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Wie Kolkraben scharten sich Nachbarn und Bekannte um das offene Grab, ihre Ehefrauen und Töchter in den schwarzen Reifröcken und Capes wie Stare auf einem Feld.

Die Bediensteten der einzelnen Familienzweige standen beisammen und die Angestellten von Petersen & Voronin, vom Prokuristen bis zum Botenjungen. Auch eine Abordnung aus der Londoner Dependance war gekommen, per Telegraph informiert; die Nachricht an die beiden Kontore in Madras und Bombay würde noch einige Wochen unterwegs sein. Schiffsmakler und Seeleute gaben das letzte Geleit, Geschäftspartner von nah und fern und einige Honoratioren Hamburgs.

An Sperlinge erinnerten diejenigen, die kein schwarzes Kleidungsstück besaßen, sich höchstens einen Trauerflor leisten konnten. Ganze Schwärme von ärmlich aussehenden Männern und Frauen, Halbwüchsigen und Kindern, die in der Nähe zueinander mehr Trost zu finden schienen als in den Worten des Pastors. Zu sehen, wie wohlgelitten ihr Onkel gerade bei ihnen gewesen war, ließ neue Tränen in Cathrin Petersen aufsteigen.

Mitten aus dem Leben gerissen. Hier war es keine Floskel. Auch mit zweiundsechzig Jahren war Thilo Petersen das gewesen, was man einen virilen Mann nannte. Überlebensgroß, auf eine ruhige und zurückhaltende Art. Von einer kraftvollen Präsenz, die selbst im Hintergrund immer spürbar blieb und jeden Raum im Gleichgewicht hielt, Halt und Sicherheit versprach.

Ungerecht und unbegreiflich kam es Cathrin vor, dass er, ausgerechnet er, nun nicht mehr da sein sollte, nirgends auf dieser ganzen weiten Welt.

Ein Lachen flog über den Friedhof der kleinen Gemeinde, schrill und freudlos, deshalb jedoch nicht weniger verstörend. Umso mehr, als dieses Lachen zu einer elfenhaft schönen Frau gehörte, die mit geschlossenen Augen das Gesicht der Sonne entgegenstreckte.

Unwillkürlich zuckte es um Cathrins Mund, auf eine zärtliche wehe Weise. Ihre Schwester Marie verstand, welche Ironie darin lag, dass sie Thilo unter einem heiteren blauen Himmel beerdigten. Bei Sonnenschein und Vogelgezwitscher und dem neuen Grün des Frühlings. Wie absurd es war, hier an seinem Grab zu stehen, der nie auch nur einen Tag lang krank gewesen war, sich bei einem Schnupfen höchstens einen Schal umgebunden hatte, bevor er ins Kontor fuhr.

Ihr Vater Christian, das Gesicht aschfahl und die Strahlkraft seiner blauen Augen erloschen, zog Marie an sich, um sie vor den irritierten Blicken derer abzuschirmen, die von ihrer Besonderheit nichts wussten. Ungehemmt schluchzte Marie an seiner Schulter; klagende Laute, von den Möwen aufgegriffen, die weite Kreise über der nahen Elbe zogen.

Für den Moment war Cathrins Groll gegen ihren Vater erloschen, schließlich hatte er gerade seinen Bruder verloren. Ebenso ihre Differenzen mit Jette, der ältesten der drei Schwestern, die sich auch hier noch mit Mann und Kindern als Musterbild der großbürgerlichen Familie präsentierte. Sogar der alte Ingrimm auf ihre Mutter Henny war besänftigt, auf deren Arm sich Großmutter Pohl stützte, verwittert und altersbrüchig.

Eine schwarz behandschuhte Frauenhand schloss sich um Cathrins. Auch die klarblauen Augen von Betje Reintjes waren rot geweint. Betje, Hanno und deren Söhne und Töchter an ihrer Seite zu haben gab Cathrin den Halt, dessen sie so sehr bedurfte. Auf beschämende Weise unfähig, selbst Trost zu spenden.

Cathrins Herz blutete für Katya, die erstarrt am Grab stand, plötzlich allein nach über dreißig Ehejahren. Durchscheinend blass wirkte sie in ihrem schwarzen Witwenstaat, das Blau ihrer Augen ausgewaschen. Eine Säule aus Eis, die beim leisesten Windhauch zu zerspringen drohte und sich jede mitfühlende Geste, jedes Beileidswort verbat.

Katyas Bruder Grischa, das Gesicht wie Granit und Silberspuren im dunklen Haar und dem Bart, ließ sich davon nicht abhalten. Mit derselben Zielstrebigkeit, mit der er früher Schiffe über die Meere gesteuert und sich selbst sicher durch die Stürme und Untiefen des Lebens gelenkt hatte, trat er zwischen seinen erwachsenen Kindern und den Enkelkindern hervor und legte den Arm um Katya.

Als ob er nicht nur seine Schwester in ihrem Schmerz auffing, so kam es Cathrin vor, sondern auch sie ihn. Schock und Trauer standen auf ihren einander zugewandten Gesichtern, und ein namenloses Entsetzen.

In Cathrins Ohren dröhnte es noch immer wie Hammerschläge, jenes panische Klopfen an der Haustür zu solch früher Stunde, dass es nichts Gutes verheißen konnte. Das Stimmengewirr und Hennys Schluchzen und wie Marie allein schon durch den Aufruhr zu heulen begann. Und dann hatte es Cathrin selbst den Boden unter den Füßen weggezogen.

Nicht zum ersten Mal seit der Todesnachricht hatte sie das Gefühl, dass man ihr etwas verschwieg.

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