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Durch die Tür war gedämpft der morgendliche Betrieb im Kontor zu hören. Die Stimmen der Schreibkräfte, die sich bei ihrer Arbeit absprachen und ein paar kollegiale Worte wechselten, das Kommen und Gehen der Postmänner, Kuriere, Lieferanten und Laufburschen. Unten auf dem Dovenfleet flachsten die Kahnschiffer lautstark miteinander.

In Cathrins Magengrube flatterte es unruhig, während sie ihre Unterlagen auf dem massiven Walnussholz ausbreitete. Fast genau fünf Jahre war es her, dass sie zum ersten Mal an den runden Tisch gerufen hatte. Aufgeregt war sie auch da gewesen, auf eine Art, die ihr heute läppisch vorkam, damals hatte nicht annähernd so viel auf dem Spiel gestanden.

Katya nippte an ihrem Kaffee, während sie sich bei Ludger nach Jette und den Kindern erkundigte; Grischa lehnte wie gewohnt neben der Tür, seine Tasse auf dem niedrigen Schrank abgestellt. Beide wussten sie, worum es hier heute ging, oder ahnten es zumindest. Ihr Wohlwollen würde Cathrin und Jakob sicher sein und war doch nur die halbe Miete.

Die große Kunst bestand darin, Ludger und Cornelius Overbeck zu überzeugen. Beide verfügten sie zwar über keinerlei Entscheidungsgewalt oder auch nur ein Vetorecht, dennoch hatte ihr Wort Gewicht, und jeder berechtigte Einwand von einem der beiden könnte diesem Projekt den Todesstoß versetzen.

Manche Segel kreuzten nie gegen den Wind, das wusste Cathrin, ein Kind der Elbstadt.

Aus dem Augenwinkel fiel ihr Blick auf die Plätze, die früher Christian und Thilo eingenommen hatten. Sich vor ihrem Vater zu beweisen, das war die längste Zeit Cathrins Ansporn gewesen. Dass er ihr das Feld widerspruchslos überließ, hatte sie wie in einem Nebelfeld auf hoher See zurückgelassen. Thilo hingegen hätte für kräftigen Rückenwind gesorgt, den einen oder anderen Fels aus dem Fahrwasser geräumt. Ihn hatte sie am meisten vermisst in den letzten Wochen, an diesem Tag.

Umso größer war ihr Stolz auf den Weg, den sie sich selbst gebahnt hatte. Was auch immer dieser Tag mit sich bringen würde, ob Triumph oder Niederlage, dies war ihr Gewinn.

Wie den Sog eines Magneten spürte sie Jakobs Nähe, als er in seinem guten Anzug neben sie trat. Sie fragte sich, ob er sich genauso fühlte wie sie, im Innersten weich und nachgiebig wie feuchter Sand. Oder ob es für Männer anders war, nach einer durchgeliebten Nacht.

»Bist du so weit?«, flüsterte er.

Cathrin strich noch einmal über den Rock ihres Kleides aus grauer Seide, eine stählerne Rüstung gegen die Fehler und Unachtsamkeiten, die ihnen in der Vorbereitung womöglich unterlaufen waren. Durchatmend richtete sie sich auf, straffte die Schultern und blickte offen in die Runde.

Ich, drängte es in ihrer Kehle herauf. Doch sie waren jetzt zu zweit.

»Jakob und ich«, verkündete sie dann, »sind der Ansicht, dass es Zeit ist, neue Wege einzuschlagen. Der Handel mit Gütern wird sicher immer einer der größten Wirtschaftsfaktoren sein. Dennoch sollten wir für die Zukunft andere Sparten nicht außer Acht lassen. Und wir sind darin übereingekommen, dass wir die größten Chancen in der Passagierschifffahrt sehen.«

Das war Jakobs Stichwort. Sachlich und doch nicht ohne Gefühl schilderte er das Erlebnis seiner in letzter Sekunde geplatzten Auswanderung, gewürzt mit einer gehörigen Portion Selbstironie und humorvollen Bemerkungen, die im Raum leises Lachen aufperlen ließen. Mit dem gebotenen Ernst schwenkte er zu den Eindrücken um, die Cathrin und er bei ihren Besichtigungen einiger Auswandererschiffe im Hafen gesammelt hatten, und die zeichneten ein düsteres Bild der Umstände, unter denen die meisten Menschen eine solche Überfahrt erlebten.

Wie ein Fisch im Wasser schwamm Cathrin durch die Dynamik, die sich zwischen ihr und Jakob entspann. Während sie auf dem Tisch Blaupausen entrollte und Skizzen entfaltete, ging sie auf die Notwendigkeit von fließendem Wasser und reichlich Frischluft während der Reise ein. Anhand des Schiffsmodells in der Mitte des Tischs erläuterte sie das System von Heizung und Bordküche, die sich aus den Maschinenräumen speisten. Anstatt die Passagiere der dritten Klasse in einem einzigen Schlafsaal einzupferchen, setzten sie auf Kabinen. Platz würde auch da knapp sein, aber dadurch ließen sich getrennte Bereiche zwischen allein reisenden Männern und Frauen schaffen, und Familien hätten jeweils einen Raum für sich. Außerdem bot sich auf diese Weise die Möglichkeit zur Isolation, sollte eine ansteckende Krankheit an Bord auftreten.

Nichts anderes als ein Wunderwerk modernster Technik und Planung würde dieser Dampfer sein, auf dem auch Reisende mit schmalem Geldbeutel die Überfahrt wagen konnten, daran ließ Cathrin keinen Zweifel.

Seine Tasse in der Hand, trat Grischa interessiert näher und betrachtete die Unterlagen genauer.

»Und was soll diese Arche Noah schlussendlich kosten?«

»Darauf kommt Jakob gleich zu sprechen. Aber da du es gerade erwähnst, möchte ich euer Augenmerk auf die Ausstattung lenken. Unser Dampfer soll in den Räumlichkeiten der zweiten und vor allem der ersten Klasse nicht aussehen wir ein englischer Herrenclub oder ein Boudoir.«

Cathrin öffnete die Kiste mit den Mustern und arrangierte die Stoffstücke und Holzproben auf dem Tisch. Dazu legte sie die Aquarelle, um die sie Marie gebeten hatte; Innenräume wie ein Sommertag am Wasser.

»Uns schwebt ein maritimes Ambiente vor, geradlinig und schnörkellos in bester Hamburger Tradition. Viel Licht, viel Luft, die ein Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit vermitteln. Ein Stil, der unser Markenzeichen werden soll.«

Unausgesprochen schwang mit, dass diesem einen Schiff ein weiteres folgen könnte, mehrere, viele, in den Jahren danach. Eine Vorstellung, die Cathrin und Jakob jedes Mal in einen schwindelerregenden Rausch versetzte, sobald sie auch nur schemenhaft im Raum stand.

»Ganz nebenbei«, ergriff Jakob daraufhin das Wort, »können wir dadurch auch die Kosten für das fertige Schiff erheblich senken. Gleichzeitig werden wir die Fahrpreise gerade für die Passagiere der ersten Klasse ein wenig höher ansetzen als die HAPAG oder andere Konkurrenten.«

Prüfend wog Grischa eines der zurechtgeschnittenen Holzstücke in der Hand und rieb mit dem Daumen darüber.

»Aber warum sollte dann irgendjemand sich ausgerechnet für eine Überfahrt mit euch entscheiden?«, wollte er wissen.

»Weil die Passagiere der dritten Klasse wissen werden«, erklärte Cathrin, »dass sie für die Dauer der Überfahrt nicht nur ein sauberes Bett bekommen, sondern auch zwar einfaches, aber gutes Essen an jedem einzelnen Tag.«

Grischa machte ein zweifelndes Gesicht.

»Das überzeugt mich nicht. Wer seiner alten Heimat den Rücken kehrt, spart sich jeden Groschen für den Neuanfang im Land seiner Träume auf. Der nimmt bereitwillig alle möglichen Härten auf sich, weil sein bisheriges Leben meist nicht besser war.«

»Aber mit niemandem werden sie schneller in dieses Land ihrer Träume kommen.« Cathrin spielte ihren größten Trumpf aus. »Und gerade für die Passagiere der ersten beiden Klassen wird das ein schlagendes Argument sein.«

»Sechzehn Knoten wird dieser Dampfer machen«, erläuterte Jakob, ein kleines Grinsen im Mundwinkel. »Bei günstiger See und Wind werden uns die Segel, die ihr hier auch am Modell seht, noch etwas mehr bringen. Kaum ein Schiff, das derzeit auf den Meeren kreuzt oder in absehbarer Zeit vom Stapel läuft, ist schneller. Zehn Tage von Hamburg nach New York können wir unter halbwegs normalen Umständen garantieren. Ist Neptun uns hold, wird sich die Dauer der Überfahrt wohl noch verkürzen. Sicher wissen werden wir es nach der Jungfernfahrt.«

Fast beiläufig händigte er die Kalkulation aus. Ihre Achillesferse, das wussten sie, obwohl sie die Kosten für das fertige und bis in den letzten Winkel ausgestattete Schiff, für Besatzung und Proviant letztendlich auf etwas mehr als vierhunderttausend Mark gedrückt hatten.

Kein Geschäft von Petersen & Voronin hatte je solche Summen verschlungen, keines im Verhältnis so wenig eingebracht; bislang war jeder Einsatz aus dem Stand um ein Vielfaches wieder hereingekommen. Das war das Geheimnis ihres Erfolgs.

Ludger lachte trocken auf, als er sein Exemplar überflog, von Fräulein Paal mithilfe von Kohlepapier angefertigt.

»Das ist ja wohl ein schlechter Witz!«

Cornelius Overbeck bearbeitete seinen Durchschlag mit spitzem Bleistift, bevor er mit dem scharfen Blick eines Habichts über seinen Kneifer schielte.

»Demnach handelt es sich wohl mehr um eine langfristige Investition?«

»So ist es«, antwortete Cathrin. »Je mehr Fahrten wir unternehmen, umso rentabler wird das Geschäft.«

»Unser Ziel ist es«, sprang Jakob ihr bei, »während der Saison einen möglichst eng getakteten Linienfahrplan anbieten zu können. Auch, um den Winter auszugleichen, in dem der Atlantik kalt und stürmisch ist und deshalb erfahrungsgemäß weniger Passagiere eine Überfahrt planen. Genau deshalb können wir vor allem an der Schnelligkeit des Schiffs nicht sparen.«

Grischa gab sich damit nicht zufrieden.

»Selbst wenn ihr ein halbes Jahr lang ein Mal im Monat einen voll besetzten Dampfer nach New York bringt …«, begann er, doch Ludger fiel ihm polternd ins Wort.

»Vollkommen aussichtslos, dass ihr diesen riesigen Pott auch nur halb voll kriegt. Sämtliche Reeder kommen aus dem Klagen nicht mehr heraus, dass das vor sich hin dümpelnde Geschäft mit der Auswanderung mehr kostet, als es einbringt.«

Die große Schwachstelle ihres Plans, zu augenfällig, zu grundlegend, als dass sie jemand hätte übersehen können.

»Das Risiko besteht in jedem Geschäft«, erwiderte Jakob. »Wer weiß schon, wie sich Angebot und Nachfrage entwickeln.«

»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist dieses Argument sicher mehr als berechtigt«, stimmte Cathrin zu. »Aber wir werden mit diesem Schiff weder heute noch morgen in See stechen, sondern frühestens im kommenden Jahr, vielleicht auch erst in zwei Jahren. Da kann die Lage schon wieder eine ganz andere sein.«

»Für ein Lotterielos sind vierhunderttausend Mark eindeutig zu viel«, knurrte Ludger.

»Deshalb setzen wir auch vorrangig auf die Passagiere der ersten und zweiten Klasse«, erläuterte Jakob. »Eine Reise nach Amerika soll für sie möglichst attraktiv sein. Gemessen an der weiten Distanz fast so einfach, bequem und schnell wie mit dem Zug von Hamburg nach Berlin.«

»Und die Flaute im Auswanderergeschäft wird nicht von Dauer sein«, fügte Cathrin hinzu. »Dafür ist Amerika als Land der unbegrenzten Möglichkeiten langfristig doch zu verlockend. Ich bin sicher, gerade du wirst mir darin zustimmen, Ludger.«

Ihr Schwager brummte etwas in sich hinein und beschäftigte sich mit seiner Kaffeetasse.

Schmunzelnd fuhr sich Grischa mit dem Fingerknöchel über den Bart.

»Die Passagiere, die zurück nach Hamburg wollen, könnt ihr vermutlich an einer Hand abzählen«, warf er ein. »Lasst ihr dann jedes Mal das Schiff leer zurückfahren?«

»Da haben wir uns eure Fahrten nach Indien zum Vorbild genommen«, erwiderte Jakob. »Den frei gewordenen Stauraum werden wir nutzen, um Baumwolle und Wolle zu importieren. Das ist ein dauerhaft sicherer Markt.«

»Vor allem interessieren uns amerikanische Fabrikerzeugnisse«, ergänzte Cathrin. »Wie die Nähmaschinen von Singer und Remington, die derzeit zu den besten der Welt zählen. Die Nachfrage ist jetzt schon hoch und wird mit der steigenden Wirtschaftskraft hierzulande noch zunehmen. Dabei denken wir nicht nur an Privathaushalte, die sich künftig eine Nähmaschine leisten können, sondern an Schneidereien und ganz besonders an Fabriken für Konfektionskleidung, die zurzeit nur so aus dem Boden sprießen. Von anderen technischen Neuerungen, an denen gerade vor allem an der Ostküste getüftelt wird, nicht zu reden. Wir wollen unbedingt die Ersten sein, die diese Innovationen nach Deutschland bringen.«

»Als Startkapital hierfür«, sagte Jakob, »würden wir gern das Guthaben verwenden, das für mich noch auf der Bank in New York liegt. Sofern ihr nichts dagegen habt.«

Er warf erst Katya, dann Grischa einen Blick zu.

»Damit macht ihr aus der Firma nichts anderes als einen Gemischtwarenladen«, wetterte Ludger.

»Das war sie vorher schon«, äußerte sich Katya, die bislang in aufmerksamem Schweigen zugehört hatte. »Ob nun Seide und Tee oder Nähmaschinen und Füllfederhalter – darin kann ich keinen Unterschied erkennen. Nicht, solange die Bilanz stimmt.«

Ebenso selbstbewusst wie entspannt stützte Jakob sich auf eine Stuhllehne.

»Cathrin und ich werden dieses Geschäft machen. Wenn es sein muss, in einer eigenen Firma, vielleicht als Aktiengesellschaft. Uns wäre es allerdings lieber, wir könnten es mit euch zusammen in die Wege leiten, als neue Sparte von Petersen & Voronin

»Weil ihr genau wisst«, ätzte Ludger, »dass euch keine Bank der Welt einen Kredit für ein solches Groschengrab geben wird.«

»Was halten Sie davon, Herr Overbeck?«, wollte Grischa wissen.

Der Prokurist begutachtete noch einmal das mit akkuraten Notizen ergänzte Papier vor sich. Im Lauf der Jahre hatte er sich als unbestechlich erwiesen; seine Loyalität galt nie einer Person und deren Ehrgeiz, sondern allein dem, was auf der Habenseite stand.

»Die Kalkulation, die uns Fräulein Petersen und Herr Levgrün vorgelegt haben, sieht solide aus. Meiner ersten Einschätzung nach handelt es sich zweifellos um eine riskante Investition, die sich aber durchaus lohnen könnte. Ich kann die Zahlen aber gern noch einmal anhand der Kostenvoranschläge und Pläne überprüfen, sofern Sie es wünschen, Herr Voronin.«

»Tun Sie das«, erwiderte Grischa. »Und arbeiten Sie uns einen Finanzierungsplan aus. Ich will wissen, wie viel Kapital wir dafür zur Verfügung haben und in welcher Höhe wir Darlehen aufnehmen müssen.«

Ludgers Gesicht, das unter der Schwerkraft der Zeit zunehmend dem eines Bassets glich, färbte sich rot bis unter das schütter werdende Haupthaar.

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Und ob.« Grischas Augen glänzten, als sie sich auf Cathrin und Jakob richteten. »Meine Zustimmung habt ihr.«

Triumphierend ballte Cathrin die Hände zu Fäusten.

»Da hat Christian ja auch noch ein Wörtchen mitzureden«, murrte Ludger. »Sofern er sich in nächster Zeit mal wieder sehen lässt.«

Cathrin und Jakob wechselten einen Blick. Mit einem Räuspern zog Jakob das Dokument aus der Mappe, das Christian ihm mitgegeben hatte, und schob es über den Tisch.

»Christian wird nicht in die Firma zurückkehren. Er hat seine Anteile je zur Hälfte Cathrin und mir überschrieben.«

Die Stille, die sich auf den Raum legte, war erdrückend.

Dieser Moment markierte einen Wendepunkt in der Geschichte der Eisbarone, das war ihnen allen bewusst. Eine Wasserscheide zwischen der älteren Generation und der jüngeren, zwischen vertrauten Pfaden und neuen Ufern, die nicht mehr im Osten des Erdballs lagen, sondern in seinem Westen.

»Wusstest du davon?«, fragte Grischa schließlich seine Schwester.

Katya antwortete nicht.

Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf sie, in deren Macht es nun lag, die Waagschale entweder in die eine oder andere Richtung zu neigen.

Kerzengerade saß Katya in ihrer Witwentracht da, ihre noch immer tintenschwarzen Wimpernbögen fächerten auf und ab, während sie zum Fenster hinaussah. Im Sonnenlicht zeigten sich die feinen Linien, die sich inzwischen in ihr Gesicht graviert hatten wie Risse im Porzellan.

Mit Katyas Gespür für das Eis hatte die Geschichte des Unternehmens begonnen. Sie war die eine Person, an die sie sich alle instinktiv wandten, wenn sie eine Antwort suchten, einen Rat, eine Entscheidung; sie war diejenige, die die Geschicke der Firma und der Familie mit ebenso sicherer wie liebevoller Hand lenkte. Eine Matriarchin im besten Sinne.

Fragil wirkte sie mit einem Mal. Wie jemand, von dem es hieß, er sei vom Glauben abgefallen. Ein Glaube, der einen das halbe Leben begleitet hatte, Anker und totes Gewicht zugleich.

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