Ich bin an der Reihe«, beharrte Cathrin und packte fester zu.

Jakobs Hand schloss sich um ihre, sanft und doch mit Nachdruck.

»Was das Geschäftliche angeht, überlasse ich dir gern die Zügel, Cathrin Petersen. Aber hier bin ich am Ruder.«

Das Timbre seiner Stimme brachte etwas in ihr zum Vibrieren. Tief und unergründlich waren seine Augen dabei, und so dunkel, dass sie sich darin spiegelte.

»Aye, Sir«, gab sie keck zurück.

Dennoch waren ihre Knie weich, als sie sich wieder setzte. Bis zur Brust zog sie sie hoch, um ihren wilden Herzschlag zu beruhigen, der ihr vorkam wie ein Nachhall des Zuges, der ratternd und schnaufend über die Lombardsbrücke rollte.

Falls es auf dieser Welt einen Mann für Cathrin gab, so müsste er wie Jakob sein. Eine Küstenlinie für das ungezügelte Meer in ihr. Kein starr gemauerter Kai, an dem sich die Wellen brachen, sondern aus schwerem Sand und glatt polierten Steinen, zwischen denen das Wasser aufschäumte und frei auslief.

Dennoch fehlte ihr der Mut, sich ihm stürmisch entgegenzuwerfen; vielleicht war auch sie diejenige, die noch nicht so weit war. Geduldig auszuharren und den Dingen ihren Lauf zu lassen war eine neue Erfahrung für sie.

Im Wind, der warm war und sonnengetränkt, ließ Cathrin den Blick umherschweifen. Vor dem Blau von Himmel und Wasser wirkten Wolken und Schwäne wie frisch gewaschen. Weiß wie die Möwen mit ihren roten Schnäbeln und Stelzen, die heimlichen Herrscher über die Fleete und Flüsse der Stadt. An Muschelschalen erinnerten die hellen Fassaden am Alten und Neuen Jungfernstieg zwischen dem Rostbraun der Backsteine und dem Grünspan gealterten Kupfers.

Die Farben Hamburgs.

Farben, die sich in der Kleidung der Passanten und Flaneure am baumbestandenen Ufer wiederholten und weiter abtönten. Zartes Blau und lichtes Grau, Beige und Minzgrün, Eierschale und Marineblau. Wie Eisen und Stahl, wie Meer und Kiesel und die Schuppen einer Fischhaut.

Eine Palette hanseatischer Zurückhaltung, frisch und ein bisschen kühl wie der Wind über der Elbe. Die Farben des Nordens.

Cathrin dachte an das Eis, mit dem ihre Familie reich geworden war, und an die Berge, Fjorde und Seen Norwegens, wo es herkam. Gedankenverloren tauchte sie die Hand ins Wasser. Als Kind hatte es sie fasziniert, dass die Binnenalster tiefblau war, aber sobald man vom Rand aus direkt hineinsah, trübte sie sich zu Ocker ein.

Eine Frage des Blickwinkels, wie so vieles.

»Erinnerst du dich«, fragte sie, »wie du einmal sagtest, wir Hamburger seien aus Wasser und Wind gemacht?«

Die Art, wie sich Jakobs Ruderschläge verlangsamten, verriet ihr, dass er sich sehr gut daran erinnerte, noch bevor er bejahte. Sie hob den Kopf.

»Und wenn wir unseren Dampfer genauso einrichten? Nicht wie den plüschigen Salon einer Bürgervilla, sondern wie ein Strandhaus an der Elbe. Voller Licht und Luft, sodass man auch in der Kabine das Gefühl von Meer und Wind hat. Von Freiheit. Von Hamburg.«

Jakob war anzusehen, wie es in ihm arbeitete. Dann erhellten sich seine Züge, glänzten seine Augen. Er ließ die Ruder los und beugte sich vor, und die Hand in Cathrins Nacken, küsste er sie fest auf den Mund.

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