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Die ersten Blätter an den Bäumen hatten sich verfärbt, umso augenfälliger, je weiter der Wagen Christian aus der Stadt hinaustrug. Ein blasses Gelb im staubigen Grün, das einem weismachen konnte, es wäre noch mitten in einem heißen und trockenen Sommer. Der Nachmittag leuchtete jedoch schon bernsteinfarben über der Elbe. Septemberlicht, fließend wie Honig und herbsüß vor Wehmut.

Christian stieg aus dem Wagen. Überlaut raschelten Kies und dürres Laub unter seinen Schritten, die Stille des Friedhofs eine grüne Kathedrale; sogar die Vogelstimmen klangen weit entfernt, zart und zaudernd.

Fast ein halbes Jahr war Thilo jetzt tot. Dass Christian es verwunden hätte, wäre zu viel gesagt, er hatte sich nur daran gewöhnt. Wie er sich damals als Junge daran gewöhnt hatte, dass seine Mutter und seine kleine Schwester nicht mehr da gewesen waren.

Thilos Grabstein kam in Sicht, und Christian blieb stehen. Korb, Schaufel und Pflanzenschere neben sich, kniete Katya am Grab, in ihre Gärtnerarbeit vertieft und mit einem Ausdruck blanker Verlassenheit, den sie im Kontor nie an den Tag legte. Wie ein Eindringling kam Christian sich vor.

Katya hob den Blick. Was auf ihrem Gesicht aufschien, war nicht ganz ein Lächeln, aber freundlich genug, dass er näher trat.

»Wie geht es dir?«, fragte er.

Katya atmete tief durch. »Es muss.«

Sie fuhr damit fort, welke Blätter und tote Blüten zu entfernen.

Damals, Katya war noch nicht lange in Hamburg gewesen, hatte Thilo Blumentöpfe für sie bepflanzt, weil sie das Grünen und Blühen vor dem Fenster vermisste. Christian hingegen war nichts anderes eingefallen als Speckseiten und Käse und Bonbons, um das schöne russische Mädchen zu umgarnen.

»Er war der Beste von uns«, sagte er leise.

Schweigend beugte Katya sich tiefer über die Pflanzen.

»Trägt Grischa sich mit dem Gedanken, Jakob in die Firma zu holen?«, setzte Christian erneut an.

Fast ärgerlich rupfte Katya ein Unkraut heraus.

»Warum fragst du mich das?«

Die Hände in den Hosentaschen, grub Christian mit der Schuhspitze eine Rinne in den weichen Boden.

»Wir wissen ja nun recht wenig über diesen jungen Mann. Wo genau er herkommt. Was seine Absichten sind. Ob er überhaupt das Zeug dazu hat. Ohne rechte Ausbildung, nach ein paar Handlangerdiensten hier und da.«

»Bei Grischa hat dich das damals auch nicht gestört.«

Die große weite Welt hatte der junge Russe an jenem Wintertag in den Gemischtwarenladen gebracht. Den Hauch des Abenteuers und den Traum von einer glänzenden Zukunft. Ein frischer Wind, gewürzt mit dem Salz des Meeres, von dem sich Christian begeistert hatte mitreißen lassen. Er fragte sich, wo dieser Christian von damals abgeblieben war mit seinem Leichtsinn, seiner himmelsstürmenden Zuversicht.

»Das war etwas anderes, damals.« Er hörte selbst, wie hohl es klang.

In Katyas Augen blitzte es auf, mit jenem zärtlichen Spott, der ihr zu eigen war.

»Cathrin kennst du ihr Leben lang, und trotzdem willst du sie nicht in der Firma haben.«

Wie ein Wirbelwind fegte Cathrin auch nach Katyas Rückkehr noch durch das Kontor und die auf mehrere Speicherhäuser der Stadt verteilten Lagerräume. Cornelius Overbeck begegnete ihrer unerschöpflichen Wissbegier mit stoischer Würde, aber die anderen Angestellten murrten über die Unruhe, die Cathrin in den laufenden Betrieb brachte, und über ihre naseweise Art.

»Sie ist nicht aus deinem Holz geschnitzt.«

»Sie ist deine Tochter, Christian«, wandte Katya ein. »Eine echte Petersen durch und durch. Und die einzige Nachfolgerin, die du haben wirst.«

Keiner seiner Fehler, keine Schwäche war jemals Katyas scharfem Blick entgangen, und nie hatte sie dabei ein Blatt vor den Mund genommen. Dafür schätzte er sie, und doch hatte er sich genau davor in Hennys weiche und ewig verzeihende Arme geflüchtet.

»Irgendwann müssen wir alle loslassen«, fügte Katya leise hinzu. »Das habe ich inzwischen gelernt.«

Du hast mich das gelehrt, hörte er heraus.

Vierzig Jahre war es her, dass Katya ihrem Bruder nach Hamburg gefolgt war. Ein Rabenmädchen mit russischem Akzent, eine Schwanenprinzessin aus dem hohen Norden. Vierzig Jahre, in denen sich zwischen ihnen zerstörte Träume und Hoffnungen und verletzte Gefühle aufgehäuft hatten. Eine Last, die für mehr als ein Menschenleben gereicht hätte und ausgehärtet war wie ein Gletscher.

»Wir reden immer nur über das Geschäft«, stellte er fest.

»Ach, Christian.« Mit einem Seufzen sammelte Katya das Werkzeug in den Korb und stand auf. »Es gibt doch auch sonst nichts mehr zu sagen.«

Christian sah ihr nicht nach. Unbeweglich harrte er am Grab aus und fragte sich, warum er hergekommen war. Was seinen Bruder einmal ausgemacht hatte, gab es nicht mehr, nirgendwo. Wie alles sich einmal auflösen und verwehen würde.

Seine Hand legte sich auf den polierten Marmor, der Thilos Namen trug, die dürren Daten von Leben und Tod, Anfang und Ende.

Vielleicht stellte man deshalb Grabsteine auf die letzte Ruhestätte. Um die Illusion zu wahren, dass wenigstens etwas auf dieser vergänglichen Welt Bestand hatte. Damit diejenigen, die noch da waren, Halt finden konnten, und sei es nur für den Moment.


Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte Cathrin die Treppen zum Kontor hinauf, ihren Rock mit einer Hand gerafft und einen Stapel Zeitungen und Zeitschriften unter dem anderen Arm.

Cathrin las viel. Nicht nur die aktuellen Nachrichten aus aller Welt, sondern auch Harper’s Weekly und Godey’s Lady’s Book, die sie sich aus Amerika kommen ließ. Denn in Amerika spielte die Musik der Zukunft, da waren sie und Ludger ausnahmsweise einer Meinung. In Amerika gab es sogar schon Hochschulen für Frauen, und genauso progressiv waren auch die Zeitschriften dort. Einflussreich zeigten sie sich noch dazu, nachdem Godey’s Hochzeiten in Weiß populär gemacht und sogar erreicht hatte, dass Thanksgiving zum Nationalfeiertag geworden war.

Mit den bedruckten Seiten, die eine weite Reise hinter sich hatten, eröffneten sich neue Horizonte für Cathrin. Weitaus mehr als durch die zwar liberale, aber eben doch gutbürgerliche und zunehmend nationalistische Gartenlaube aus Leipzig.

Dass Katya wieder ihren angestammten Platz im Unternehmen eingenommen hatte, machte Cathrin nicht allzu viel aus. Sie war vollauf zufrieden mit der Dachkammer, die eigentlich einen Teil des Archivs beherbergte, nun aber auch ein eigenes kleines Büro für Cathrin. Jetzt hatte sie wieder mehr Zeit, um mit wachen Sinnen und neugierigem Verstand durch die Stadt und den Hafen zu streifen. Immer auf der Suche nach etwas Neuem, noch Unbekanntem, das ein gutes Geschäft bedeuten könnte. Nach einer Marktlücke, die sich zu füllen lohnte.

Die Zeit, in der sie ihre Tante in der Firma vertreten hatte, war nur ein Vorgeschmack auf das gewesen, was noch kommen würde, die Sitzung heute, in der über Cathrins Aufnahme in die Firma entschieden werden würde, reine Formsache. Wahrscheinlich hatten die Eisbarone schon darüber abgestimmt oder waren gerade in diesen Augenblicken dabei. Cathrins Herz schlug einen freudigen Takt.

Schwungvoll trat sie in den Vorraum des Kontors. Mitten hinein in das ausgelassene Stimmengewirr der Buchhalter, von männlichen und weiblichen Schreibkräften.

»Ah, Cathrin«, rief Ludger, ein fast leeres Glas in der Hand. »Du kommst gerade rechtzeitig. Glückwunsch an dich und Jakob. Künftig werdet ihr Seite an Seite eure ersten Sporen im Unternehmen verdienen.«

Es spielte keine Rolle, was Katya ihr zuraunte. Dass Grischa ihr ein Glas brachte und wie sich ein Leuchten in die Augen ihres Vaters stahl, als er mit ihr anstieß.

Cathrin sah nur Jakob, der sich mit einem verlegenen Grinsen und roten Ohren von Cornelius Overbeck auf die Schulter klopfen ließ. Aus dem Stand an dem Punkt der Karriereleiter angelangt, den Cathrin sich gegen alle Widerstände erkämpft hatte. Womöglich hatte er sogar an dieser Sitzung heute teilnehmen dürfen.

An einen jungen Raben hatte Jakob sie anfangs erinnert, der zögerlich herumsprang, weil er seinen neuen Flügeln noch nicht traute. Jetzt glich er einem Kuckuck, der sich ganz selbstverständlich ins gemachte Nest hockte, mit breiter Brust und scharfem Schnabel.

Am liebsten hätte Cathrin das volle Glas an die Wand geschmettert.


Jakob ließ sich an dem Tischchen nieder, das einer der Angestellten soeben in die Dachkammer getragen hatte. Viel zu klein war es, als dass er einigermaßen bequem daran saß; wo allerdings künftig der Schreibtisch Platz finden sollte, dem man ihm versprochen hatte, war ihm ein Rätsel.

Beklommen sah er zu Cathrin, die mit zornigen Bewegungen in einem der Schränke kramte. Was in ihr vorging, war nicht schwer zu erraten. Er, ihr neu gewonnener Cousin, war ihr ab heute gleichgestellt, ohne auch nur einen Finger gerührt zu haben, während sie schon monatelang im Unternehmen mitarbeitete. Und jetzt zwängte er sich noch mit in das winzige Büro, das sie bislang ihr Eigen hatte nennen können.

»Ich will dir deinen Platz im Unternehmen nicht streitig machen«, versicherte er.

Fünf Jahre älter war sie. Fünf Jahre, die sie ihm an Lebenserfahrung voraushatte. Ungleich mehr Jahre, die sie Zeit gehabt hatte, in das Geschäft hineinzuwachsen. Lächerlich kam es ihm deshalb vor, überhaupt in einen Wettstreit zu treten.

»Ich bin nur vorübergehend hier, Cathrin«, beteuerte er. »Bis ich gelernt habe, wie man Geschäfte macht.«

Der schnelle Seitenblick verriet, dass sie ihm kein Wort glaubte.

Cathrins Name fiel ihm ins Auge, sorgsam gleich auf mehrere Buchrücken geschrieben, daneben die Namen ihrer Schwestern, allesamt mit Jahreszahlen versehen. Jakob brauchte einen Moment, bis bei ihm der Groschen fiel. Logbücher, natürlich, er erinnerte sich daran, wie Grischa ihm die Cathrin im Hafen gezeigt hatte. Ein stolzer Klipper, der durch seine windschnittige Bauweise und Besegelung derzeit noch jedes Dampfschiff um Längen hinter sich ließ. Was für ein Gefühl mochte es wohl sein, eines der Flaggschiffe der Firma nach sich benannt zu wissen?

Womöglich machte Jakob sich etwas vor. Nur ein Narr würde eine solch glänzende Zukunft ausschlagen, wie sie ihm auf dem Silbertablett unter die Nase gehalten wurde. Diese Chance zu nutzen war sein gutes Recht. Genauso gut wie das Cathrins, auch wenn er nur der uneheliche Sohn war.

»Wir sitzen doch im selben Boot«, bemühte er sich weiter. »Ludger will uns beide nicht in der Firma haben.«

Cathrin erstarrte über den Seiten, die sie eben noch flink durchgeblättert hatte. Angestrengt flatterten ihre Wimpernbögen.

»Wir sitzen keineswegs im selben Boot«, entgegnete sie dann. »Ludger misstraut dir, weil du Knall auf Fall in Grischas Leben getreten bist. Er wittert in dir einen Hochstapler, der es auf unser Vermögen abgesehen hat. Mir dagegen nimmt er einzig und allein übel, dass ich eine Frau bin. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Du hast die Möglichkeit, Ludger vom Gegenteil zu überzeugen. Ich aber kann mein Geschlecht nicht einfach ablegen oder mir ein anderes überstreifen.«

Einen Stoß Akten in den Händen, drehte sie sich abrupt um.

»Du willst etwas über das Geschäft lernen? Hier, fang damit an!«

Lautstark landete der Stapel vor Jakob.

Geraume Zeit blickte Jakob zwischen den Akten und Cathrin hin und her, die sich hinter ihren Schreibtisch zurückgezogen hatte. Ihrerseits in Papiere vertieft, hielt sie ihr Gesicht mit der Hand abgeschirmt. Unglücklich wirkte sie, auf eine Art, die mit seinem eigenen Unbehagen verwandt schien.

Mit einem unhörbaren Seufzen zog er den Stapel zu sich heran.

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