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Den Tod konnte man riechen.

Nach dem Pulverqualm und Eisen abgefeuerter Kugeln und explodierender Granaten roch er. Nach dem Brodem ungewaschener Leiber und nach ungeputzten und ausgedörrten Mündern, in denen das Zahnfleisch aufquoll, die Zähne faulten. Nach Eiter und ausgehustetem Schleim, Pisse und gärendem Durchfall; nach brandigem Fleisch und saurem Angstschweiß. Wie die Zeltplanen, die im Dauerregen moderten, und die stockfleckigen Uniformen, die den Soldaten in Lumpen von der Haut fielen.

Diesen Geruch ließ man nicht hinter sich. Zu tief fraß er sich in die Atemwege, ätzte sich in jede Pore. Man nahm ihn mit, wohin man auch ging, viele, viele Meilen weit.

Die Blicke der Passanten streiften den ausgezehrten Mann, der auf der Altonaer Palmaille herumstand; einige starrten unverhohlen neugierig, andere abschätzig oder mitleidig. Zwei junge Männer stießen sich grinsend an.

Es war offensichtlich, dass er nicht hierhergehörte, das dunkle Haar zottelig, der Bart verfilzt, eine grob vernähte und schlecht heilende Wund im Gesicht. Am Leib trug er die schmutzigen Sachen, die er einem erschossenen französischen Bauern ausgezogen und über Monate hinweg in seinem Tornister herumgetragen hatte wie einen Talisman.

Vor fast genau vier Jahren hatte er schon einmal hier gestanden, unter diesen Bäumen, mit Blick auf die feudalen Häuserreihen. Jakob Levgrün aus Lüneburg, der seinen unbekannten Vater sprechen wollte. Jetzt hatte er fast vergessen, wer dieser Jakob Levgrün einmal gewesen war.

Schmerzhaft grell stachen ihm die Farben der Frauenkleider und ihrer Hüte ins Auge, wie blank polierte Münzen wirkten die Herren in ihren Anzügen. Er hatte vergessen, dass es solche Geschöpfe auf dieser Welt gab, schön und sauber, zivilisiert und höflich. Menschen im besten Sinne des Wortes.

Keine zähnefletschenden und brüllenden Bestien, die sich durch den Dreck wühlten und alles abschlachteten, was ihnen in die Quere kam, um selbst zu überleben, und sich dabei nicht selten vor Angst in die Hosen machten.

Jakob fragte sich, wie viele dieser feinen Bürger später auf dem Rathausmarkt erscheinen würden, um dem zwar dezimierten, aber siegreichen 2. Hanseatischen Regiment No. 76 zuzujubeln, das an diesem Samstag mit allen Ehren in der Stadt empfangen wurde.

Er selbst hatte kein Verlangen nach Pomp und Gloria, er war lange genug in Reih und Glied mitmarschiert. Der Krieg hatte nichts Heroisches. Eine Apokalypse war er, von Menschenhand gemacht.

In der Kaserne hatte er die zerschlissenen Überreste seiner Uniform abgegeben und seine Papiere abgeholt. Nicht länger ein Rädchen in der Maschinerie des Todes, aber noch lange nicht frei.

Eine junge Frau ging vorüber, einen Korb am Arm; ein Dienstmädchen, das ihn mit gerunzelten Brauen musterte. Das Weiß ihrer Schürze, ihrer Haube erinnerte Jakob an Schnee, der längst seine Unschuld verloren hatte.

Blutgetränkt und vom Schießpulver verrußt war der Schnee in Frankreich gewesen. So viele Soldaten hatte er dort liegen, kriechen, robben sehen. Die Beine, die Arme zerfetzt, die Gesichter zerschossen und das Gedärm herausgerissen.

Wie verwundbar eines Menschen starker Leib war, wie fragil doch Knochen und Gewebe und Organe. Wie zäh die Seele, die darin wohnte, noch nicht bereit zu gehen und doch um Frieden bettelnd.

Délivrez-moi. Délivrez-moi, mon Dieu.

Erlöse mich.

Jakobs Lider zuckten. Das Dienstmädchen schritt flotter aus, mit ängstlich hochgezogenen Schultern und einem entrüsteten Kopfschütteln.

Zitternd zog Jakob an der brennenden Zigarette zwischen seinen Fingern. Alle hatten sie im Feld zu rauchen begonnen, billigen Tabak in noch billigerem Papier. Rauchen betäubte den Hunger und den Durst, den Schmerz und den Ekel und die Angst. Ein loser und viel zu dünner Strohhalm, an dem sie sich festhielten, weil es keinen anderen gab.

Bei jedem Zug spürte Jakob die Lücke in seinem Kiefer. Den vereiterten Backenzahn hatte ihm der Feldarzt mit der Zange herausgebrochen; Morphium hatte es nur für die schwer Verwundeten gegeben, solange welches vorrätig war.

Mit dem Zigarettenrauch inhalierte er den Duft der gerade aufgehenden Lindenblüten.

Genauso süß und geradezu betäubend hatte das Morphium im Lazarett gerochen, während es draußen vor den Zelten schweflig stank wie in der Hölle. Metallisch rostig roch der Tod, im Sumpf aus Blut und Hirnmasse und zerfetzten Eingeweiden, gleichgültig, ob von Mensch oder Tier. Der Tod roch nach brennenden Häusern, versengtem Haar und verkohltem Mensch und nach der Erde, die man aufbrach, um die Massen von Leichen zu verscharren. Nach dem ekelerregend süßen Atem der Verwesung, über dem Schwärme von Fliegen surrend herniedergingen.

So roch der Tod.

Jakob ließ den Zigarettenrest zu den anderen Stummeln auf dem Boden fallen und setzte sich in Bewegung. Das rechte Bein schleifte dabei nach. Es würde wieder in Ordnung kommen, hatte der Arzt im Lazarett gesagt, aber Jakob war das einerlei.

Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen. Nicht weil er unbedingt nach Hause wollte. Sondern weil er nicht wusste, wo er sonst hinsollte.

Beinahe hätte Réka ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen, erst im letzten Augenblick erkannte sie ihn. In heller Aufregung bekreuzigte sie sich und rief nach Herrn Voronin.

Dunkel zeichnete sich Grischas Gestalt im sonnendurchfluteten Korridor ab. Ein starker Fels, auf den Jakob zutrieb wie eine Flaumfeder. Vor seinen Augen flimmerte es, er geriet ins Schwanken, und Grischa fing ihn auf.

»Ich hab dich, mein Junge«, murmelte er. »Ich hab dich.«

An seinen Vater geklammert, begann Jakob zu weinen.


Der blasse Lichtstreif des frühen Morgens zeichnete sich unter den zugezogenen Vorhängen ab und verdünnte den Schein der Lampe, die die Nacht erhellt hatte. Seit dem Nachmittag schlief Jakob, seitdem saß Grischa hier an seinem Bett.

Unsicher auf den Beinen, hatte Jakob nur wenig Gegenwehr geleistet, als Réka ein heißes Bad einließ und Grischa ihn entkleidete. Ein Bild das Jammers hatte sich Grischa geboten, das dunkle Schattental von Jakobs Scham wie eine traurige Erinnerung daran, dass er einmal ein starker junger Mann gewesen war, die kleine Ewigkeit eines einzigen Jahres war es her.

Wie die Spanten eines Schiffswracks waren seine Rippen sichtbar, das Rückgrat wie bei der Karkasse eines Wals, und wie sich die Knochen von Armen und Beinen durch die dünne und fast transparente Haut drückten, erinnerte an eine Fledermaus. Verstockte Schluchzer und wohlige Seufzer hatte Jakob von sich gegeben, während Grischa ihn wusch wie ein kleines Kind, ihn dann rasierte und ihm einen Pyjama überzog wie bei einem alten Mann. Einen Teller mit Kartoffelbrei und gebratener Wurst im Magen, war Jakob anschließend ins Bett getaumelt.

Ohne Bart und durch den offen stehenden Mund schnaufend, glich Jakob auch im Schlaf einem vergreisten Jungen. Allein die entzündete Wunde zwischen Schläfe und Wange hielt ihn in der Gegenwart, in der er noch nicht einmal vierundzwanzig Jahre alt war. Grischa hatte den Arzt benachrichtigt, der sich an diesem neuen Tag die Verwundungen ansehen sollte, die Jakob aus dem Krieg mitgebracht hatte.

Solche Narben, wie Jakob sie auf seiner Haut trug, hatte Grischa schon einmal gesehen, damals bei Wolf. Ein grüner Junge war Grischa da noch gewesen, trotz der Härten, mit denen er groß geworden war. Nahezu unbeleckt von den Dingen der Welt, war er sich dennoch mächtig reif und erwachsen vorgekommen, im Rausch der See und der Jagd und der Lust.

Es geht nicht ums Geld, hatte Wolf gesagt. Um Macht. Sondern um das Töten. Den Durst nach Blut. Frauen vergießen ihr eigenes Blut, schenken Leben. Männer schlachten und lassen die Welt ausbluten.

Erst heute, Jahrzehnte später, verstand er, was Wolf damit gemeint hatte. Nachdem sie Tristan verloren hatten. Ellis Sohn, der auch zu seinem geworden war. Sein Goldjunge.

Grischa war vier Jahre alt gewesen, als seine Mutter in einer Blutlache starb wie eine geschlachtete Ziege, nachdem sie Katya geboren hatte. All die Jahre, die seither vergangen waren, hatte er damit zugebracht, jenem Wintertag auf dem Gehöft in Russlands Norden zu entkommen. In einer unausgesprochenen Abmachung mit dem Tod, die zu verschonen, die er liebte, wenn er sie nur weit genug von sich entfernt hielt und als einsamer Wolf durch die Gegend zog.

Der Tod war nicht nur ein Betrüger, sondern auch mit einem scharfen und gnadenlosen Blick begabt. Er schlug dort zu, wo es am meisten wehtat, und lachte einem dann noch höhnisch ins Gesicht. Kein Geld, keine Macht der Welt konnte einen davor bewahren.

Reich war Grischa sich immer vorgekommen mit all den Lieben, die er erlebt hatte, ohne je seine Freiheit aufzugeben. Ein schlechtes Geschäft war es gewesen, mit dem er sich selbst um so vieles gebracht hatte. Die Kindheit seiner Söhne und Töchter zur Gänze auszukosten. Eine Liebe zu erleben, die sich bis zum Ende der Tage ausdehnte und über den Tod hinaus eine ganze Welt an Erinnerungen hinterließ.

Einundsechzig Jahre alt war er jetzt, ein vermögender Mann, und saß doch wie mit leeren Händen da.

Jakobs Atem ging flacher; nicht zum ersten Mal wich sein bleierner Schlaf einer fieberhaften Unruhe. Wie ein geprügelter Kettenhund, der nach den Schatten an der Wand schnappte, warf Jakob sich hin und her, winselte und jaulte und knurrte hinter gebleckten Zähnen.

Grischa flüsterte Jakobs Namen und fasste ihn sanft an der Schulter. Mit einem gurgelnden Laut fuhr Jakobs Kopf hoch; die Augen schreckgeweitet, blickte er keuchend umher.

»Du bist hier sicher«, raunte Grischa.

Was für ein großes und gewagtes Versprechen in einer Welt wie dieser. Geben musste Grischa ihm dieses Versprechen dennoch.

Aufseufzend ließ Jakob sich zurückfallen. Zwischen Lampenschein und Morgenlicht lösten sich seine Züge, unter seinen Wimpern sammelte sich eine Träne und tropfte auf das Kissen.

Nur wenige Atemzüge später war Jakob wieder eingeschlafen, die Hand in der seines Vaters.

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