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Die Zeit heilt alle Wunden, hieß es. Jakob fiel es schwer, das zu glauben.

Dennoch hatte es etwas Friedvolles, hier in Norwegen die Zeit vorbeifließen zu sehen. Die Wochen ungezählt, die Monate namenlos. Jeder Tag ein Tropfen Wasser im mal blauen, mal grauen See, ununterscheidbar und doch nie derselbe. Ein Wimpernschlag der Ewigkeit und flüchtig wie ein Atemzug.

Wenn der Vorrat an Brennholz zur Neige ging, spaltete Jakob frisches aus den Blöcken, die hinter dem Haus lagerten, und schichtete die Scheite neben dem Herd auf. Aus den Lebensmitteln, die alle paar Tage mit dem Boot über den Eidfjordvatnet gebracht wurden, schmurgelten er und Christian mehr praktisch als fachmännisch ihre Mahlzeiten zusammen, die sie in einträchtigem Schweigen verzehrten.

Die meiste Zeit wanderte Jakob ziellos durch die Landschaft, die mehrheitlich von Schafherden und Rentieren bevölkert war. Die Hirten grüßten zwar freundlich, legten ansonsten aber eine geradezu mönchische Schweigsamkeit an den Tag. Anders als ihre Hunde, die mit freudigem Gebell Jakob zum Spielen und Raufen aufforderten, bevor sie mit hängender Zunge und einem Grinsen auf den Lefzen ihre Pflicht wieder aufnahmen.

Einsame Vögel begleiteten Jakobs Wege, und manchmal ein Polarfuchs, sein Sommerfell wie aus Erde und Sand. In diesem Landstrich, der so viel größer und weiter schien als seine Ausdehnung auf der Karte verhieß.

Eine Insel der Stille, abgeschnitten vom Rest der Welt.

Oft saß Jakob einfach nur irgendwo da, sein Kopf auf wohltuende Weise genauso leer wie seine Seele. Eins mit den Rauchfähnchen seiner Zigarette, die auf dem leisesten Lüftchen dahintrieben.

So verging der sattgoldene Spätsommer, bis das Licht zunehmend verblaute und die Gräser sich zu Rost und Sepia verfärbten. Auf einem schneidenden Wind tanzten die ersten Schneeflocken daher, und noch immer schwamm Jakob im See, der beißend kalt auf der Haut war und aus Armen und Beinen schwerfällige Eisenbalken machte, während sein Herz umso schneller, umso kräftiger schlug. Jedes Mal war ihm leichter zumute, wenn er aus dem Wasser stieg, das Ufereis unter seinen Fußsohlen splitternd wie Glas.

Der Winter senkte sich dick und weiß über das Land und fror die Zeit ein. Als die Welt gänzlich stillstand, kamen Lejo und seine Männer aus der Siedlung herüber und befreiten Werkzeug und Gerätschaften aus der Sommerruhe des Schuppens. Und mit ihnen kam Grischa, angetrieben von vorwärtsstürmender Tatkraft, die langjährige Freundschaft mit den Leuten vom Eidfjord in seinem Fahrwasser.

Beobachtet und geradezu begutachtet kam Jakob sich seinem Vater gegenüber vor. Als ob dieser einzuschätzen versuchte, inwieweit mit Jakob wieder alles in Ordnung war, er bereit wäre, als vollwertiges Mitglied von Familie und Gesellschaft nach Hamburg zurückzukehren. In der Ruhe am See empfand Jakob seinen Vater so irritierend wie eine Sturmbö, die an ihm zerrte und riss. Erleichtert atmete er auf, als Grischa in die Berge aufbrach und der aufgewirbelte Schnee sich wieder legte.

Dennoch blieb eine sonderbare Art der Enttäuschung an ihm haften wie Raureif. Ein Gefühl der Zurückweisung, das er mit auf den zugefrorenen See hinausnahm.

Zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang wanderte Jakob mit Christian und Lejos Männern auf der spiegelnd glatten Fläche, wo sie ihre Schnitte ins Eis setzten. Einen Schritt, einen herausgehebelten Block nach dem anderen, während hinter ihnen das freigelegte Wasser leise murmelte und gluckste.

Ein Gleichmaß der Tage, in dem Jakob sich ebenso gut aufgehoben fühlte wie in der Gesellschaft der Männer, wenn sie sich zwischendurch mit einem Kaffee aufwärmten. Abends am Feuer saßen sie oft noch einige Zeit zusammen, obwohl sie alle ausgelaugt waren und ihnen die Muskeln schmerzten, aber in dem guten Gefühl, ganze Arbeit geleistet zu haben.

Das Schnauben und Prusten der Rentiere und die dunklen Stimmen der Männer hüllten Jakob wie in eine warme Decke ein. Aus der hiesigen Mundart konnte er Anekdoten aus vergangenen Jahren herauspicken, Streiche, die die Kinder zu Hause ausgeheckt hatten, Bemerkungen über das Wetter und Pläne für ein neues Haus, ein paar Pferde.

Einblicke in ein Leben, das Härten und Nöte kannte, mehr aber noch den Halt einer Gemeinschaft. Hier schien es nicht unmöglich, den Glauben an die Menschheit wiederzufinden.


Ein Geräusch kitzelte Jakob aus dem Schlaf, der tief geworden war und meistens traumlos. Auf der Schlafstatt am anderen Ende der Hütte gingen Christians Atemzüge ruhig und gleichmäßig.

In einem unangestrengten Nebeneinander hatten sie sich hier in Norwegen eingerichtet, in respektvollem Abstand, aber beileibe nicht gleichgültig. Mit einer gewissen Scheu vor den Wunden des anderen, der Kriegsversehrte und der Witwer. Bis sie ins Eis gegangen waren, hätte Jakob nicht einmal zu sagen gewusst, womit Christian seine Tage verbrachte.

Auf eine Art bedauerte Jakob es, dass die Eisernte für diesen Winter schon vorüber war; mit den letzten Eisblöcken aus den Bergen war gestern auch Grischa an den See zurückgekehrt.

Das Geräusch hob erneut an, kaum mehr als ein Kratzen auf Jakobs Trommelfell. Zu leise, um wirklich störend zu sein, aber so rätselhaft, dass es seinen Verstand beschäftigt hielt. Seufzend schob er sich aus dem Bett und griff zu Kleidern und Stiefeln. Er würde nicht eher Ruhe finden, bis er diesem Geräusch auf den Grund gegangen war.

Der Schnee leuchtete verblüffend hell im Licht der Sterne und tauchte die Silhouetten der Nacht in silbriges Blau. Die Glut der Feuerstelle war längst erloschen, das Haus der Arbeiter dunkel. Einer der Hunde, die mit ihrem dicken Fell draußen schliefen, hob den Kopf. Mit einem wolfsgleichen Gähnen streckte er sich und schloss sich Jakob an. Fast so, als würde er ihm den Weg weisen. An den Ufern des Voroninvatnet vorbei, das Eis dieses Winters bis auf den letzten Rest abgeschält, und in die verschneite Nacht hinaus.

Aus gegensätzlichen Richtungen schien das seltsame Geräusch zu kommen und war doch besser zu hören, je weiter Jakob ging, über die Ebene zu ihm getragen und von den Bergen verstärkt. Ein hohes und dünnes Sirren wie das Pfeifen einer Granate vor dem Einschlag. Unterstrichen von zögerlich knackenden Schlägen wie der erste Donner eines aufziehenden Gewitters. Wie Schüsse.

Jakob unterdrückte den Impuls, sich schutzsuchend auf den Boden zu werfen. Schwer atmend setzte er einen bleiernen Fuß vor den anderen, sein Magen ein einziger Eisklumpen.

Der Hund schien zu wittern, was in ihm vorging; dicht hielt er sich neben Jakob, sah immer wieder mit seinen blauen Wolfsaugen zu ihm hinauf, wie ermunternd. Bis er mit einem Fiepen die bebende Schnauze in die Luft hielt und in langen Sätzen davonjagte. Auf den breitschultrigen Schattenriss eines Mannes zu, der lachend in die Hocke ging und den sich im Schnee wälzenden und vor Übermut zappelnden Hund kraulte.

Grischa. Am liebsten hätte Jakob kehrtgemacht, aber die Neugierde trieb ihn weiter an.

»Was ist das?«, fragte er in die Töne hinein, die hier draußen jeglichen irdischen Klang verloren hatten.

»Ein zugefrorener See«, antwortete Grischa, während seine Finger sich in den Pelz des Hundes gruben. »Vermutlich der See, den wir damals in unserem ersten Winter hier entdeckt, aber nicht weiter in Betracht gezogen haben, weil sein Eis zu leicht splitterte. Er liegt eine gute Stunde mit dem Rentierschlitten von hier entfernt.«

Staunend lauschte Jakob dem sehnsüchtigen Klagen, das aus einer anderen Welt zu kommen schien, halb Elfenchor, halb das Kreischen von Dämonen.

»Das Eis singt«, fügte Grischa weich hinzu. »So hat Katya es als kleines Mädchen genannt. Für sie ist es der schönste Klang der Welt.«

Die Art, wie er den besonderen Sinn seiner Schwester für Eis und Schnee neidlos anerkannte, ihr auf zärtliche Weise Respekt zollte, versetzte Jakob einen Stich. Weil es ihm selbst nicht gelingen wollte, seinem Vater auf ähnlich großzügige Weise zu begegnen.

»Warum hast du mich nicht in die Berge mitgenommen?«

Ein Vorwurf, der Grischa sichtlich unvorbereitet traf. Kräftig rieb er noch einmal über den Bauch des Hundes, bevor er aufstand.

»Weil der Berg im Winter unberechenbar ist. Wir haben über die Jahre nicht viele Männer im Eis verloren, aber wir haben doch einige verloren. Ich hätte mich auch nie in dieses unwegsame Gelände gewagt, hätte ich nicht Leute an meiner Seite gewusst, die darin groß geworden sind.«

»Wie beruhigend.«

Die Bitterkeit in seinen Worten verätzte Jakobs Zunge.

»Kommt dir gar nicht in den Sinn, dass ich dich beschützen will?«, fragte Grischa leise. »Wie ein Vater seinen Sohn eben beschützt?«

Vor dem Krieg hättest du mich beschützen müssen, brüllte Jakob ihm stumm entgegen. Vor den blutigen Schlachtfeldern und dem Grauen und dem Tod. Warum hast du mich davor nicht bewahrt?

Grischas Versuche, ihn davon abzuhalten, in den Krieg zu ziehen, kamen ihm in der Erinnerung viel zu leise, zu schwach vor. Und das Wissen um seine eigene Ungerechtigkeit fachte seinen Zorn nur noch heftiger an.

Grischas Hand legte sich auf seine Schulter. Unwillig versuchte Jakob, sie abzuschütteln, doch es gelang ihm nicht, Grischa packte nur kräftiger zu.

»Lass mich«, knurrte Jakob und versetzte seinem Vater einen Stoß.

Alles an ihm sträubte sich, als Grischa die Arme um ihn schlang. Wie in einer Zwangsjacke kam er sich vor, die unmittelbare Nähe zu seinem Vater unerträglich. Jakob rammte ihm den Ellbogen in die Rippen, boxte und trat nach ihm. Das meiste fingen sicher die wattierten Wintersachen ab, aber Grischa musste doch trotzdem etwas spüren, irgendeinen seiner Hiebe und Tritte, irgendeinen Schmerz. Doch er hielt ihn nur umso fester, je härter Jakob zuschlug. Blind vor Zorn auf seinen Vater, sich selbst, die ganze Welt.

Ein ungleiches Kräftemessen war es, ein tollwütiger Keiler gegen eine standhafte Eiche, der beunruhigt heulende und bellende Hund ihr Sekundant.

»Ich bin da«, sagte Grischa. »Früher war ich es nicht, das weiß ich. Aber jetzt bin ich da, Jakob.«

Schwitzend und schnaufend arbeitete Jakob sich in der Umklammerung seines Vaters ab, einen Stoß, einen Schlag nach dem anderen, die allesamt wirkungslos verpufften.

»Es wird wieder in Ordnung kommen«, versprach Grischa.

»Einen Scheiß wird es«, brüllte Jakob ihm ins Gesicht, beide Fäuste in den dicken Jackenstoff gekrallt. »Wie denn auch?«

»Das wird es trotzdem.«

Jakobs Kraft war aufgebraucht, sein Zorn verraucht. Wie ein nasser Sack hing er in Grischas Armen, während der Hund zu seinen Füßen mitleiderregend fiepte.

»Ich hab solch schlimme Dinge getan«, murmelte Jakob an Grischas Schulter, seine Atemzüge halb ein Keuchen, halb ein Schluchzen.

Seine Bitte um Vergebung. Nicht nur an Grischa gerichtet, sondern an die Welt. Am Ende womöglich gar an sich selbst.

Wie ein kleines Kind wiegte Grischa ihn in den Armen.

»Es war Krieg, Jakob. Es war der Krieg.«

»Ich wünschte, ich wäre niemals ins Feld gezogen.«

Grischa fuhr über Jakobs Kopf. »Ich weiß.«

Jakob glaubte zu ersticken, so schwer war die Last auf seiner Brust.

»Ich konnte Tristan nicht retten«, würgte er schließlich hervor.

Er glaubte, förmlich zu fühlen, wie Grischas Herz einen Schlag aussetzte und sich dann zusammenzog.

»Das konntest du auch nicht«, flüsterte Grischa. »Niemand hätte das gekonnt. Hörst du? Niemand, Jakob.«

Ein Zittern lief durch Jakob, dankbar, dass Grischa da war, an dem er sich festhalten konnte.

»Ich weiß nicht mehr weiter«, gestand er schließlich ein.

»Einen Schritt nach dem anderen«, murmelte Grischa. »Immer nur einen einzigen Schritt. Wie lange es auch dauern mag.«

In dieser Nacht lernte Jakob, dass ein Vater nicht nur jemand war, an dem ein Sohn sich maß und den Aufstand probte. Sondern auch ein Anker im reißenden Meer.

Ein Fixpunkt wie der Polarstern am Firmament über ihnen, während das Eis sang.

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