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Im Büro unter dem Dach starrte Cathrin auf die Papiere vor sich, unfähig, den Buchstabenreihen, den Zahlenfolgen einen Sinn abzugewinnen. Nichts schien in diesen Tagen mehr einen Sinn zu haben, kein frischer Wind vertrieb den zähen und schweren Nebel in Cathrins Kopf.

Angestrengt lauschte sie auf die Stimmen aus dem Kontor unten; was davon zu ihr heraufdrang, klang in seiner Hektik nach einem Wespennest. In diesen Stunden würde es sich entscheiden, wann die Marie Richtung Bombay in See stach. Die größte Schwierigkeit lag darin, aus dem Stand genug Männer für eine solche Fahrt zusammenzubekommen, viele Seeleute waren bereits zur Marine eingezogen worden.

Cathrins Blick fiel auf Jakobs Schreibtisch, der den dritten Tag schon verwaist geblieben war, seit dem Abend am Kehrwieder. Über dem Fleet schrie eine Möwe, halb melancholisch, halb kampfeslustig. Von den Mauern der hohen Speicher zurückgeworfen, ein unangenehm schriller Laut, der Cathrin durch Mark und Bein ging.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie zusammenfahren. Margarete Paal, eine Schreibkraft in Cathrins Alter, steckte den Kopf herein.

»Verzeihen Sie die Störung, Fräulein Petersen. Sie haben Besuch. Herr Reintjes junior.«

Gerrit bedankte sich mit einem Nicken bei Fräulein Paal, die sachte die Tür hinter ihm schloss. Seinen Hut und eine Aktenmappe in der Hand, sah er sich eingehend um.

»So arbeitest du also«, sagte er leise.

Ein Blick in sein Gesicht genügte.

»Wann fahrt ihr?«

»Bei Sonnenuntergang. Ich habe gerade mit Grischa die letzten Einzelheiten besprochen und die Dokumente abgeholt. In Bombay können wir fürs Erste entweder bei Mr Bradshaw unterkommen oder bei Shilpa. Je nachdem, was uns besser behagt.«

Cathrin nickte. Der Prokurist, der die Geschäfte von Petersen & Voronin auf dem Subkontinent leitete, war ein drahtiger, auf lässige Art gut gekleideter Mann, der jeden Raum mit seiner unbändigen Energie elektrisierte und der doch die schönen Seiten des Lebens zu genießen verstand.

»Bei beiden seid ihr gut aufgehoben. Bradshaw lebt schon seit Ewigkeiten in Indien. Einer jener Männer, auf die man sich immer und unter allen Umständen verlassen kann, und eine angenehme Gesellschaft noch dazu. Und Shilpa ist die Herzlichkeit in Person. Ihr Haus wird euch gefallen, luftig und mit einem schattig begrünten Innenhof.«

Klein und rund wie eine Mangostane, außen genauso zäh, innen genauso erfrischend süß und mit einem armdicken Zopf, der bis fast an die Kniekehlen reichte, hatte Shilpa sich eine ganze Kette von Garküchen in und um Bombay aufgebaut. Neela, Cathrins indische Cousine, die noch zur Schule ging, würde diese später einmal übernehmen, ihr Bruder Nareesh bald Medizin studieren.

Gerrit legte Hut und Mappe auf Cathrins Schreibtisch ab und fasste sie bei den Armen.

»Komm mit, Cathrin.«

Eine Bitte, die er in den letzten Tagen mehrfach vorgebracht hatte und die jetzt, mit seinen letzten Stunden in Hamburg, etwas Dringliches bekam.

»Ich kann nicht Knall auf Fall hier weg«, beharrte Cathrin weiterhin.

»Natürlich kannst du. Ich kann es ja auch.«

Gerrit zog sie an sich.

»Lass uns zusammen nach Bombay gehen«, bat er, »unsere eigene Firma gründen.«

Bombay. Das Tor Indiens. Die Stadt der Träume und des Goldes. Und eine Stadt, die in jüngster Zeit wie keine andere das Auf und Ab des Geschäftslebens durchgemacht hatte.

Der Krieg in Amerika hatte die Ausfuhr von Baumwolle aus den Südstaaten gestoppt. Also hatten die Spinnereien und Webereien in Birmingham und Manchester und Leeds ihren Bedarf in Indien gedeckt. Die enorme Nachfrage ließ die Preise steigen, sodass Baumwolle buchstäblich zum weißen Gold wurde und Händler sogar Matratzen und Kopfkissen aufschlitzten, um die Füllung zu verkaufen. Der Umsatz wurde in vielversprechende Aktien investiert, für die sich dann auch andere Anleger interessierten. Jeder kleine oder große Händler, einheimisch oder ausländisch, begann vom Geld zu träumen, das offensichtlich auf der Straße lag; Zivilangestellte, Offiziere, Abenteurer, Journalisten, sogar Straßenkehrer nahmen Kredite auf, um die begehrten Aktien erwerben zu können, was wiederum die Zinsen in die Höhe trieb.

Und dann war der Krieg in Amerika vorbei. Die Südstaaten durften ihre Baumwolle wieder verschiffen, der Not gehorchend billiger als je zuvor, nicht zuletzt durch den kürzeren Seeweg, und der Preis für indische Baumwolle sackte in den Keller. Zinsen konnten nicht mehr getilgt werden, und wie Dominosteine fielen die gerade noch so hoffnungsvollen Investoren der Reihe nach um, bis die Pleitewelle auch die Banken erreichte.

Sehenden Auges war man in die Katastrophe geschlittert. Ein Gesetz zur Marktregulierung wurde zwar rechtzeitig auf den Weg gebracht, doch weil es in der Post zwischen Shimla und Kalkutta festhing, erreichte es den Generalgouverneur zur Unterschrift erst, als es dann doch schon zu spät war. Und keine Stadt, keinen Handelsposten auf dem Subkontinent hatte es härter getroffen als Bombay.

Schockwellen, die das Unternehmen von Petersen & Voronin ebenfalls zu spüren bekam. Mit der geplatzten Aktienblase gerieten auch einige ihrer Kunden in finanzielle Schwierigkeiten, was den Preis für das Eis drückte, damit die kalte Fracht nicht unverkauft im Laderaum dahinschmolz. Ein Verlust, der jedoch unterm Strich durch das fette Amerikageschäft der Kriegsjahre mehr als wettgemacht wurde. Zumal es indische Baumwolle von einem Tag auf den anderen zu Schleuderpreisen gab.

Auch wenn Petersen & Voronin dabei nicht das Maximum herausgeholt hatte. Ein paar Rupien hin oder her würden sie nicht ärmer machen, hatte man in der Geschäftsleitung befunden. Sehr zum Unwillen Ludgers, der nur zu gern den Pfennigfuchser hervorkehrte, aber damit bei den Eisbaronen auf taube Ohren gestoßen war. Wer viel verdiente, konnte auch gut etwas davon abgeben, das war eine Tradition, in der Cathrin groß geworden war. Und für etliche Menschen in Madras und dem Hinterland, die gerade unter einer Dürre litten, hatten diese paar Rupien tatsächlich einen großen Unterschied gemacht.

Gebannt hatte Cathrin diese nervenaufreibende Zeit mitverfolgt und sich bei jeder Entscheidung der Eisbarone gefragt, wie sie an deren Stelle gehandelt hätte. Die Vorstellung, im Spannungsfeld zwischen Goldgräberstimmung und Krise mitzumischen, machte ihr den Mund wässrig wie ein scharfes Curry.

»Hast du nicht immer davon geträumt«, raunte Gerrit an ihrer Wange, »die Teegärten in Assam und Darjeeling kennenzulernen und daraus etwas zu machen? Aus all den Herrlichkeiten Indiens, von denen du mir erzählt hast? Ein riesiges Reich voller Möglichkeiten liegt vor uns, Cathrin. Wir brauchen nur hinzufahren und zuzugreifen.«

Nachdem sich der Staub des Börsencrashs gelegt hatte, hatte Bombay mit der Eröffnung des Suezkanals frischen Aufwind bekommen. Mit einem neu ausgebauten Hafen und einem wachsenden Eisenbahnnetz ins Hinterland, die die Stadt zum Liverpool des Ostens machten und Glückssucher aus aller Welt anzog. Ein zweites Manchester versprach es zu werden, vielleicht als Umschlagplatz für Waren aus aller Welt sogar einmal Hamburg gleichzukommen.

Die reinste Verlockung war es, was Gerrit vor ihrem inneren Auge ausbreitete, und doch hatte diese Vision Hand und Fuß. Beide, Cathrin und Gerrit, lebten für das Geschäft und brachten nicht nur das Talent dafür mit, sondern auch die notwendige Erfahrung, jung wie sie waren. Beide sprachen sie fließend Englisch und Französisch, Cathrin neben ihrem von Katya und Grischa gelernten Russisch sogar ein bisschen Tamil und Marathi, und mit Cathrins Erbschaft gab es dazu einen soliden Grundstock an Kapital.

Die große Freiheit versprach Gerrit ihr, und ein Glück an seiner Seite noch dazu. Dennoch zögerte Cathrin.

Gerrit ließ nicht locker. »Oder du übernimmst die Leitung der indischen Niederlassung. Katya und Grischa sind bestimmt einverstanden. Wahrscheinlich hätte nicht einmal dein Vater etwas dagegen. Und du wüsstest den halben Erdball zwischen dir und Ludger.«

»Das ist nicht dasselbe«, gab Cathrin angriffslustig zurück. »Ich wäre trotzdem nur ein Vasall von Hamburgs Gnaden und nicht die Herrin des Hauses.«

»Geht es dir immer nur darum? Eines Tages selbst eine Eisbaronin zu sein?«

Gerrits Augen, so blau wie Vergissmeinnicht, verdüsterten sich.

»Ist dir dieses verdammte Unternehmen wirklich so viel wichtiger als ich?«

»Lass mich wenigstens in Ruhe darüber nachdenken«, versuchte Cathrin, sich einmal mehr herauszuwinden. »Ich kann doch nachkommen.«

»Und was, wenn der Seeweg irgendwann blockiert ist? Willst du dich zu Fuß nach Süden durchkämpfen, die Frontlinie entlang, bis zu einem der Häfen im Mittelmeer?«

Cathrin sträubte sich gegen seine Umarmung, die ihr zunehmend die Luft abschnürte, aber Gerrit hielt sie umso fester.

»Himmel, Cathrin! Wie viel Zeit brauchst du denn noch?«

»Ist dir eigentlich klar, was du da von mir verlangst?«, warf sie ihm an den Kopf. »Ich soll mein Leben hier komplett aufgeben. Meine Träume, meine Wünsche und alles, wofür ich bislang so hart gearbeitet habe. Ebenso gut könnte ich von dir verlangen, dass du meinetwegen hierbleibst.«

Herausfordernd und geradezu verbissen sahen sie einander in die Augen. Wie sie es als Kinder getan hatten, wenn sie darum wetteiferten, wer mehr dieser kleinen und höllisch scharfen Chilischoten essen konnte, die Gerrit für sie aus dem Feinkostladen gestohlen hatte. Bis der Mund in Flammen stand, sie nach Luft schnappten und ihnen Tränen über das Gesicht liefen.

Nachgegeben hatte keiner von beiden.

»Ich bin es wert, Cathrin«, sagte Gerrit dann. »Und das weißt du auch.«

Zwei Monate auf See würden künftig zwischen ihnen liegen. Mindestens solange Frankreich und Deutschland auf den Schlachtfeldern entlang des Rheins miteinander um Sieg und Niederlage rangen. Der letzte Krieg auf deutschem Boden hatte nur ein paar Monate gedauert, der in Amerika ganze vier Jahre. Womöglich kehrte Gerrit nie wieder ganz nach Hamburg zurück, nur noch als Besucher seiner alten Heimat.

Während sich die Häfen Indiens zunehmend mit der britischen »Fischfangflotte« füllten; junge und nicht mehr ganz so junge Frauen, die nicht hübsch, nicht vermögend genug waren, um zu Hause einen Mann abzubekommen, und ihre ganzen Hoffnungen auf einen der zahlreichen Junggesellen in Handel, Militär und Verwaltung Indiens setzten. Auf die Zeitungsschreiber, Ingenieure und Architekten, Schiffseigner und Lehrer, Pastoren und Missionare, die ausgezogen waren, um aus Indien das Juwel der britischen Krone zu machen.

Vor dem Fenster schrien abwechselnd zwei Möwen. Es klang, als ob sie sich zankten und doch voller Sehnsucht nacheinander riefen.

Habt euch lieb, schienen die Tauben in den Ritzen der Speichermauern zu gurren, so habt euch doch lieb.

Cathrin schlang die Arme um Gerrit und schmiegte sich an ihn. Ein Pfeiler der Verlässlichkeit in diesen plötzlich so unsicheren, so beängstigenden Zeiten. Undenkbar, ihn loszulassen.

»Ich warte auf dich«, flüsterte er heiser. »Heute Abend am Kai.«


Ziellos wanderte Cathrin kreuz und quer über die Brücken der Stadt.

Wie ein Schifferkahn, der seinen Mast in den Wind reckte, lag Sankt Katharinen am Ufer des Fleets, das Gold aus Störtebekers Schatz blinkend in der Sonne. Die Kirche der Seemänner und Fleetschiffer, der Bootsbauer und Segelmacher und der ganzen anderen Leute auf dem Grasbrook. Und die Kirche der Voronins und Petersens, so weit die Familiengeschichte hier in Hamburg zurückreichte. Unbeschadet aus dem großen Feuer hervorgegangen, unverändert seit Generationen, nur heute zum Wohl der Gottessuchenden mit Gas beheizt.

Nie wäre Cathrin in den Sinn gekommen, Hamburg auf Dauer den Rücken zu kehren. Dieser Stadt, die bis wenige Stunden vor Cathrins Geburt eine ganz andere gewesen war. Als wären sie zusammen zur Welt gekommen, Cathrin und das neue Hamburg, gemeinsam gewachsen und groß geworden.

Auf dem Kehrwieder blieb sie stehen und sah zum Feinkostladen der Reintjes hinüber. Den Gedanken, Betje oder Katya um Rat zu fragen, verwarf sie sogleich wieder. Diese Entscheidung konnte ihr niemand abnehmen; niemand steckte gerade so tief in ihrer Haut wie Cathrin selbst.

In einer Mietdroschke fuhr sie nach Hamm hinaus. Mine öffnete ihr die Tür zur Familienvilla; in der Julihitze haftete die Bluse feucht auf Cathrins Rücken, ihren Hut hatte sie im Kontor vergessen. Müde schlich sie die Treppen hinauf und durch den Korridor. Noch müder bei dem Gedanken, sich umzuziehen oder gar ihre Sachen zu packen. Niedergewalzt von all den Fragen und Zweifeln und einer Unentschlossenheit, die ihr ganz und gar fremd war. Sie, die sich doch sonst immer voller Elan und kopfüber in alles Neue, Unbekannte, Aufregende stürzte.

Ein Geräusch am Ende des Flurs ließ sie aufhorchen. Wie ein Schluchzen klang es, nicht lauter als das Rascheln einer Maus.

»Mama?«, rief sie leise vor dem Schlafzimmer ihrer Eltern.

»Gleich, Cathrin«, antwortete Henny in fieberhafter Hast. »Gleich.«

Cathrin zögerte, geschlossene Türen hatte sie immer zu respektieren gewusst. Die Art jedoch, wie Henny geklungen hatte, die Stimme eigentümlich belegt und halb verschluckt, bewog sie dann doch, die Tür einen Spalt zu öffnen.

»Ist alles in Ordnung, Mama?«

Eine ungesunde Blässe im Gesicht, kniete Henny auf dem Boden und versuchte verzweifelt, mit ihrem Taschentuch Erbrochenes aus dem Teppich und dem Stoff ihres Sommerkleids zu tilgen. Behutsam ließ sich Cathrin neben ihr nieder und hielt sie am Handgelenk fest.

»Lass das doch Mine machen.«

Rote Flecken erschienen auf Hennys Wangen.

»Bloß keine Umstände«, murmelte sie zitternd. »Ist ja nichts. Ich hatte mich nur etwas hingelegt, und dann war mir schlecht.«

Ein ruckartiger Krampf lief durch sie hindurch. Sie musste würgen und übergab sich gleich ein zweites Mal. Cathrin zwang den Ekel zurück, der in ihr aufwallte, rieb ihrer Mutter über den Rücken und rief nach Mine.

Während das Dienstmädchen wischte und feucht ausbürstete, half Cathrin ihrer Mutter, die wackelig auf den Beinen war, sich auszuziehen und zu waschen. Mit einer eigentümlichen und widerwilligen Zärtlichkeit für diesen sechzigjährigen Leib, üppig und weich, mit Dellen und Furchen und an manchen Stellen schon welk. Derselbe Leib, der sie, Cathrin, geboren und genährt hatte.

Cathrin streifte ihrer Mutter ein frisches Nachthemd über und packte sie mit einem Kräutertee ins Bett, wo sie sitzen blieb, um bang auf die Ankunft des Familienarztes zu warten.


Das späte Licht des Tages tauchte den Kai in sattes Gold und schnitt Hafenbauten und die Schiffe mit ihren Masten und Leinen als scharf umrissene Silhouetten heraus. Die Segel bereits gesetzt, ruckte die Marie ungeduldig an den Tauen, die sie noch an ihrer freien Fahrt durch die Elbe hinderten.

Im Lärm von Seilwinden und Ketten und gebellten Seemannsrufen musterte Betje ihren ältesten Sohn, der immer wieder zwischen den langen Schatten Ausschau hielt. Wie ertappt wirkte er, als er ihren Blick auffing, und Verlegenheit zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

»Sie wird nicht kommen«, sagte Gerrit leise und wie ungläubig.

Zutiefst niedergeschlagen wirkte er, mit einem letzten Rest schwindender Hoffnung in den Augen.

»Dann muss es einen schwerwiegenden Grund dafür geben«, erwiderte Betje. »Cathrin ist nicht jemand, der ohne ein Wort, eine Erklärung einfach fortbleibt.«

Gerrit nickte, wenig überzeugt, und Betje wurde das Herz gleich noch schwerer.

»Wollt ihr es euch nicht doch noch überlegen?«, fragte Gerrit.

Betje und Hanno wechselten einen Blick. Lange hatten sie darüber debattiert. Unter vier Augen. Mit ihren ältesten Töchtern, die schon mit beiden Beinen im Feinkostgeschäft standen, mit Jordis und Fiete, Katya und Grischa.

Niemand wusste, was die nähere Zukunft bringen würde. Ob es sie zu Aussätzigen machte, dass sie zwei ihrer Söhne vor der Front bewahren wollten, indem sie sie ans Ende der Welt verfrachteten. Wie lange es noch Nachschub an Lebensmitteln für den Feinkostladen geben würde und ob Hamburg noch einmal eine zweite Franzosenzeit mit all ihren Schrecken bevorstand.

Am Ende hatten Betje und Hanno sich dafür entschieden, das Vermächtnis Arno Petersens hochzuhalten und zu bleiben, genau wie er damals.

»Wenn es ganz schlimm wird, packen wir flugs alles zusammen und kommen nach«, versprach Hanno dennoch.

Das Stimmengewirr an Deck nahm an Dringlichkeit und Lautstärke zu.

»Ihr müsst«, verkündete Grischa, Katya an seinem Arm.

Abschiedsworte wie leb wohl, auf Wiedersehen oder bis bald sparten sie sich, die Eltern und Kinder, die Schwestern und Brüder. Dafür war alles zu ungewiss, und niemand wollte wahrhaben, dass es womöglich Jahre dauerte, bis sie einander wiedersahen.

Als andere Menschen würden ihre Söhne zurückkehren, das wusste Betje jetzt schon. Wie sie selbst damals als ein anderes junges Mädchen zurückgekommen war, aus Madras und Norwegen, Paris und London. Jede Reise formte einen neu, besonders die, die einen an ferne Horizonte führte, unter einen neuen Himmel.

»Denkt immer an das Moskitonetz, wenn ihr euch schlafen legt«, flüsterte Betje heiser, als Gerrit sie an sich drückte. »Und pass auf deinen Bruder auf.«

Nur widerstrebend ließ Henning sich von ihr umarmen. Ein Achtzehnjähriger, der tapfer sein wollte, aber in diesem Augenblick nichts anderes war als ein ängstlicher kleiner Junge, der alles hinter sich lassen musste, was sein Leben bisher ausgemacht hatte.

Angetrieben von den Rufen des Maats, eilten Gerrit und Henning hinüber auf das Schiff. Die Taue wurden von den Pollern gewickelt, die Laufplanke eingeholt, und wie mit einem langgezogenen Seufzen löste sich das Schiff vom Kai. Hanno ging in die Hocke, um Hauke zu trösten, der herzzerreißend schluchzte, teils, weil er seine großen Brüder nicht hergeben wollte, teils, weil er nicht auch ins ferne Indien mit seinen Tigern und Elefanten durfte.

»Tun wir auch das Richtige?«, fragte Betje murmelnd.

»Wären es meine Söhne«, antwortete Katya an ihrer Schulter, »hätte ich sie auch nach Indien geschickt.«

Betje nickte. Befreit aufatmen konnte sie dennoch nicht. Keine Schiffsreise war ohne Risiko, das wusste sie. Als hätte sie ihre beiden Söhne vor den Wölfen gerettet, nur um sie den Ungeheuern der Meere auszusetzen, so kam es ihr vor, während sich die Marie entfernte und kleiner wurde, die roten Haarschöpfe von Gerrit und Henning wie das letzte Verglimmen der Abendsonne auf dem Wasser.

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