35
Eine dicke Mappe unter den Arm geklemmt, hastete Cathrin über die Brooksbrücke, sie war spät dran. Pastellbunt und heiter lag der Juniabend über dem Binnenhafen, wie Blütenblätter im Wind zogen Möwenschwärme ihre Kreise. Im Zickzack fädelte Cathrin sich zwischen den Passanten auf dem Kehrwieder hindurch, die auf dem Heimweg von der Arbeit waren, noch schnell beim Bäcker etwas besorgten oder im Feinkostladen, dessen Glocke emsig bimmelte.
Mit fliegenden Schritten bog sie in den Durchgang ein und prallte im Halbdunkel gegen die breite Brust eines Mannes.
»Cathrin.«
Lachend sahen sie und Gerrit sich an, für den Augenblick um Worte verlegen.
»Ich bekomme dich überhaupt nicht mehr zu Gesicht«, sagte er dann. »Dabei wohnen wir doch neuerdings sogar unter einem Dach.«
»Ich habe viel zu tun«, erwiderte Cathrin. »Ich bin auch gleich mit deiner Mutter verabredet.«
Sie hob die Mappe an, und Gerrits Hand, die ihren Zusammenstoß abgefedert hatte, sank von ihrem Oberarm herab.
»Hast du danach Zeit?«, wollte er wissen. »Ich muss mit dir reden.«
»Worüber?« fragte Cathrin, mit ihren Gedanken schon halb bei ihrem Gespräch mit Betje.
»Über Jakob.«
Cathrins Brauen zogen sich zusammen, und Gerrit zuckte mit den Schultern.
»Ist ein Mietshaus, Cathrin. Da bleibt es nicht aus, dass die Leute mitbekommen, wer kommt und geht und manchmal über Nacht bleibt.«
»Wir arbeiten oft lange. Außerdem ist er mein Cousin.«
Unwillkürlich drückte sie die Mappe in den gekreuzten Armen vor ihre Brust.
»Er ist nicht wirklich dein Cousin, Cathrin. Ihr habt keinen Tropfen Blut gemeinsam.«
»Und was ist mit Lisje?«, gab sie angriffslustig zurück.
Eine Spur von Schuldbewusstsein zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
»Was ist mit uns, Cathrin?«, hakte er jedoch nach. »Mit dir und mir?«
Die schemenhafte Gestalt eines alten Mannes taperte am Stock aus dem Hinterhof heran. Cathrin und Gerrit traten einen Schritt zur Seite, um ihm Platz zu machen.
»Ich warte immer noch auf deine Antwort«, fügte Gerrit dann hinzu.
Cathrins Blick wanderte hinaus auf den sonnenbeschienenen Kehrwieder. Licht und Schatten, scharf und klar voneinander getrennt. Eine Illusion des Moments. Zu selten waren die Dinge entweder schwarz oder weiß, deshalb strebte der Mensch so sehr nach dieser einfachen Unterscheidung.
Manchmal jedoch blieb einem nichts anderes übrig.
»Ich kann nicht«, sagte Cathrin knapp.
Gerrit sah sie verständnislos an. »Was heißt das, du kannst nicht?«
»Das heißt«, erklärte Cathrin ungeduldig, »dass ich mir weder vorstellen kann, mit dir Chutneys und Musselin aus Indien zu importieren, noch mit Colin Bradshaw zusammen das Kontor in Bombay zu leiten.«
Gerrit blickte fassungslos. »Ist in deinem Herzen nur Platz für das verdammte Geschäft? Dafür, allen zu zeigen, dass du genauso gut bis wie die Eisbarone vor dir, womöglich sogar besser?«
»Es ist mehr als das«, flüsterte Cathrin.
Petersen & Voronin war das Vermächtnis Thilos. Das Lebenswerk von Katya, Grischa und Christian. Die Leitung der Firma eines Tages in anderen Händen zu wissen als ihren eigenen, das wäre ihr nicht nur wie Verrat vorgekommen. Genauso gut hätte sie auch eine Axt nehmen und sich einen Fuß abhacken können.
»Das verstehe ich nicht«, entgegnete Gerrit kopfschüttelnd.
»Nein.« Cathrin lächelte. »Das erwarte ich auch nicht.«
Thilo zu verlieren, Tristan und dann auch noch Henny hatte Cathrin spüren lassen, wie zerbrechlich ihrer aller Leben war. Umso fester klammerte sie sich an das Unternehmen, das schon für die Eisbarone vor ihr ein rettendes Floß gewesen war, in Stürmen und Untiefen. Petersen & Voronin würde sie alle überdauern. Besonders, wenn es ihnen gelang, der Firma neues Feuer einzuhauchen und in die unbekannten Gewässer von morgen zu steuern.
Unwillkürlich presste Cathrin die Mappe fester an sich.
»Ich bin nicht für halbherzige Kompromisse gemacht«, fügte sie leise hinzu. »Ich dachte, das wüsstest du.«
»Und deshalb gibst du mich kampflos auf?«, fragte er, dumpf und dunkel.
Jetzt war Cathrin diejenige, die ihn verständnislos ansah.
»Der Kampf gehört in den Krieg. Von mir aus auch ins Geschäft. Aber doch nicht in die Liebe. Was für eine Liebe wäre das denn, in der man dem anderen seinen Willen aufzwingt?«
»Und doch tust du genau das«, warf er ihr vor. »Es muss immer allein nach deinem Kopf gehen.«
»Nach deinem etwa nicht?«, schoss sie hitzig zurück.
Die Stille danach war aufgewühlt und glättete sich nur langsam, blieb angespannt und unbequem.
Cathrin sah noch einmal auf den Kehrwieder hinaus. Die Sonne war weitergewandert und verwischte die Grenze zwischen Hell und Dunkel. Bald würden ihre Strahlen in den Durchgang fallen und ihn mit dem weichen Licht des Abends füllen.
Licht und Schatten mochten sich zwar mischen, aber am Ende würde einer den anderen auslöschen, das war der Lauf der Dinge.
Durchatmend fuhr Gerrit sich durch das kupferne Haar.
»Das hat doch keinen Sinn, Cathrin. Auf diese Weise kommen wir nicht zusammen.«
Cathrin dachte an die Liebenden, die ihr vorausgegangen waren. Sie fragte sich, ob sie es auch so empfunden hatten, diesen Moment, in dem man einsah, dass es vergebens war. Wenn man den anderen loslassen musste, weil es keinen gemeinsamen Weg gab, der beiden gerecht wurde.
»Nein, das tun wir nicht«, erwiderte sie weich. »Im Grunde weißt du das auch.«
Schweigend nickte Gerrit vor sich hin, eine eigentümlich wechselnde Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung auf seinen Zügen.
Behutsam fasste er sie beim Arm. »Wir tragen uns aber nichts nach, oder?«
Cathrin lächelte. »Natürlich nicht. Was denn auch?«
Was immer sie für Gerrit einmal empfunden hatte, war versandet wie die Elbe.
»Werd glücklich«, hauchte sie im Vorbeigehen auf seine Wange.
»Entschuldige«, rief Cathrin an der Schwelle zu Betjes Kontor, atemlos von ihrem Spurt die Treppen hinauf. »Ich bin aufgehalten worden.«
Betje klappte das Rechnungsbuch auf ihrem Schreibtisch zu und schob es von sich.
»Macht nichts, ich hatte sowieso noch zu tun. Was ist es denn, das ich mir ansehen soll?«
Cathrin schüttelte jeglichen Gedanken an Gerrit ab und hielt Betje die Mappe hin.
»Ich bin diese Kalkulationen so oft durchgegangen, dass ich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehe. Würdest du sie bitte einmal nachrechnen? Vielleicht findest du auch noch etwas, was sich einsparen lässt.«
Cathrin goss sich ein Glas Limonade ein und ließ sich neben Betje nieder, die sorgsam die beschriebenen Blätter vor sich ausbreitete. Als ihr Blick auf die Gesamtsumme fiel, zog sie die Brauen hoch.
»Ich weiß«, murmelte Cathrin zerknirscht.
Betje räusperte sich, lockerte die Schultern und begann zu rechnen.
Geraume Zeit waren nur die Bleistiftstriche auf Papier zu hören, wenn Betje sich eine Zwischensumme notierte. Ab und zu murmelte sie kaum hörbar vor sich hin oder legte den Stift ab, um mit der rechten Hand raschelnd durch die Kostenvoranschläge der Lieferanten zu blättern. In der Küche war zwar noch jemand zugange, doch die meisten Frauen schienen schon nach Hause gegangen zu sein, auch unten im Laden bereitete man sich hörbar auf den Feierabend vor.
»Hier hast du einen Zahlendreher drin«, murmelte Betje einmal. »Der dürfte insgesamt aber nicht groß ins Gewicht fallen.«
Die ganze Zeit über schwankte Cathrin zwischen Hoffen und Bangen und versuchte immer wieder, etwas aus Betjes konzentrierter Miene herauszulesen. Als Betje schließlich die Endsumme unterstrich, hielt Cathrin unwillkürlich die Luft an.
Betje warf ihr einen Seitenblick zu. »Kostet ein solcher Ozeandampfer wirklich so viel?«
Cathrin nickte fast verschämt. Als wäre sie über Nacht einer maßlosen Verschwendungssucht verfallen, mit dem Ziel, ihr ganzes Erbe und dazu noch das Kapital von Petersen & Voronin so schnell wie möglich durchzubringen, nur aus einer Laune heraus.
»Eine halbe Million«, raunte Betje ehrfürchtig. »Knapp.«
»Mir dreht es jedes Mal den Magen um, wenn ich daran denke«, gestand Cathrin.
Betje nickte und blies den Atem aus. »Das nenne ich mal eine Investition.«
Eingehend betrachtete sie noch einmal die Posten auf Cathrins Kalkulation.
»Aber wenn ich mir so ansehe, was hinterher auf der Habenseite steht … Wie viele Fahrten plant ihr im Jahr?«
»Etwa eine alle anderthalb Monate. Im Winter wahrscheinlich weniger, aufgrund des Wetters. Und da wird auch das Schiff weniger ausgelastet sein.«
Betje schüttelte bedauernd den Kopf. »Da bleibt zu wenig übrig. Ihr müsstet pro Fahrt mindestens ein paar tausend Mark mehr Gewinn machen, sonst ist es ein schlechtes Geschäft. Ihr dürft auch nicht vergessen, an Steuern und Rücklagen zu denken, aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen.«
»Wenn wir die Preise erhöhen, riskieren wir, dass die Leute lieber woanders buchen«, erklärte Cathrin. »Und genauso, wenn wir am Komfort sparen.«
Das war der große Konflikt, mit dem sie und Jakob beständig rangen.
»Verstehe«, murmelte Betje. »Dann bleibt nur, irgendwo anders die Ausgaben zu kürzen. Wofür sind die ganzen Lebensmittel?«
»Für die Passagiere der dritten Klasse. Normalerweise müssen die sich während der Überfahrt selbst versorgen. Was natürlich gar nicht so leicht ist, zwei Wochen lang auf einem Schiff. Vor allem dann nicht, wenn sich aufgrund der Witterungsverhältnisse die Ankunft unerwartet um ein paar Tage verzögert.«
Cathrin und Jakob hatten sich bei sämtlichen Reedereien nach den Konditionen einer Überfahrt erkundigt; bessere Leistungen zum ungefähr gleichen Preis anzubieten, das war ihr Ziel.
»Ich habe mit den Preisen bei euch im Laden gerechnet«, fügte Cathrin hinzu. »Ihr würdet uns doch beliefern?«
»Sicher«, antwortete Betje, die Stirn gerunzelt. »Aber da hast du die Kosten zu hoch angesetzt. Bei den Mengen können wir dir satten Rabatt geben und verdienen trotzdem noch etwas daran.«
»Danke, Betje«, sagt Cathrin mit ehrlicher Erleichterung.
»Da nicht für«, erwiderte Betje schmunzelnd.
Noch einmal durchblätterte sie die Kostenvoranschläge, und an einem davon blieben ihre klarblauen Augen hängen.
»Von Holzarbeiten verstehe ich ungefähr so wenig wie vom Schiffbau«, äußerte sie sich dann. »Aber das hier kommt mir doch sehr hoch gegriffen vor.«
Betje lehnte sich zurück und rief nach Jordis.
Eine geschäftige Röte auf den runden Wangen, erschien Jordis in der Tür und trocknete sich die Hände an der Schürze ab; das Licht des Abends machte die allerersten Silberfäden in ihrem weichen Blond sichtbar.
»Was habt ihr da?«, fragte sie in ihrem friesischen Singsang, als sie den beiden über die Schultern sah.
»Cathrins Kalkulation für einen Passagierdampfer über den Atlantik«, erläuterte Betje so unaufgeregt, als handelte es sich um Cathrins Aussteuertruhe.
»Ach«, meinte Jordis auch nur und zog sich einen Stuhl heran.
»Du hast über Fiete mehr Einblick«, fuhr Betje fort und reichte ihr den Kostenvoranschlag für den Innenausbau und das Mobiliar. »Das geht doch sicher günstiger.«
»Auf jeden Fall«, rief Jordis nach einem ersten Blick auf die Zahlen aus. »Fiete schreinert dir das alles aus gutem Holz. Kann ich das mitnehmen? Dann zeige ich es ihm gleich heute Abend.«
Jordis steckte den Kostenvoranschlag zusammengefaltet ein und reckte den Hals. Energisch tippte sie auf die Liste mit Lebensmitteln.
»Das kannst du nicht machen, Cathrin. Du kannst kein Brot zwei Wochen lang über das Meer fahren. Das schimmelt dir in der feuchten Luft, das musst du alle paar Tage frisch backen. Ist aber schnell gemacht und sowieso billiger, als fertiges einzukaufen. Könnt ihr das Kohlenfeuer denn nicht gleich für einen Ofen mit nutzen?«
Cathrin erhob sich halb und griff sich Stift und Papier, um sich Notizen zu machen.
»Dosenweise Kaviar braucht ihr auch nicht«, fuhr Jordis fort, ganz in ihrem Element. »Die feinen Leute sind schon zufrieden, wenn hier und da mal ein Klacks drauf ist, das weiß ich von den kalten Platten. Fisch mögen die immer, da sitzt du hier in Hamburg ja an der Quelle, und gern auch ein bisschen was exotisch Gewürztes. Bei den einfachen Leuten bist du mit Eintopf am besten dran. Linsen, Bohnen, Erbsen, das macht satt und schmeckt. Und Äpfel, Cathrin, Äpfel! Die sind gut zu lagern und gesund noch dazu.«
Sie unterbrach sich und musterte Cathrin.
»Hauswirtschaften ist wohl nicht deine große Stärke?«
Cathrin musste lachen. »Das ist das Einzige, in dem ich weder Katya noch meiner Mutter nachgeraten bin.«
Viel mehr als belegte Brote oder schnell in die Pfanne Geworfenes gab es abends bei ihr nicht, auch nicht, wenn Jakob da war. Für alles andere fehlte ihr die Geduld, vielleicht auch schlicht das Interesse. Sie war jedes Mal froh, wenn Betje ihr etwas mitkochte und in einem Topf vor die Tür stellte, den sie sich dann warm machte, wenn sie spät aus dem Kontor nach Hause kam.
Vergnügt klopfte Jordis gegen Cathrins Knie. »Rutsch mal eben.«
Gehorsam rückte Cathrin mit ihrem Stuhl ein Stück zur Seite, damit Jordis den ihren näher an den Tisch ziehen konnte. Zu dritt steckten sie dann die Köpfe zusammen, um einen Speiseplan für den Ozeankreuzer zu erstellen, der bislang nur in der Fantasie von Cathrin und Jakob existierte.