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Henny Petersen war schon zu Bett gegangen. Als sie unten im Haus Stimmen zu hören glaubte, zog sie doch noch einmal ihren Morgenrock über. Mit suchenden Blicken tapste sie durch das Haus, das sie nachts sanft beleuchtet hielten; Marie schlief manchmal schlecht und wanderte dann durch die Flure, um sich zu beruhigen.

Vor der Tür zu Mathilde Pohls Zimmer blieb Henny kurz stehen und horchte. Bis ihr einfiel, dass das Bett ihrer Mutter leer war, die Erinnerungsstücke an ein langes Leben teils an Jette weitergegeben, teils auf Hennys Kommode oder auf dem Dachboden verstaut.

Im Salon versanken Hennys bloße Füße im weichen Teppich. An einem der Fenster zeichnete sich die Silhouette Christians ab.

»Ist Cathrin noch immer nicht zu Hause?«, erkundigte Henny sich besorgt.

»Sie bleibt heute Nacht in Teufelsbrück. Der Stallbursche ist hergeritten, um uns Bescheid zu sagen.«

»So spät noch? Bei diesem Wetter?«, empörte sich Henny. »Da jagt man doch nicht einmal einen Hund vor die Tür. Der arme Kerl!«

»Ach komm, der Regen hat doch schon vor geraumer Zeit nachgelassen. Und der Bursche ist womöglich froh, mal ein paar Stunden in der Stadt zu verbringen. Wahrscheinlich haut er gerade irgendwo in einer Spelunke sein Trinkgeld auf den Kopf.«

»Umso schlimmer. Nur weil das feine Fräulein Tochter wieder einmal seinen Kopf durchsetzen muss.«

Christian seufzte müde, doch Henny ließ nicht locker.

»Sie kommt und geht, wie es ihr gerade passt, Christian. Die Leute reden schon, dass sie immer noch so rastlos umherfliegt wie eine Möwe über dem Fleet. Mit bald dreißig Jahren!«

»Dann lass die Leute reden. Du und ich wissen doch, dass Cathrin nichts als die Arbeit im Kopf hat.«

»Das ist es ja gerade!«

Die unrühmliche Wahrheit war, dass Henny ihre jüngste Tochter beneidete. Jette war eine bessere, eine verfeinerte Version ihrer selbst, Marie ihr Sorgenkind. Cathrin jedoch leuchtete so hell wie der Mond. Wäre Henny jemals so gewesen, hätte sie die Nächte durchgetanzt und sämtliche Männer um den Finger gewickelt. Stattdessen vergrub Cathrin sich zwischen torfummantelten Eisblöcken, Kaffeesäcken und Bilanzbüchern, ihre besten Jahre schon längst verschenkt.

»Das haben wir allein Katya zu verdanken«, fügte Henny hinzu.

»In der Tat«, entgegnete Christian ruhig. »Wir haben allen Grund, Katya dankbar zu sein. Sie war es schließlich, die unsere Tochter großgezogen hat.«

Hennys alte und nie verheilte Wunde. Nichts, aber auch gar nichts schien sie zu Cathrin beigetragen zu haben. Der Umstand, dass sie diejenige gewesen war, die Cathrin neun Monate in sich getragen, in die Welt hinausgepresst und an ihrer Brust genährt hatte, fast vergessen.

Ganz und gar Katyas Tochter war sie geworden, genauso eigenwillig und weltgewandt. Weil Henny nicht in der Lage gewesen war, mit ihrem eigenen Kind fertigzuwerden.

»Immer nimmst du Katya in Schutz!«

»Das ist nicht wahr, und das weißt du auch.«

Beide wussten sie, dass das nicht stimmte.

Ein Mal war ihm Katya wichtiger gewesen als alles andere. Das eine Mal, als Henny mit Cathrin in den Wehen lag, ein Kind, das sie nach zwei schweren Geburten eigentlich nicht hätte haben können und vor allem nicht hätte haben sollen. Der Geburtsschmerz war nichts gewesen gegen die Angst, mit jeder Wehe näher auf den Tod zuzutreiben. Umso fester hatte sie sich an ihren Schwiegervater Arno geklammert, dankbar für Thilos unerschütterliche Ruhe und die Tatkraft von Betje und Hanno, die doch selbst noch halbe Kinder gewesen waren.

Während Christian in die brennende Stadt gelaufen war, um nach Katya zu suchen.

Was aus ihm zweifellos einen Helden machte, aber auch einen Ehemann, der seine Frau in der Stunde der Not im Stich ließ. Nichts hatte er seither unversucht gelassen, um dafür Abbitte zu leisten, und doch saß der Stachel noch immer tief, so großmütig Henny auch sein wollte.

Ihre Augen liefen über.

»Entschuldige. Seit Mutter …«

Wie ein dürrer Grashalm war die greise Mathilde Pohl immer weiter verkümmert und schließlich einfach verweht, mit fast neunzig Jahren. Gerade mal einen Monat war es her, Christian war noch mit Ludger und Cathrin in Kairo gewesen. Seitdem trug Henny ein kummervolles Ziehen im Bauch mit sich herum, bei dem ihr manchmal geradezu übel wurde.

Christian schloss sie in die Arme.

»Es tut mir leid, dass ich nicht hier war.«

Sich an Christian zu schmiegen, schlank und sehnig wie eh und je, machte vieles wieder gut. Wie es das in Christians Nähe immer schon getan hatte. Seit jenem Frühsommertag im Gemischtwarenladen, als Henny siebzehn gewesen war, eher drollig als apart und ständig von ihrer Mutter bekrittelt. Und Christian, der gut aussehende und charmante Christian Petersen, den alle Mädchen auf dem Kehrwieder haben wollten, hatte ihr gesagt, dass sie hübsch aussah.

»Geh zurück ins Bett«, murmelte er in ihre blonden Locken hinein, deren Ergrauen Henny sorgfältig mit Zitronensaft aufzuhalten versuchte. »Ich komme auch gleich.«

Henny hielt ihn einen Augenblick länger fest als nötig. Endlich befreit von den drohenden Schatten einer Empfängnis, einer Geburt, hatte eine neue Zärtlichkeit zwischen ihnen Einzug gehalten, im gemeinsamen Schlafzimmer.

»Lass mich nicht zu lange warten«, wisperte sie.


Christian harrte dennoch weiter am Fenster aus. Obwohl er wusste, dass er nicht mehr nach einem Wagen Ausschau halten brauchte, der Cathrin nach Hause bringen würde.

Nie hatte er sie glücklicher gesehen als in Ägypten. Wenn sie mit geschürzten Röcken durch den Nil gewatet war, der ein grünes Band durch die Wüste zog, und als sie auf Kamelen zu den Pyramiden und der Sphinx ritten, die Sonne geheimnisvoll verschleiert von Dunst und Staub.

Offenbar hatte es diese Reise in den Orient gebraucht, damit Christian seine Tochter zur Gänze sehen und begreifen konnte. Ein glänzender Diamant war sie und mehr als bereit, die Welt für sich zu erobern.

Im Lauf dieses Jahres hatte er den Staffelstab endgültig an Ludger übergeben und sich aus der Firma zurückziehen wollen, nun hatte er sich anders besonnen. Auf eigentümliche Weise fasziniert und berührt davon, Cathrin im Kontor zu beobachten und einzugreifen, sollte es nötig werden.

Nicht allein ihr helles Haar hatte sie zu einem Magneten auf den souqs von Kairo gemacht. Es war die Art, wie sie mit wachen Sinnen alle Eindrücke aufsog und den Menschen dort mit einem offenen Lachen begegnete, ihr Englisch und Französisch rasch mit den ersten Brocken Arabisch durchsetzt, die sie sich dort angeeignet hatte. Wie sehr sie ihm dabei ähnelte, fast so, als hätte sie sich das eine oder andere bei ihm abgeschaut, war eine kleine Eitelkeit, die er sich erlaubte.

Genau so war Christian damals über den Basar von Madras gestreift, mehr als drei Jahrzehnte war es her. Berauscht vom Erfolg und davon, das gerade erst erworbene Vermögen gleich wieder mit vollen Händen auszugeben, für Seide und Kattun, Federn und Felle, für Kaffee und Gewürze. Ein Rausch, der sich bis tief in die Nacht fortsetzte, während er Katya im Arm hielt und ihr ein Versprechen gab, das er am Ende doch nicht halten konnte.

Manchmal stellte er sich vor, wie es gewesen wäre, hätte er sein Wort nicht brechen müssen. Darin lag die große Tragik des Menschseins, dass es immer nur ein einziges Leben zu leben gab. Die blauäugige Ahnungslosigkeit der Jugend, die Reue der Älteren und Alten.

Die Tür zu Maries Zimmer stand einen Spalt breit offen, das Licht brannte noch. Behutsam tippte Christian mit den Fingerkuppen gegen das Holz und schob dann sacht die Tür auf; Marie hatte ein feines Gehör, erschreckte sich leicht.

»Willst du nicht schlafen?«, flüsterte er. »Es ist schon spät.«

An ihrem Zeichentisch schüttelte Marie den Kopf, und Christian trat näher.

Über die Jahre hatten sie immer wieder eine Kunstlehrerin, einen Zeichentutor für Marie ins Haus geholt. Nie waren sie lange geblieben, überfordert vom Umgang mit ihrer zwar hochbegabten, aber unzugänglichen Schülerin. Alles, was Marie konnte, hatte sie sich selbst angeeignet.

Auf beklemmende Weise lebensecht wirkte das Porträt Mathilde Pohls, an dem Marie die Kohlestriche verfeinerte. So musste Marie ihre Großmutter an ihren letzten Tagen erlebt haben, in den letzten Stunden.

»Dann kann ich sie immer sehen«, sagte Marie stockend. »Auch wenn sie nicht mehr da ist. So habe ich es auch mit Thilo gemacht.«

Trauer, Vermissen oder Trost waren keine Begrifflichkeiten, mit denen Marie etwas anfangen konnte; empfinden tat sie solche Regungen sehr wohl. Sanft strich Christian über Maries Schulter, und sie hob den Kopf. Wie immer ging es Christian durch und durch, wenn seine Tochter abrupt aus ihren traumverlorenen Sphären auftauchte und ihn unverwandt ansah.

»Was ist aus den Bildern geworden, die wir hergegeben haben?«, wollte sie wissen.

In Warnemünde hatte es angefangen. Während der Sommerfrische, wo die Petersens wie viele andere Badegäste auch die Küstenluft genossen und sich in die Wellen der Ostsee stürzten.

Natürlich war Marie dort aufgefallen, eine feengleiche Erscheinung, die über die Dünen wandelte, einen Skizzenblock unter den Arm geklemmt und die Bänder ihres Strohhuts im Wind flatternd. Während alle anderen sich in der Sonne aalten und über den Sand spazierten, saß Marie stundenlang an der Staffelei, ihre andächtige Konzentration nicht einmal von den Schaulustigen gestört, die ihr in respektvollem Abstand über die Schulter spähten.

Christian ging neben dem Zeichentisch in die Hocke, um Marie besser in die Augen sehen zu können.

»Deine Bilder hängen jetzt bei den Leuten zu Hause«, erklärte er. »Irgendwo in Bremen, Lübeck oder Berlin. Willst du sie zurückhaben?«

Marie schüttelte den Kopf. »Ich male ja ständig neue.«

Unruhig befingerte sie die Kohlestücke vor sich, eine halbe Ewigkeit lang. Bei Marie musste man Geduld aufbringen, ihr Zeitempfinden war ein anderes.

»Haben wir denn viel Geld dafür bekommen?«, fragte sie schließlich heiser.

Christian schmunzelte. »Gar nicht so wenig. Es liegt jetzt für dich auf der Bank, zusammen mit dem, was Thilo dir vermacht hat. Möchtest du dir denn etwas kaufen?«

Unsicherheit flackerte in Maries Augen auf, dann verschwamm ihr eben noch so klarer Blick, und sie versank wieder in ihrer eigenen Welt.

»Schlaf noch ein bisschen«, flüsterte er.

Christian richtete sich wieder auf und hauchte einen Kuss auf seine Fingerspitzen, die er dann kurz an Maries Wange legte. Ein zartes Lächeln war die Antwort.

Hätte Christian sich jemals in seinem Leben anders entschieden, hätte es Marie wohl nie gegeben. Womöglich nicht einmal Jette, deren eigene Kinder so viel Licht und Freude und Lachen ins Haus brachten, und ganz sicher keine Cathrin. Das versuchte er sich immer vor Augen zu halten.

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