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Die Fensterscheibe des Abteils trennte Grischa von der emsigen Betriebsamkeit im Gare de Lyon, wo Menschen umherhasteten, um ihren Zug zu erwischen, vor dem Bahnhof einen Wagen zu ergattern, nicht zu spät zu ihrem Termin, einer Verabredung zu erscheinen. Andere hielten gebannt Ausschau; wonach, das wussten nur sie allein, während der Dampf der schnaufenden Lokomotiven die Bahnsteige entlangwaberte und die Sicht vernebelte. Viele warteten einfach nur, seit Ewigkeiten, wie es schien. Als wüssten sie selbst nicht, ob ihr Zug jemals kam.

Grischa spähte auf seine Taschenuhr, steckte sie jedoch gleich wieder ein. Für ihn gab es jetzt keine Frachten mehr, die schnellstmöglich befördert werden mussten. Keine Fristen und Kundentermine, keine Besprechungen und Vorstandssitzungen.

Jeden Wettlauf mit der Zeit hatte er gewonnen, nun hatte er viel zu viel davon.

Nach Katya war er der letzte der Eisbarone, der sich aus dem Unternehmen zurückgezogen hatte. Das Vermögen, das sich über die Jahre angesammelt und gut angelegt worden war, und die regelmäßigen Zahlungen von Jakob und Cathrin für seine Anteile ermöglichten ihm das sorgenfreie Dasein, nach dem er sein Leben lang gestrebt hatte.

Als ein Abenteuer hatte es begonnen. Damals, mit den Walfängern auf den Meeren des Nordens, mit grönländischen Pelzen und einer Polarnacht auf Spitzbergen. Kühn hatten sie das Eis aus den zugefrorenen Seen Norwegens in die Tropen verschifft und sich in Madras mit den Schätzen Indiens die Taschen vollgestopft.

Der Stoff, aus dem Legenden gemacht waren.

Die Zeit der Legenden neigte sich jedoch dem Ende entgegen, zusammen mit der Ära der großen Segler. Die Zukunft gehörte dem Dampfantrieb, der die Welt in Windeseile einem neuen Jahrhundert entgegenschob. Bald schon würden Maschinen vieler Hände Arbeit ersetzen, neue Erfindungen das Kreiseln der Welt weiter beschleunigen und dabei die Spreu vom Weizen trennen. Auch in der Welt des Handels.

Immer mehr Eis strömte aus dem Winter Norwegens in den Rest Europas und drückte zunehmend den Preis. Inzwischen deckten sogar die Brauereien im Süden Deutschlands ihren gewaltig angestiegenen Bedarf damit; ein Markt, auf dem die Eisbarone aus Hamburg nie hatten Fuß fassen können. Es würde nur eine Frage von Jahren sein, bis die Technik auch hier so weit war, eine andere Form der Kühlung anzubieten, die einfacher und sicher auch billiger war, das spürte Grischa in den Knochen.

Jetzt machte es sich bezahlt, dass sie nie auf das Eis allein gesetzt hatten. Aus Petersen & Voronin war ein etabliertes Handelshaus von Weltruf geworden, eine junge Reederei mit rosigen Aussichten, gut gerüstet für die neue Zeit; bei Cathrin und Jakob wusste Grischa das Lebenswerk der Eisbarone in besten Händen.

Deshalb war er ohne großes Bedauern gegangen, ohne einen wehmütigen Blick zurück.

Grischa setzte sich bequemer im Sessel zurecht und musterte seinen durchscheinenden Doppelgänger in der Scheibe. Seit Tristan im Krieg gefallen war, war er zunehmend ergraut, Haar und Bart wie alter Schnee. Fünfundsechzig Jahre würde er bald zählen. Eine viel zu hoch gegriffene Zahl für einen Mann wie ihn, groß und kräftig wie eh und je, und er hatte auch noch alle seine Zähne. Und doch glich sein Gesicht heute einer Landkarte, die man lange in der Tasche getragen hatte. Manchmal knackte und stach es in seinen Gelenken, verwittert vom Salz der Meere und der Zeit, zog es in seinen Muskeln wie ein unerfülltes Sehnen.

Die Tür des Abteils öffnete sich. Ein verirrter Sonnenstrahl fing sich an Glas und Messing und blendete Grischa. Blinzelnd konnte er die hünenhafte Gestalt eines Mannes ausmachen, umgeben von einer leuchtenden Aureole, die sein Haar fast weiß leuchten ließ.

Thilo.

Grischas Herz setzte einen Schlag aus und sprang dann wild in seiner Brust umher, in einem ungezügelten, unwahrscheinlichen Gefühl von Glück.

»Verzeihen Sie. Ist hier noch frei?«

Eine Stimme wie weite Wiesen und sanfte Hügel und dichte Laubwälder, die ein zwar geübtes, aber sperriges Französisch sprach. Ein Fremder, der ihn einen Wimpernschlag lang getäuscht hatte.

Nein, lag es Grischa auf der Zunge, die wie totes Holz in seinem ausgedörrten Mund steckte. Doch der Schock saß zu tief, und mechanisch nickte er.

Mit selbstsicheren Bewegungen schloss der andere Reisende die Tür und verstaute sein Gepäck, das von ebenso guter Qualität war wie Anzug und Schuhe, aber sichtlich weit gereist. Aufseufzend warf er den Hut auf die Ablage und ließ sich in einen der Sessel fallen. Schräg gegenüber von Grischa, als wollte er ihm möglichst viel Raum lassen, ohne dabei gleich rüde eine Mauer zwischen ihnen hochzuziehen. In Grischas Alter mochte er sein, ein paar Jahre hin oder her, das sandfarbene Haar wich am Ansatz bereits zurück und glimmerte silbern.

»Stört es Sie, wenn ich rauche?«, fragte er.

Grischa deutete ein Kopfschütteln an. Jetzt konnte er die Ecken und Kanten im Französisch des anderen einordnen, von der anderen Seite des Ärmelkanals stammten sie her. Einladend hielt ihm der Engländer das aufgeklappte Zigarettenetui entgegen, und ein Mundwinkel Grischas hob sich zu einem halben Lächeln.

»Ich habe einige Laster«, wehrte er auf Englisch ab, das ihm nach all den Jahren im Geschäft fast so flüssig über die Lippen kam wie Deutsch. »Dies ist keines davon.«

Das Lächeln seines Gegenübers zeigte eine gewisse Sympathie, als er sich eine Zigarette anzündete und gelassen den Rauch ausblies.

Ein interessantes Gesicht hatte er, die Linien darin energisch, die Querfalten der hohen Stirn wie eine Maserung im Holz. Ein Gesicht, das viel gesehen, viel erlebt hatte. Er wandte den Kopf und lugte zum Fenster hinaus. Im einfallenden Licht leuchteten seine schmalen Augen so blau wie ein Gletscher.

»Verspricht immer bedeutend mehr, als es am Ende auch hält«, kommentierte er in einem schneidigen und blank polierten Englisch, eingekerbt von den Sprachen fremder Küsten. »Eine stark parfümierte Kokotte, die hinter ihrer dicken Schminke eine alte Vettel verbirgt.«

Fragend hob Grischa die Brauen.

Sein Gegenüber ruckte mit dem Kinn zum Fenster hin. »Paris.«

Grischa lachte. Zwischen Notre Dame, dem Louvre und Napoleons Grab im Invalidendom hatte er es ähnlich empfunden, in Montmartre und dem Quartier Latin und auf den Champs-Élysées. Deshalb saß er auch wieder hier im Zug, nach nur ein paar Tagen, Paris war ohnehin nur eine Zwischenstation gewesen.

»Ich halte es mehr mit Italien«, erzählte der Engländer zwischen zwei Zügen an seiner Zigarette. »Gutes Essen, guter Wein. Steine der Antike, wohin man tritt, und die Farben der Renaissance. Schöne Menschen mit einer schönen Seele. Das Wetter ist auch besser.«

Grischas bärtiger Mund kräuselte sich amüsiert.

»Fahren Sie auch dorthin?«, wollte der andere wissen.

Grischa bejahte. Dieser Zug fuhr durch, über Lyon und Aix-les-Bains weiter nach Süden, um am Mont Cenis im längsten Tunnel der Welt unter den Alpen hindurchzutauchen und am Monte Cesino auf der anderen Seite wieder zum Vorschein zu kommen, mit Ziel Turin.

Grischas Pilgerfahrt auf Thilos Spuren.

»Die gnädige Frau Gemahlin ist nicht mitgekommen?«, erkundigte sich der Engländer.

Die Neugierde des anderen reizte Grischa auf der Haut.

»Ich bin nicht verheiratet. Sie?«

Das Lächeln hinter dem Zigarettenrauch hatte etwas Rätselhaftes.

»Not my cup of tea«, lautete die Antwort dazu nicht weniger kryptisch.

Grischa kniff die Augen zusammen, plötzlich auf der Hut. Früher hätte er eine solche Bemerkung nicht auf die Goldwaage gelegt. Doch für Männer wie ihn hatten sich die Zeiten geändert.

Preußen hatte nicht nur ganz Deutschland mit in den Krieg gezerrt, sondern dem frisch gegründeten Reich danach seine puritanischen Werte übergestülpt. Lust und Liebe unter Männern galten jetzt als widernatürlich und abartig, das neue Gesetzbuch stellte sie unter Strafe. Selbst in Hamburg, das doch einmal so freigeistig und großmütig gewesen war.

Wer Gleichgesinnte suchte, fand sie immer noch. In den dunklen Winkeln, den finsteren Ecken, schmutzstarrenden Absteigen. Stets die Furcht im Nacken, entdeckt und verraten zu werden, ein Opfer von Feindseligkeit und Hass.

Nicht nur der Gedanke an den grausamen Tod Thilos hielt ihn davon ab, sich in die Heimlichkeit zu flüchten, er fühlte sich schlicht zu alt dafür. Am Ende steckte wohl doch immer noch etwas Rebellisches in ihm, das sich weigerte, diese Seite seines Selbst entweder zu verleugnen oder unter Druck von oben im Schmutz zu knien.

Auch deshalb zog es ihn nach Italien, nachdem er sich in Frankreich bereits auf sicherem Boden wusste.

»Ich habe noch nie verstanden«, tastete Grischa sich jetzt behutsam vor, »warum man sich zwischen Tee oder Kaffee entscheiden sollte. Ich trinke beides.«

Das Lächeln auf dem Gesicht seines Gegenübers dehnte sich aus und bekam geradezu etwas Verschwörerisches. Mit ausgestreckter Rechter richtete er sich auf.

»Oliver Ashford.«

Sein Händedruck war markig wie er selbst.

»Gregor Voronin.«

Mit dem Erwerb der Bürgerrechte hatte Grischa seinen Namen eingedeutscht.

Oliver Ashford hielt Grischas Hand eine Spur länger als nötig. Aufmerksam wanderten seine eisblauen Augen über Grischas Gesicht.

»Sie sind Russe?«

Grischa schwieg einen Herzschlag lang. Ein einfaches Ja wäre die Wahrheit gewesen und doch zu kurz gegriffen, mehr als fünf Jahrzehnte, nachdem er Russland den Rücken gekehrt hatte.

Was war man gegen Ende eines Lebens, wie Grischa es gelebt hatte?

»Aus Hamburg«, antwortete er.

Die Brauen zusammengezogen, ließ Oliver Ashford sich in den Sessel zurückfallen.

»Von Petersen & Voronin, nehme ich an?«

Mit langsamen Bewegungen löschte der Engländer die Zigarette in einem der bereitstehenden Aschenbecher. Sein Blick wanderte zum Fenster hinaus, die Augen wie zum Schutz vor greller Sonne verengt.

»Ich kannte Thilo Petersen«, sagte er nach einer langen und angestrengten Pause. »Aus einem anderen Leben.«

Auf seinem männlich harten Gesicht zeichneten sich genug Trauer und Wehmut ab, um seine Geschichte zu erzählen. Eine tiefe Falte grub sich über seiner Nasenwurzel ein.

»Es gibt auf dieser Welt nicht viele Männer, wie er einer war.«

Hinter Grischas Brustbein fühlte es sich wund an, wie aufgescheuert.

»Nein, mit Sicherheit nicht.«

So etwas wie ein Lächeln zuckte über das Gesicht des Engländers, während er eine seiner Handflächen betrachtete, dann mit dem Daumen der anderen Hand darüberrieb.

»Ich«, begann er und unterbrach sich sogleich, ehe er mit einem Räuspern weitersprach, »ich glaube, es war sein großes Unglück, dass er zu sehr liebte. Nur sich selbst lieben, das konnte er nicht.«

Niemand hatte bisher besser in Worte fassen können, wer Thilo gewesen war.

Draußen schrillte ein lang gezogener Pfiff, und Türen fielen ins Schloss. Der Zug ruckelte an und rollte dann auf seinem Gleis durch die Halle.

Stumm sahen sich Grischa und der Engländer an. Zwei Fremde, die denselben Mann geliebt hatten und heute noch um ihn trauerten. Die sich zufällig am selben Tag im selben Abteil begegnet waren, in einem Zug, der sie unter dem eisigen Herz der Berge hindurchtragen würde. In den sonnigen Süden, wo Ährenfelder voller Klatschmohn auf sie warteten, Pinien und Zypressen und Olivenhaine, wilder Thymian und Wacholder und ein unwahrscheinlich blaues Meer. Zwischen den Ruinen der Vergangenheit gab es ein süßes Leben zu entdecken, inmitten der Säulen und Türme und Kuppeln der Städte mit ihren Piazzen und Palazzi. Eine träge Leichtigkeit, staubig vor Hitze und sommerflirrend. Bis hin nach Venedig, der Stadt der Brücken. Eine auf dem Wasser der Lagune erbaute Fantasie, rätselhaft und ein offenes Geheimnis zugleich. Das Ziel aller Sehnsüchte.

Während der Zug aus dem Bahnhof hinaus- und durch Paris rollte, breitete sich ein Lächeln auf den Gesichtern der beiden Männer aus.

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