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Durch die weit geöffneten Fenster strich ein Luftzug, wohltuend in der Augusthitze. Die Sonne stand schon tief über den Dächern und rief die Lastkähne zurück in den Binnenhafen. Über den letzten Handgriffen der Arbeiter zog sich ein hoffnungsvoll zirkelnder Möwenschwarm zusammen, und auf dem Kai sprangen Kinder umher, ihr Spiel schrill und überdreht vor Müdigkeit.

Im herrlich süß-säuerlichen Duft eingekochten Obsts, der über den Flur hereinzog, trank Cathrin den nächsten Schluck ihrer eiskalten Limonade und warf einen Blick über die Schulter. Mit einem Ausdruck andächtiger Konzentration saß Betje über der Buchhaltung. Nur noch selten stand sie hinter dem Ladentisch, sondern kümmerte sich ausschließlich um die Finanzen, die Herrin der Zahlen.

Betje hob den Kopf, und ein stilles Lächeln entfaltete sich zwischen ihnen. Falls sich jetzt, mit Anfang vierzig, das erste Grau bei ihr zeigte, ging es völlig im Brandrot ihrer aufgesteckten Locken unter; dass ihr kühnes Gesicht wie eh und je von Sommersprossen übersät war, machte sie dazu noch jünger.

Mit einem respektvollen Klopfen trat einer der Fahrer ein und tippte sich an den Mützenschirm. Hinter ihm ging sein Kollege vorbei, in den Händen eine Kiste gefüllter Einmachgläser, frisch mit den Etiketten beklebt, die rings um den Namenszug ein Segelschiff, Möwen und den Hamburger Michel zeigten.

»Ist alles so weit aufgeladen, Frau Reintjes. Nehmen Sie uns noch die Fuhre ab?«

»Ich mach schon, Mama.«

Levke, mit neunzehn Jahren Betjes Ebenbild, bis hin zu demselben kecken Grübchen im Kinn, stand von den Lohnlisten auf und eilte mit den Papieren für die Lieferung davon. Nur einen Augenblick später stürmte Lisje herein, eine der drei Kopstede-Töchter, lang und schlank wie ihr Vater Fiete und von demselben sanften Pfirsichblond wie ihre Mutter Jordis. Mit erhitzten Wangen drängte sie Betje und Cathrin, von dem buttrigen Feingebäck zu probieren, das sie nach einem Rezept ihrer Urgroßmutter vorhin aus dem Ofen geholt und gern im Sortiment gesehen hätte. Betje versprach, ihren Vorschlag heute Abend zu Hause auf den Tisch zu bringen, und Lisje lief strahlend davon, um eine Dose damit zu füllen.

Danach kehrte für den Moment wieder Ruhe im Kontorraum ein. Wirklich still war es dennoch nicht.

Aus dem Laden unten, durch eine schmale Stiege mit den Räumen hier oben verbunden, drang die Stimme von Finja herauf, die eine späte Kundin verabschiedete. Die Zweitälteste von Hanno und Betje hatte die Filiale mit ihrer Volljährigkeit im vergangenen Jahr übernommen. Das Stammhaus, aber schon lange nicht mehr der Hauptsitz, der an die Große Bleichen umgezogen war, wo es weitaus mehr Platz für Lagerräume und Büros gab.

Das Bimmeln der Türglocke unten war kaum verstummt, als Finja die abendlichen Aufgaben verteilte, und schäkernd und giggelnd machten sich die Ladenmädchen und der Lehrling ans Werk. Wie auch die Frauen hier oben in der Küche beim Abspülen und Feudeln schnatterten, lachten und trällerten.

Deshalb kam Cathrin gern hierher. Weil es hier bei aller Betriebsamkeit immer gemütlich zuging, heiter geradezu. Was hauptsächlich Betje zuzuschreiben war, die sich kaum je aus der Ruhe bringen ließ, für jedes Problem eine Lösung wusste und ebenso gelassen wie energisch alle Fäden fest in der Hand hielt.

Manchmal versetzte es Cathrin einen feinen Stich, dass Betje mit kaum achtzehn das hätte haben können, was sie immer schon wollte, aber sich so lange erbitten und ertrotzen musste.

»Hast du es nie bereut«, fragte sie, »dass du nicht bei Petersen & Voronin eingestiegen bist?«

Betje schüttelte den Kopf. »Das war einfach nicht das, was ich wollte. Mein Platz ist hier.«

»Wegen Hanno?«

»Auch.«

Ein vorwitziges Lächeln zuckte um Betjes Mund, bevor ihr klarblauer Blick zum Fenster hinauswanderte. Einige Herzschläge lang sann sie darüber nach.

»Ich glaube«, sagte sie dann, »es ging mir darum, etwas Eigenes zu haben. Etwas, das ich selbst gestalten kann, wie es mir gefällt.«

Etwas Eigenes hatten Betje und Hanno aus dem Gemischtwarenladen von Arno Petersen gemacht. Das dunkle Holz der Regale und Theken von nostalgischer Gediegenheit, brachten Blau und Weiß hanseatische Leichtigkeit in die Räume. Zwirn und Scheuerpulver waren aus den Fächern verschwunden, geblieben waren Eier und Kartoffeln und Rüben; gerade hier am Kehrwieder wusste man um den schmalen Geldbeutel der Laufkundschaft. Aber zum Holsteiner Käse hatte sich auch solcher aus der Schweiz und aus Frankreich gesellt, weit gereiste Ananas zu den Äpfeln und Kirschen aus dem Alten Land, und neben hamburgischem Speck lagen auch welcher aus Bayern und italienische Salami, in Sichtweite der Nordseekrabben auf ihrem Eisbett.

Feinkost Reintjes war eine feste Größe in Hamburg, hier bekam man alles, was nicht nur den Leib, sondern auch die Seele satt machte.

Cathrin erinnerte sich noch daran, wie ihr Großvater oft mit einem versonnenen Ausdruck an seinem Gehstock durch den Laden gehumpelt war. Noch auf dem Krankenbett, sein gutes Holzbein verwaist in der Ecke stehend, hatte er sich mit glänzenden Augen von den Neuerungen und Plänen erzählen lassen, den einen oder anderen Rat beigesteuert.

Dieser Raum hier war einmal seine gute Stube gewesen. Dass Betje und Hanno, mit Arnos Tod über Nacht Eigentümer des Hauses, aus der Wohnung das Herzstück ihres Feinkosthandels gemacht hatten, hätte ihn sicher gerührt.

»Großvater wäre stolz auf euch«, sagte Cathrin leise.

Lange sahen sich die zwei Frauen an, eine Fülle von Erinnerungen in ihrem Blick, schmerzliche wie schöne. Gerade auch an Thilo, der nicht nur Cathrins Ziehvater gewesen war, sondern auch der von Betje.

In einer Duftwolke von Johannisbeergelee und Aprikosenkonfitüre kam Jordis Kopstede herein, wie aus Baiser und Vanillesauce gemacht und die Augen so blau wie das Meer ihrer alten Heimat.

»Schluss für heute«, verkündete sie vergnügt in ihrem friesischen Singsang, den sie nie ganz abgelegt hatte.

In langen Zügen stürzte sie ein Glas Limonade hinunter, ließ sich dann auf einen Stuhl fallen und tätschelte zufrieden Betjes Knie. Freundinnen, so lange Cathrin zurückdenken konnte, wie auch Hanno und Fiete seit Jugendtagen die besten Kameraden waren.

Wie auf Geheiß trampelten zwei kleine Jungen über die Schwelle, strohblond der eine, mit karottenrotem Haar der andere. Pünktlich von Fiete hochgeschickt, zeigten Nils und Hauke mit stolzem Zahnlückengrinsen ihren Müttern die Holzfiguren vor, die sie nach den Hausaufgaben in Fietes Werkstatt zwei Häuser weiter hatten schnitzen dürfen.

Betje drückte Hauke an sich und sah zu Cathrin. »Bleibst du zum Essen?«


Hand in Hand mit Finja schälte Cathrin die Kartoffeln, während die zwölfjährige Clara sich bitter über ihre Hauslehrerin beklagte. Levke, die mit ihr zusammen das Gemüse schnitt, verteidigte energisch Fräulein Semmelweis, an die sie selbst nur gute Erinnerungen hatte.

Trotzig stampfte Clara mit dem Fuß auf. »Warum kann ich nicht einfach in die Schule gehen wie Henning auch?«

»Weil es noch immer keine höhere Schulen für Mädchen gibt«, erwiderte Betje über der brutzelnden Pfanne. »Hauke, holst du bitte deinen Bruder zum Tischdecken?«

Nur wer Betje nicht näher kannte, fragte sich, wie sie das alles mit ihrem gelähmten linken Arm schaffte, den Feinkosthandel, sechs Kinder und die große Wohnung hoch oben über dem Laden. So planvoll, wie sie im Kontor wirtschaftete, meisterte Betje auch den Alltag zu Hause. Lediglich eine Perle namens Bertha kam tageweise für das Gröbste vorbei.

Dabei hätten sie sich wesentlich mehr Personal leisten können, in einem Haus im Grünen oder in einer herrschaftlichen Zimmerflucht mit feiner Adresse. Die Reintjes fütterten jedoch lieber weiter ihr finanzielles Polster für schlechte Zeiten, daran änderte auch das kleine Erbe nichts, mit dem Thilo sie in seinem Testament bedacht hatte.

Das meiste Geld floss ohnehin in die Schulbildung der Kinder. Henning, der mit dem typischen Gang eines Halbwüchsigen hereinschlurfte, bei dem Arme, Beine und Rumpf gerade nicht zusammenpassten, war auf dem besten Weg zur Maturitätsprüfung, der Erste nicht nur in der Familie, sondern in der ganzen Nachbarschaft.

Mit Hannos Ankunft wurde es gleich noch heimeliger. Auch mit Mitte vierzig und den ersten grauen Fäden in Haar und Bart jungenhaft verschmitzt, warf er Jackett und Binder von sich. Gut gelaunt fügte er sich in die Essensvorbereitungen zwischen Küche und Speisezimmer ein, ein offenes Ohr für die Freuden und Kümmernisse der kleinen und großen Kinder.

Gerrit, mit knapp vierundzwanzig Jahren der Älteste, traf als Letzter ein. Das Essen stand schon auf dem Tisch, an dem er sich nach wie vor einfand, obwohl er vor Kurzem eine eigene kleine Wohnung hier im Haus bezogen hatte. Er hatte den weitesten Weg hinter sich, in Altona mit der Einrichtung des jüngsten Ladens beschäftigt. Nach den Ablegern in Sillem’s Bazar, der prächtigen Einkaufspassage aus Eisen und Glas am Jungfernstieg, der ersten überhaupt in Deutschland, und den beiden am Hopfenmarkt und in den Alsterarkaden das insgesamt sechste Haus des Feinkosthandels. Sechs Filialen, für jedes seiner Kinder eine, das war Hannos Ziel gewesen.

Im Lampenschein leuchtete rings um den Tisch das ganze Farbenspiel roten Haares, von Mahagoni bis Erdbeerblond; nur Claras war das ihres Vaters, hell wie Haferspreu. Cathrin in ihrer Mitte, erzählten sie einander ungezwungen und lebhaft von ihrem Tag und tauschten Neuigkeiten aus, diskutierten über den optimalen Reifegrad des Käses, den Hanno mitgebracht hatte, und beratschlagten über Lisjes Gebäck. Am Ende einigten sie sich darauf, dass es unter dem Namen Friesengold versuchsweise in die Regale kommen sollte.

Cathrins andere Familie, immer schon. Die ersten Hände, die sie in diesem Leben willkommen geheißen hatten, waren die von Hanno und Betje gewesen. Sie hatten Cathrin auf die Welt geholt, während Hamburg brannte, so ging die Legende, und sich danach zum ersten Mal geküsst, unten im Treppenhaus.

Während Henning und Clara sich unter viel Planschen und Quieken in der Küche um den Abwasch kümmerten, zankten Finja und Levke sich spielerisch, und Hauke, gar nicht mehr der große Junge, der er eigentlich sein wollte, war auf die Knie seiner Mutter geklettert.

Eine der Katzen, die den Speicher bevölkerten, hatte durch ein Schlupfloch hereingefunden und strich maunzend um Cathrins Rocksäume, bis Cathrin sie auf ihren Schoß hob. Verstohlen beobachtete sie Hanno und Betje. Mit ihren Blicken, den Flüsterstimmen, schufen sie einen Raum nur für sich, nach fünfundzwanzig gemeinsamen Jahren.

Jede Ehe war anders. Die von Christian und Henny trottete in vertrauter Gewohnheit vor sich hin, während Ludger und Jette hauptsächlich darum kreisten, welches Bild sie als Familie nach außen abgaben, er erfolgreich, sie schön, die Kinder adrett und wohlerzogen. Bei Thilo und Katya hatte Cathrin immer an Zugvögel gedacht, die einander blind vertrauten und sich nie aus den Augen verloren, wohin der Aufwind sie auch trug.

Betje und Hanno aber waren wie ein Baum, der tief im Boden wurzelte, damit er sich umso weiter in den Himmel recken konnte, während er reiche Früchte trug.

Cathrins Augen trafen sich mit denen Gerrits, rauchblau wie die Sommernacht. Gegen das weiße Hemd, die grau gemusterte Weste glänzte sein Musketierbart wie Kupfer. Beide waren sie hier geboren, in dieser Wohnung, drüben im Schlafzimmer, im selben Bett, nur von anderen Müttern, unterschiedlichen Vätern, eineinhalb Jahre nacheinander.

Die Katze sprang davon, um vielleicht unterwegs ein Bröckchen aufzulesen und dann ihr wildes Leben auf den Dächern fortzusetzen.

Auch Cathrin stand auf. »Für mich wird es Zeit.«

»Willst du nicht lieber über Nacht bleiben?«, fragte Betje, den Haarschopf von Hauke streichelnd, der bereits mit glasigen Augen in einen seligen Halbdämmer gesunken war. »Platz haben wir doch genug.«

Cathrins Wangen wurden heiß. »Trude macht sich sonst Sorgen.«

Gerrit griff sich das Jackett über der Stuhllehne. »Ich bring dich nach Hause.«


Betjes Blick folgte ihrem Ältesten und Cathrin. Dieses Menschenkind, das sie bei seinen ersten Atemzügen im Arm gehalten hatte, noch bevor Hanno die Nabelschnur durchtrennte.

An die Schale einer Auster dachte sie bei Cathrin oft, so viel schimmerte nicht nur von Christian, sondern auch von Thilo bei ihr durch. Wo Katya sie geprägt hatte und Grischa und ihr Widerstand gegen Henny. Und doch war Cathrin eigen und unverwechselbar. Vielschichtiger, als sie auf den ersten Blick wirkte, mit schroffen Graten und scharfen Kanten.

»Was ist?«, fragte Hanno lächelnd und strich ihr eine Locke aus der Stirn.

Bis heute war er derjenige, der Betjes Haare flocht und mit Nadeln feststeckte, weil sie selbst es nicht konnte, mit nur einem Arm.

Noch immer war für ihn die Milchkanne halb voll statt halb leer, genau wie damals, als er noch ein Bursche von dreizehn Jahren gewesen war. Ganz selbstverständlich ging er davon aus, dass alle Dinge sich zum Guten wendeten. Darin glichen sie sich, Hanno und Gerrit, und meistens behielten sie damit auch recht.

Ihr Jüngster schlafschwer und rotwangig an sie geschmiegt, deutete Betje ein Kopfschütteln an.


Das Angebot des Kutschers, das Verdeck der Mietdroschke offen zu lassen, nahmen Cathrin und Gerrit gern an. Die Nacht war lau und roch nach Tang, Treibholz und Moos und sonnenwarmem Stein. Lichter spiegelten sich im Wasser, und durch die illuminierte Kulisse der Stadt bewegten sich menschliche Schattenrisse. Seitdem die Tore nachts nicht mehr versperrt wurden, war eine neue Freizügigkeit in Hamburg eingekehrt.

Cathrin unterdrückte ein Gähnen, seit fünf Uhr in der Frühe war sie auf den Beinen.

»Du reibst dich völlig für die Firma auf«, stellte Gerrit mit seinem satten Timbre fest.

»Du arbeitest doch auch viel.«

Der Anflug eines Lächelns ließ seinen Bart zucken. »Stimmt.«

»Wenigstens weißt du, wofür. Im Gegensatz zu mir.«

Auf Gerrit hatte von jeher ein Platz im Feinkosthandel gewartet. Sein Geburtsrecht wie das seiner Brüder und Schwestern, darin unterschieden die Reintjes-Kinder und Cathrin sich.

Gerrit sah sie aufmerksam an. »So schlimm?«

Cathrin zuckte mit den Schultern. Dass ihre erste Zeit im Unternehmen eine Bewährungsprobe sein würde, hatte sie geahnt. Nicht aber, wie viele Steine ihr vor die Füße geworfen wurden. Nachrichten, die sie zu spät oder gar nicht erreichten. Unterlagen, um die sie mehrfach bitten musste und die letztendlich unvollständig auf ihren Schreibtisch kamen. Neulich erst ein Umtrunk mit Kunden, der selbstverständlich in einem reinen Herrenclub stattgefunden hatte, weshalb Ludger sie nicht darüber in Kenntnis gesetzt hatte.

Möglich, dass solche Dinge in einer Firma dieser Größe einfach vorkamen. Oder Ludger hatte ihr ihre kleine Rebellion noch immer nicht verziehen.

»Mach’s dir nicht so schwer, Cathrin«, sagte Gerrit in das Hufgeklapper und Räderknirschen hinein. »Du musst nicht über jedes Stöckchen springen, das sie dir hinhalten.«

Im Lauf der Jahre hatte Cathrin Pflanzen bestimmt und in Alben gepresst, aus Steinfunden das Alter der Erde herausgelesen und unter dem Mikroskop Pantoffeltierchen und Algen aus Alster und Elbe studiert. Standesgemäße Beschäftigungen für eine junge Dame, ganz im Sinne ihrer Eltern, für Cathrin jedoch nicht mehr als ein Zeitvertreib, der ihren Wissensdurst stillte. Hätte sie sich der Malerei gewidmet wie Marie, der Musik oder der Poesie oder sogar der neuen Kunst der Photographie, hätte Christian sie vermutlich nach Kräften unterstützt, nicht nur finanziell.

Jetzt fühlte sie sich von ihm im Stich gelassen, und Cathrin war zu stolz, vielleicht auch zu klug, um sich zu beschweren oder um Hilfe zu bitten. Wo sie hinwollte, gab es keinen Platz für Schwäche, das sagte ihr der Instinkt.

Mit einem tiefen Ausatmen lehnte sie sich zurück. Die Nacht war zu schön, um sie mit halb trüben, halb zornerfüllten Gedanken zu verschwenden. Morgen würde sie sich wieder den Kopf darüber zerbrechen, irgendwann zwischen dem Aufstehen und der Fahrt ins Kontor.

Der Schein der Gaslaternen schälte Gerrits Gesicht aus der Dunkelheit. Züge von geradezu klassischer Männlichkeit, die allein schon ein Blickfang gewesen wären, durch das Kupferleuchten von Haar und Bart jedoch ein Signalfeuer, nach dem sich Köpfe drehten. Und welche Frau hegte nicht heimlich andere Gedanken bei einem Mann mit einer solchen Leidenschaft für gutes Essen und guten Wein.

Stumm musterten sie einander, Cathrin und Gerrit, eng vertraut fast von der Wiege an. Das Haus am Kehrwieder mit seinen Treppen und dem Speicher war ihr Abenteuerspielplatz gewesen, der Kai des Binnenhafens ein noch unentdeckter Kontinent und die eng verwinkelten Gänge der Hinterhäuser ihr Piratenschiff, eine Ritterburg, ein fernöstlicher Palast. Tummelplatz für eine ganze Rasselbande, Cathrin die unangefochtene Anführerin, Gerrit ihr treuer Ritter.

Zusammen hatten sie allerlei Streiche ausgeheckt, sich gegenseitig Juckpulver aus Hagebuttensamen in den Kragen gestreut, begeistert die Knallerbsen vom Strauch um die Ecke platzen lassen und vorwitzig in die Wohnungen anderer Leute gespäht, auch als Halbwüchsige noch.

Dann war Cathrin erst mit Katya in Indien gewesen, und fast unmittelbar nach ihrer Rückkehr hatten ihre Eltern sie ins Pensionat nach London geschickt, nach Brüssel und Genf. Just als sie auch in Lausanne ihre Sachen vorzeitig packen musste, hatte Gerrit ebenfalls sein Bündel geschnürt, um vom süßen Leben in Paris zu kosten. Den Geschmack der Provence hatte er kennengelernt und den der Camargue, von Toskana und Lombardei und Venetien.

Bis ihn der Militärdienst heimgerufen hatte, in die Kaserne im Kornhaus, und Gerrit war zu stolz gewesen, zu sehr ein Hamburger Jung, um sich davon freizukaufen, wie es viele Bürgersöhne taten. Die Wehrpflicht noch nicht ganz abgeleistet, war er ins Feld gezogen, südlich des Mains, für Preußen gegen den Kaiser von Österreich. Erst seit letztem September war Gerrit zurück, ohne einen Schuss abgefeuert oder überhaupt je einen Feind zu Gesicht bekommen zu haben.

Seitdem war alles anders. So neu, dass sie noch keinen Namen dafür hatten. So frisch, dass sie noch niemandem davon zu erzählen brauchten.

Sanft strich Cathrin über die winzige, kaum sichtbare Kerbe in Gerrits Stirn. Eine Narbe, die er sich beim Toben auf dem Speicher oben geholt hatte, wie Cathrin bei einem Wettrennen auf dem Kai eine ganz ähnliche an ihrem Knie.

Nachdem Henny bei Jette alles richtig gemacht und in die Rolle einer Fürsorgerin für Marie hineingewachsen war, grämte sie sich umso mehr, wie sehr sie bei Cathrin vermeintlich als Mutter versagt hatte. Ihr zuliebe begleitete Cathrin ihre Eltern dann doch ab und an zu einem gesellschaftlichen Anlass, widerstrebend und das Mal an ihrem Hals von einem dünnen Schal, einem hohen Kragen kaschiert. Dabei blieb es nicht aus, dass die anwesenden Junggesellen um Cathrin herumstrichen, angezogen von ihrem ungewöhnlichen Aussehen wie auch dem Duft des Geldes.

Verlässlich verwechselten diese aber jedes Mal Cathrins schlanke Erscheinung mit Zerbrechlichkeit und den gelangweilten Perlschimmer ihrer grauen Augen mit scheuer Zurückhaltung. Denn Fräulein Cathrin Petersen war nicht für beiläufige Konversation oder einen spielerischen Flirt zu haben. Mit einem Wort oder auch nur einem Blick konnte sie dem Ego eines Mannes einen so empfindlichen Dämpfer versetzen, dass der betreffende Herr wie ein begossener Pudel das Weite suchte.

Um keinen dieser jungen bis mittelalten Herren war es bislang schade gewesen, darin waren Cathrin und Christian ausnahmsweise einer Meinung. Henny haderte dennoch weiter damit, dass ihre Jüngste offenbar nicht an den Mann zu bringen war.

Die letzten Lichter der Stadt verglommen hinter Cathrin und Gerrit. Auf diese Dunkelheit hatten sie gewartet, den ganzen Abend schon. Eng umschlungen ließen sie sich in die Nacht hinaustragen, geradewegs in die Sterne hinein. In einem langen Kuss, der nicht der erste war und auch nicht der letzte bleiben würde. Hinter dem verschwiegenen Rücken des Kutschers, im Grillenzirpen und dem Rauschen der Bäume am Elbufer.

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