31
Sachte zog Cathrin die Wohnungstür hinter sich zu und lehnte sich dagegen, den Hut in der Hand, die inzwischen trockene Jacke über dem Arm. Nur ihre Schuhe waren noch feucht und machten ihre Füße klamm.
Schritte und Frauenstimmen kamen die Stufen herauf. Im Halbdämmer des Treppenhauses leuchteten die roten Locken von Betje und Levke wie Fackeln. Beide blickten verwundert auf Cathrin, wie sie vor Gerrits Tür stand.
»Geh doch schon hoch«, bat Betje ihre Tochter. »Ich komme etwas später nach.«
Die Röcke mit einer Hand gerafft, die Geldkassette im anderen Arm, machte Levke sich auf den Weg ins oberste Stockwerk.
»Du siehst aus, als könntest du einen Kaffee vertragen«, sagte Betje.
Der blumige Tee hatte einen viel zu süßen und gleichzeitig kratzigen Nachgeschmack auf Cathrins Zunge hinterlassen. Jetzt verlangte es sie tatsächlich nach etwas Kräftigerem, Vollmundigerem, und sie nickte.
»Dann komm«, forderte Betje sie auf.
Mit müden Schritten trottete Cathrin hinter ihr her, die Stufen zum Kontor hinunter.
»Sofern es dir keine Umstände macht«, sagte sie in der kleinen Teeküche, in der die Frauen von Feinkost Reintjes ihre Pausen verbrachten und mittags zusammen aßen.
Sie klang wie ihre eigene Mutter, fand Cathrin. Ihr Einwand kam ohnehin viel zu spät, im Wasserkessel hatte es bereits zu sieden begonnen.
»Ist nur Kaffee, Cathrin«, erwiderte Betje und schaltete den Gasherd ab. »Kein mehrgängiges Menü.«
Schweigend warteten sie, bis das heiße Wasser durch den Leinenfilter mit gemahlenem Kaffee gelaufen war, und setzten sich dann an den kleinen Tisch.
Für Cathrin fühlte es sich merkwürdig an, ihr Herz ausgerechnet bei Gerrits Mutter auszuschütten. Aber letztlich war Betje für sie von Kindheit an wie eine junge Tante, eine große Schwester gewesen, das machte es ihr jetzt leichter, von sich und Gerrit zu erzählen.
»Ich weiß«, sagte Cathrin zu guter Letzt, ihre Stimme belegt, »dass ich nicht die Frau bin, die du für Gerrit wünschst.«
»Das habe ich so nie gesagt und ganz bestimmt auch nie gedacht, Cathrin«, entgegnete Betje zwischen zwei Schlucken.
»Aber?«
Betje ließ sich Zeit mit ihrer Antwort.
Aus eigener Erfahrung wusste sie, wie weh Ablehnung tat. Sie war damit groß geworden, nachdem ihre Eltern und Geschwister nach Amerika ausgewandert waren und Betje zurückgelassen hatten. Eine unnütze Esserin, mit ihrem lahmen Arm weniger als eine halbe Arbeitskraft auf dem kleinen Hof von Onkel und Tante, Ziel scheeler oder peinlich berührter Blicke im Dorf. Und sie wusste auch, wie verletzend Worte sein konnten, das hatten ihr die anderen Kinder des Kirchsprengels in Ostfriesland über Jahre hinweg eingebläut.
Genauso wusste Betje, wie sinnlos es war, jemandem in Herzensdingen hineinreden zu wollen. Welchen Zorn das heraufbeschwor, und welchen Trotz. Auch das hatte Betje am eigenen Leib erfahren.
Seltsam, dass ihr jetzt Zacharias in den Sinn kam, nach so vielen Jahren. Der Prinz des Gängeviertels, das Gesicht kühn und ein bisschen fremdländisch geschnitten, das Haar, das sich unter der Kappe hervorringelte, kohlschwarz und ein Funkeln in den dunklen Augen. Der Held der Kinder auf den Gassen der Neustadt. Ein Magier, der Mädchenherzen stahl, so wie er Betjes Herz gestohlen hatte. Der erste Junge, der sie geküsst hatte, zarte vierzehn Jahre alt war sie gewesen, er schon achtzehn.
Ob er seinen Traum wahrgemacht und in Amerika ein reicher Mann geworden war? Wohl eher war er über kurz oder lang unter die Räder gekommen. Ein Tunichtgut war er gewesen. Ein Gauner und ein Verführer, dem die Mädchen nicht jung, nicht leichtgläubig genug sein konnten.
Betje hatte lange gebraucht, um das zu erkennen, und jedes Mal dann stillschweigend Katya Abbitte geleistet. Da war Betje schon Hannos Frau geworden und hatte mit beiden Beinen in ihrem eigenen Laden gestanden.
Umso dankbarer war sie, dass alle ihre Söhne wohlgeraten waren, ihre Töchter stark und selbstbewusst genug, um Burschen und Männern vom Schlag eines Zacharias ihre Grenzen aufzuzeigen.
Genau wie Cathrin.
»Niemanden hätte ich lieber als meine Schwiegertochter«, sagte Betje deshalb. »Aber du und Gerrit, das geht nicht zusammen. Nicht auf Dauer.«
Ehrliche Verblüffung zeichnete sich auf Cathrins Gesicht ab.
»Warum nicht?«
»Weil ihr euch zu ähnlich seid. Eure Leidenschaften, euer Temperament, euer unbedingter Wille … Als wärt ihr aus ein und demselben Stoff gemacht. Ihr würdet ständig darum rangeln, wer das Sagen hat, wer besser, stärker, erfolgreicher ist. Im Geschäft mag das ja noch angehen, aber in einer Ehe? Wie soll das eine Ehe aushalten?«
Mit einem tiefen Durchatmen drehte Betje die Tasse auf dem Tisch um die eigene Achse.
»Ich bin die Letzte«, fuhr sie leiser fort, »die sich zwischen euch stellen würde. Aber überleg dir gut, ob du dich und Gerrit auch noch in zehn Jahren glücklich siehst. In zwanzig oder in dreißig Jahren.«
Starr und stumm saß Cathrin ihr gegenüber. Einen angespannten Zug um den Mund, flatterten ihre Eiswimpern, als wollte sie gleich weinen.
»Hast du dich nie gefragt«, setzte Betje nach dem nächsten Schluck Kaffee neu an, »warum auf dem Kutschbock immer nur einer die Zügel in der Hand hält?«
Cathrin stutzte, dann zog ein Lächeln über ihr Gesicht. In ihren grauen Augen schimmerte es auf, ein Sonnenstrahl, der sich durch Wolken stahl.
»So wie bei dir und Hanno?«
Hinter ihrer Tasse gab Betje ein Glucksen von sich. »Genau wie bei mir und Hanno.«
Wie Cathrin senkte auch Betje den Blick auf den Rest Kaffee am Boden der Tasse und studierte den erdigen Rückstand von Kaffeesatz.
In das Glück, dass sie ihre Söhne wieder in die Arme hatte schließen können, mischte sich schon jetzt die Wehmut eines erneuten Abschieds. Vor der Front hatte sie die beiden zwar bewahrt, sie aber nun an ein Leben in der Fremde verloren. Genau wie Finja bald schon ein neues Leben als Ehefrau begann, vielleicht gleich danach auch Levke; die jungen Männer der Nachbarschaft reckten jedenfalls schon eine Weile den Hals nach ihr und ihrem flammend roten Haar. Clara war zwar erst siebzehn und Hauke knapp dreizehn Jahre alt, aber auch sie würden sich irgendwann abnabeln und eigene Wege gehen. Dann würde es oben in der Wohnung leer und still.
An den Ruhestand dachten Hanno und Betje noch lange nicht, dafür waren sie noch zu jung, sie mit Ende vierzig, Hanno vor Kurzem fünfzig Jahre alt geworden. Gerade jetzt war nicht an eine Verschnaufpause zu denken.
Der Wohlstand dieser glänzenden neuen Zeit weckte auch einen Jieper auf Delikatessen. Besonders vor den Wochenenden waren die Läden brechend voll, weil Kaviar, Gänseleberpastete und Austern eine Abendgesellschaft erst abrundeten, Champagner, Ananas und Hummer nun auch zum gutbürgerlichen Ton gehörten. Finja und Levke unternahmen mit Jordis und Lisje derzeit den ersten Anlauf, schon fertige Platten mit appetitlich dekorierten Häppchen für festliche Anlässe ins Haus zu bringen.
Überhaupt brummte das Liefergeschäft. Zusätzlich zu neuen Ladenmädchen hatte sie auch weitere Botenjungen eingestellt. Hausfrauen, die sich stundenweise etwas dazuverdienen wollten, packten im Stammhaus die Präsentkörbe, die als Dank für eine Einladung, zu Geburtstagen und Jubiläen gerade in Mode kamen, und in den Büros an der Großen Bleichen waren mittlerweile einige Angestellte mehr mit Bestellungen und Rechnungen beschäftigt.
Nichts davon hätten sich Betje und Hanno träumen lassen, als sie damals zu Fuß von Ostfriesland nach Hamburg gewandert waren und auf der Gasse sitzend die letzten beiden Äpfel aus Hannos Tornister verzehrten. Kinder waren sie noch gewesen und überwältigt von dieser großen Stadt auf dem Wasser, die seitdem noch viel größer geworden war.
Um den rasant wachsenden Zustrom von Schiffen und Waren fassen zu können, wurde der Hamburger Hafen ständig erweitert, zuletzt hier auf dem Grasbrook. Nach dem neuen Magdeburger Hafenbecken und dem ausgebauten Sandtorkai war nun dessen gegenüberliegendes Ufer an der Reihe gewesen, und die Kleingärten dort mussten dem modernen Kaiserkai weichen. Schiffsladungen würden jetzt nicht mehr gelagert, sondern mittels Dampfkränen und von Menschenkraft gezogener Karren sortiert und sofort per Schiff, Kahn oder Eisenbahn weitertransportiert; ein solch ausgeklügeltes und wirtschaftliches System gab es sonst nirgendwo auf der ganzen weiten Welt.
Ein neuer Speicher sollte ebenfalls entstehen, an der Spitze der Landzunge zur Norderelbe hin. Der größte und modernste Speicher, den die Stadt je gesehen hatte, direkt von Hochseeschiffen anzufahren und mit Gleisanschluss. Überhaupt schien in Hamburg das Speicherfieber ausgebrochen. Auch hier am Kehrwieder sollten welche hochgezogen werden, auf derzeit noch bewohnten und bewirtschafteten Grundstücken, die die Stadt Hamburg verpachtete. Pläne, die auf den geballten Unwillen der Anwohner stießen, die um ihre kleinbürgerliche Idylle fürchteten, um die in Jahren, ja Jahrzehnten gewachsene Nachbarschaft. Womöglich würde gar nichts aus diesem Bauvorhaben, oder es gäbe irgendwann ein anderes, noch größeres, das den Kehrwieder vollkommen umkrempelte und sie hier alle entwurzelte.
Wie mit Siebenmeilenstiefeln eilte die Zeit ihnen voraus und ließ nicht einmal das, was gemauert und ewig schien, unverändert.
Immer wenn Betje darüber nachdachte, fiel ihr das Zeitsignal ein, das der neue Kaiserspeicher erhalten sollte. Ein Ball, der zur festgelegten Stunde in einem Gerüst oben auf der Spitze fiel und nach dem die Schiffe ihre Chronometer auf die Sekunde genau stellen konnten.
Nicht mehr lange, und auf den Meeren der Welt würden die Uhren so ticken, wie Hamburg es vorgab. Während die Zeit selbst so schnell dahinflog wie ein Ball im freien Fall.
Was dennoch kein Grund war, Trübsal zu blasen; stets nach vorn zu schauen, das hatte Hanno sie in all den Jahren gelehrt.
»Gerrit wird seine Wohnung hier aufgeben«, sagte Betje deshalb. »Willst du sie vielleicht mieten?«
Ein überraschtes Lachen brach auf Cathrins Gesicht hervor.
»Und ob ich das will!«
Betje stellte ihre Tasse ab und streckte über den Tisch hinweg die Hand nach der Cathrins aus.
»Willst du vielleicht auch zum Essen bleiben?«
An diesem Abend saßen sie wieder alle zusammen in der Küche der Reintjes, bei Pannfisch mit Bratkartoffeln, den sich die beiden Weltreisenden gewünscht hatten. Im Kreis der Familie wurden Mitbringsel ausgepackt, die Chutneys ausgiebig gekostet, Geschmackseindrücke diskutiert und Vorschläge gemacht, wie sie am besten zu vermarkten wären.
Wie eine Klette hing Hauke abwechselnd an seinen großen Brüdern und löcherte sie unaufhörlich nach aufregenden und dramatischen Abenteuern, die sie doch zweifellos in Indien erlebt hatten. Obwohl sie ihm ein ums andere Mal erklärten, dass sie dort ganz normal zur Schule gegangen waren und gearbeitet hatten wie zu Hause auch. Finja zeigte Stoffmuster für das Brautkleid, die Aussteuer und Polstermöbel her und schwärmte von der luftigen Wohnung am Großen Burstah, in die sie und Martin ziehen würden. Fürs Erste zumindest; unmittelbar nach der Hochzeit würden sie anfangen, auf ein Häuschen im Grünen zu sparen.
Am meisten stand an diesem Abend jedoch Henning im Mittelpunkt. Unvorstellbar, dass er vor einem guten Jahr ein noch etwas ungelenker Bursche gewesen sein sollte, unsicher und krank vor Heimweh. In Indien war er nicht nur ein paar Zoll gewachsen, sondern auch zu einem ernsthaften jungen Mann gereift, breiter in den Schultern und mit einer klaren Vorstellung von sich und seinem Leben. Stolz zeigte er seine Zeugnisse vor und besprach in ersten groben Zügen mit seinen Eltern, wie er sich nach dem Abschluss seine Zukunft in der Medizin vorstellte.
Dass Hanno und Betje ihm das Studium finanzieren würden, war gar keine Frage, das verriet das Leuchten in ihren Augen und wie Hanno ab und zu über Hennings Schulter rieb, Betje ihm im Vorbeigehen über den Kopf strich.
Immer wieder kreuzten sich Cathrins Blicke mit denen Gerrits, fragend und hoffnungsvoll einerseits, abwartend bis ausweichend andererseits. Und Cathrin fragte sich, ob sie letztlich nichts als ein verwöhntes Gör war, das immer genau das wollte, was sie nicht haben konnte.