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Mit dem Frühling in Norwegen kroch eine Rastlosigkeit unter Jakobs Haut, puckernd und juckend wie eine nur langsam verheilende Wunde. So viel Holz er auch hackte und spaltete, er wurde das Kratzen in den Knochen nicht los, dieses Zerren in den Eingeweiden, das ihn reizbar machte.

Jakob kehrte der Hütte am Voroninvatnet den Rücken. Dankbar, dass Christian ihn ziehen ließ, ohne zu fragen, wohin er ging und wann er zurück sein würde, ob überhaupt; das wusste Jakob selbst nicht.

Kaum mehr als das Nötigste in einem Bündel auf dem Rücken, marschierte er in die grasige Ebene hinaus. Über windzerzauste Hügel und Anhöhen, durch lichte Laubwäldchen und die dunklen Kammern aus Tannen und Kiefern, in denen harschiger Schnee geduldig ausharrte.

Ein Land, in dem nie ein Wort gesprochen worden war, so kam es Jakob vor, weil seit Anbeginn der Zeit kein Mensch je einen Fuß hineingesetzt hatte. Eine weite Stille, in der er verloren gehen könnte, ohne dass jemals irgendjemand erfuhr, was aus ihm geworden war.

Umso grimmiger schritt Jakob aus, während die Sonne über seinem Kopf ihren Bogen schlug. Sobald es dunkelte, ließ er sich an Ort und Stelle nieder. In seine dicke Jacke eingemummelt und sein Bündel unter dem Kopf, beobachtete er das Aufglimmen der Sterne zwischen den Wolken, bis ihm die Augen zufielen und er sich der Finsternis ergab.

Mit dem ersten schwachen Licht des neuen Tages zog er weiter. Den Vögeln nach, die aus den Gräsern aufflogen, wohl wissend, dass er sie nie erreichen würde, erdverhaftet und schwerfällig, wie es des Menschen Schicksal war. Er rastete nur, um mit einem Bissen getrockneten Rentierfleischs, einem Fetzen Fladenbrot den größten Hunger zu stillen und seinen Durst zu löschen.

Zwischen den Steinen des Bachbetts ging Jakob in die Hocke und trank aus den hohlen Händen. Vor dem nächsten Schluck hielt er inne und beobachtete, wie das Wasser unaufhaltsam durch seine Finger sickerte, so fest er sie auch zusammenpresste. Wie das Leben selbst, genauso formlos und ungreifbar, genauso flüchtig. Nur für den Moment konnte man es in den Händen halten und davon trinken; wenn man Glück hatte, summierten sich diese Momente irgendwann zu einer ganzen Lebenszeit auf.

Ein Geschenk, das meist doch selbstverständlich schien. Eine unvermutete Gnade, die die wenigsten zu schätzen wussten.

Ein solcher Moment war es gewesen, Cathrin in den Wassern der Elbe in den Armen zu halten. Eine Erinnerung, die sich im Lauf der vergangenen Monate vielleicht schon halb aus ihrem Gedächtnis gewaschen hatte.

Aus den Augen, aus dem Sinn.

An den Abenden in der Hütte hatte Christian manchmal am behaglich knisternden Feuer von früher erzählt. Auch von Katya, die er als junger Mann geliebt hatte. Wie ein Schwanenmädchen aus einem russischen Märchen hatte sie mit ihrer weißen Pelzkappe im Gemischtwarenladen gestanden. Ein Rabenkind mit starkem Charakter und scharfem Verstand und einem solchen Mut, dass Christian sich daneben klein und schwach vorkam. Die Achillesferse eines jeden Mannes.

Die Reue über das, was man einmal gesagt oder getan hatte, konnte eine mächtige Last sein. Ungleich schwerer jedoch wog das Bedauern für alles Ungesagte, Ungetane, Unerlebte, bis in alle Ewigkeit in das Schattenreich des Möglichen verbannt.

Jakob blinzelte auf das munter sprudelnde Wasser vor sich. Instinktiv hatte er seine Schritte am Wasser entlanggelenkt. Ohne Nahrung hielt man es gewisse Zeit aus, niemals jedoch ohne Wasser. Wo Wasser war, war auch immer das Leben.

Sein Blick hob sich und wanderte hinaus in die wilde Kargheit dieser Landschaft. Hier gab es keine Straßen, keine Pfade, noch nicht einmal einen besonders markanten Punkt, den man sich als Ziel erkor. Dennoch war er hier nicht ganz verloren. Die Flüsse und Bäche wussten, wo es zur Küste ging, die Flechten an Felsen und Baumrinde wiesen die Himmelsrichtung aus, und selbst in der Nacht blieb noch der Polarstern, ein treuer Wegweiser nach Norden.

Irgendwo dazwischen hatte Jakob sich seinen eigenen Weg gebahnt. Auch wenn er noch nicht absehen konnte, wohin dieser ihn führen würde.

Unvermittelt kühlte die Luft aus. Der Himmel hatte sich eingetrübt und verdunkelte sich zusehends, die ersten Regentropfen trafen Jakob ins Gesicht. Langsam stand er auf und stieg aus den Stiefeln, pellte sich die Kleider bis auf den letzten Faden vom Leib.

Nackt wie ein Neugeborenes badete er im kalten Regen. Wie ein brunftiger Hirsch wollte er in die Welt hinausröhren, johlend umherspringen und sich auf dem Boden wälzen, um seine Jungfräulichkeit an Mutter Erde zu verlieren, ihre karge Krume mit seinen Tränen und seinem Samen zu salzen.

Und doch blieb er einfach nur stumm stehen, seine Haut viel zu eng, um dieses Gefühl einer rohen und ungezügelten Lust zu fassen, der Lust auf das Leben selbst.


Leicht und frei fühlte er sich, als der Voroninvatnet wieder in Sicht kam, glänzend in der Frühlingssonne. Hinter dem verlassen daliegenden Haus für die Arbeiter hatte Christian eine Leiter an Katyas Hütte gelehnt und hämmerte mit hochgekrempelten Hemdsärmeln auf dem Dach herum. Dass vor dem nächsten Winter einiges an Reparaturen nötig sein würde, darin waren sie sich einig gewesen.

Christian hob den Kopf, und die Erleichterung, die über sein Gesicht zog, war endgültig wie eine Heimkehr für Jakob.

»Sieh an«, rief Christian ihm zur Begrüßung entgegen. »Der einsame Wanderer ist aus der Wildnis zurück.«

»Sprach der Eremit vom See.«

Kumpelhaft grinsten sie sich an.

»Geht es dir besser?«, fragte Christian.

Jakob warf das leere Bündel und die dicke Jacke von sich.

»Viel besser.«

»Gut.« Mit dem Unterarm wischte Christian sich den Schweiß von der Stirn. »Du siehst aus, als könntest du etwas zu essen vertragen.«

Jakob reckte das Gesicht in die Sonne und atmete tief durch. Erschöpft und ausgehungert hätte er sein müssen, nach seinem tagelangen Marsch bei schmaler Kost; stattdessen fühlte er sich gestärkt.

»Später vielleicht.«

Christian nickte und schlug einen weiteren Nagel ein. Die Augen halb zusammengekniffen, legte Jakob den Kopf schräg und musterte die neu aufgelegten Holzschindeln.

»Du machst das falsch.«

»Tatsächlich?« Irritiert blickte Christian zwischen dem Dach und Jakob hin und her. »Verstehst du etwas davon?«

»Ein wenig.«

»Na dann.«

Christian stieg ein paar Sprossen herunter und strecke ihm den Hammer entgegen.

»Mach’s besser.«

Grinsend nahm Jakob ihm das Werkzeug aus der Hand.


Eine betriebsame Zeit wurde es am sonst stillen Voroninvatnet. Gemeinsam planten Christian und Jakob die Arbeiten an der Hütte und fragten Lejo um Rat, wenn sie nicht weiterwussten. Mit ein paar Männern aus dem Eidfjord verluden sie das aus Bergen eingetroffene Holz, sägten, schmirgelten, hämmerten und pinselten Hand in Hand.

Eine Zeit, in der sie sich nicht nur die Arbeit und die Mahlzeiten teilten, sondern einander viel erzählten. Eindrücke und Erfahrungen, Gedanken, Wünsche und Hoffnungen von früher und heute, denen sie mit jedem einzelnen Handgriff eine klarere Form gaben und etwas Neues daraus machten. Mit jeder Nut und Feder, die sie zusammenfügten, mit jedem eingeschlagenen Nagel schienen auch Jakob und Christian enger zusammenzuwachsen. Auf freundschaftliche Art miteinander vertraut und manchmal geradezu wie ein Vater mit seinem Sohn.

Hin und wieder beobachtete Christian, wie Jakob über den Dachfirst hinweg seinen Blick in die Ferne schweifen ließ. Wachsam und mit einer gewissen Scheu, als wartete dort am Horizont etwas auf ihn, nach dem er sich sehnte und dem er doch noch nicht recht traute.

Der Krieg hatte Jakob mit gebrochenen Flügeln zurückgelassen. Dass sie hier am Voroninvatnet verheilt waren, daran hegte Christian keinen Zweifel. Nun hoffte er, der junge Mann würde auch den Versuch wagen, wie weit sie ihn schon wieder trugen.


An einem Tag im Mai war es so weit. Zusammen wanderten sie zum Eidfjordvatnet, wo Lejo Jakob abholen würde, um ihn in den Fjord zu bringen und von dort mit einem Kahn nach Bergen. Mit etwas Glück würde Jakob gleich eine Passage nach Hamburg bekommen.

Schweigsam und in sich gekehrt war Jakob den Morgen über gewesen, nur das Nötigste hatten sie miteinander gesprochen. Auch jetzt fiel es ihm sichtlich schwer, den Mund aufzumachen, während sie sich den schroffen Berghängen näherten, zwischen denen sich der See in seinem metallischen Blau öffnete.

»Kriegst du den Rest allein hin?«, rang sich Jakob dann doch ab.

Um die Hütte wohnlicher zu gestalten, hatten sie noch eine Art von Anrichte vor Augen gehabt. Der seinerzeit von Grischa gezimmerte Tisch musste wieder abgeschliffen und geölt werden, und auch für das Arbeiterhaus standen Reparaturen an.

»Sicher«, antwortete Christian im Brustton der Überzeugung, obwohl er sich zum ersten Mal in seinem Leben als Handwerker versuchte.

Jakob nickte geistesabwesend; offenbar lag ihm etwas anderes auf der Seele.

»Was, wenn Cathrin mich doch nicht will?«, kam es dann heiser von ihm.

»Das Risiko musst du eingehen«, erwidert Christian. »Aber sie ist es wert.«

»Ich weiß.«

Ein Lächeln entfaltete sich zwischen ihnen.

Das grüne Tal hatten sie hinter sich gelassen. Kies und Geröll klackten und knirschten unter ihren Stiefelsohlen und verstummten, als sie am Ufer haltmachten. Eine Handvoll Boote ruhte auf dem Trockenen; mit der wärmeren Jahreszeit waren auch die Hirten wieder in die Ebene hinausgezogen.

Jetzt war Christian derjenige, der zögerte, dabei hatte er lange und gründlich darüber nachgedacht, den ganzen Winter über. Schließlich holte er doch den Umschlag aus der Jackentasche hervor.

Fragend sah Jakob ihn an.

»Mach auf.«

Jakobs Brauen hoben sich verblüfft, als er das Schriftstück auseinanderfaltete und das Siegel des Notars in Bergen darauf entdeckte. Sobald er es zur Gänze gelesen hatte, zeigte seine Miene blankes Erstaunen.

»Das kann ich nicht annehmen.«

»Natürlich kannst du. Es sichert dir deine Zukunft und bietet zumindest eine gewisse Garantie, dass Cathrin weiter mit dir reden muss.«

Beide wussten sie, dass es mehr war als das. Dieses Papier gab Jakob einen festen und unverrückbaren Platz in der Familie, und eine ganze Flut an Regungen zog über sein Gesicht.

»Mach es aber erst öffentlich, wenn es nötig wird«, fügte Christian hinzu. »Um des lieben Friedens willen. Du kennst doch Ludger.«

Jakob grinste. »Abgemacht.«

Aus der Ferne näherte sich das Boot mit Lejo und zog eine gekräuselte Spur durch das glatte Wasser.

»Danke, Christian.«

Ihr herzhafter Handschlag ging in eine schulterklopfende Umarmung über.

»Viel Glück«, murmelte Christian. »Und grüß alle von mir. Vor allem Cathrin.«

Jakob erwiderte Lejos gut gelaunten Gruß, als er auf das Boot zuwatete, sein Gepäck hineinwarf und im Gegenzug den Sack an Land hievte, den Lejo mitgebracht hatte, bevor er selbst hineinkletterte.

Wie eine Fähre in eine jenseitige Welt trug das Boot Jakob über den See und verschwand dann zwischen den Berghängen.

Christian harrte weiter am Ufer aus und lauschte der Stille, die sich um ihn zusammenzog. Nur das sanfte Glucksen von Wasser war zu hören. Das Flüstern des Windes in jungem Gras und neuem Laub und das entfernte Summen eines Insekts.

Mit diesem Frühling war er sechsundsechzig Jahre alt geworden, ein Geburtstag, der so leise und unbemerkt gekommen war wie ein nächtlicher Regenschauer.

Zum ersten Mal in seinem Leben war er allein. Eine Leere, in die er ebenso furchtsam wie neugierig hineinspähte wie in einen Vulkan vom Rand des Kraters. Eine Herausforderung, der er sich stellen wollte, obwohl er nicht wusste, ob er sie meistern oder was danach kommen würde.

Schließlich schulterte er den Sack mit Lebensmitteln, vielleicht wieder mit einem Brief von Katya, Cathrin oder Grischa, und wanderte zurück an den Voroninvatnet.

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