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Christian hob den Kopf von seinem Glas, als Grischa in den Salon zurückkehrte.

»Er schläft«, sagte Grischa und ließ sich in den Sessel fallen.

Eine Weile war nur das Räderknirschen auf der Palmaille zu hören, das durch die geöffneten Fenster drang, die Schritte und Stimmen der Flaneure, die den malvenblauen Sommerabend genossen.

In das hitzeträge Gutenachtlied der Vögel mischten sich die dröhnenden Hörner der Dampfschiffe auf der nahen Elbe.

»Jakob lässt mich nicht an sich heran«, sagte Grischa dann. »Es war vorher schon nicht einfach. Aber seit er aus dem Krieg zurück ist …«

Christian nickte. Mit Cathrin hatte er ganz ähnliche Erfahrungen gemacht, wenn auch unter anderen Umständen.

»Ich schäme mich fast, das zu sagen«, begann Grischa nach einiger Zeit erneut. »Aber ich bin froh, dass er nicht gefahren ist.«

»Wegen Tristan?«

Grischa deutete ein Kopfschütteln an, ein wehmütiges Lächeln um den Mund.

»Wegen Jakob.«

Christian ließ den Whisky im Glas kreisen und inhalierte das torfige Aroma.

Ewigkeiten war es her, dass sie zu zweit zusammengesessen hatten, ohne dass sich ihr Gespräch ausschließlich um die Firma und Bilanzen gedreht hatte, um neue Märkte und die Börsenkurse. Eine Fremdheit, die ebenso langsam schmolz wie das Eis in den Gläsern.

»Ich weiß nicht, was auf dem Schiff vorgefallen ist«, fügte Grischa nach einer weiteren Pause hinzu. »Gut möglich, dass er es mir nie erzählen wird. Es hat mich daran erinnert, wie ich damals in Sankt Petersburg auf einem Frachter anheuerte, der nach England segelte. Meine erste Fahrt wäre es gewesen. Mein großer Traum. Katya sollte so lange in dem Gasthaus bleiben, in dem wir Unterschlupf gefunden hatten. Des Nachts hat sie sich aber in den Hafen geschlichen und auf dem Schiff verkrochen. Natürlich wurde sie in der Frühe entdeckt, und wir flogen beide in hohem Bogen von Bord.«

»Das hast du mir nie erzählt«, warf Christian mit einem leisen Lachen ein.

Ein kleines Grinsen zeigte sich in Grischas Mundwinkel.

»Warte, warte, die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Weil Katya als Mädchen nirgendwo an Bord durfte, bestand sie darauf, dass ich ihr die Haare abschneide, ein Paar Hosen haben wir unterwegs auch noch für sie geklaut. Als Brüder versuchten wir es ein zweites Mal und hatten Glück. Mit einem Nordmeerfahrer kamen wir so nach Grönland.«

»Und euch ist niemand auf die Schliche gekommen?«

Grischa lachte sein dröhnendes Bärenlachen.

»Und ob! Auf dem Weg zurück flog der ganze Schwindel auf. Im Nachhinein ist gut darüber lachen, aber das hätte böse ausgehen können. Ich sehe Katya und mich immer noch dort sitzen, im finsteren und stinkenden Laderaum des Schiffs. In Norwegen haben sie uns dann ausgesetzt. In Tromsø, das damals ein kleines Nest war. Ohne ein bisschen Geld oder auch nur ein Stück Brot. Von Tür zu Tür sind wir gezogen, bis Silja Guðmundsdóttir schließlich Erbarmen mit uns zeigte.«

Christian ahnte, weshalb Grischa ihm das erzählte. Dass kein Leben jemals einen geraden Weg nahm, hatte er am eigenen Leib erfahren.

»Ich fahre nach Norwegen, Grischa. Deshalb war ich heute im Hafen. Katya hat mir ihre Hütte am Eidfjord angeboten.«

Unerträglich war es, sich Henny im Haus des Bestatters vorzustellen, leblos und starr. Zu wissen, dass sie sie in einem Sarg unter die Erde hinablassen würden. Henny, die doch so hell und freundlich gewesen war wie das Licht selbst und Menschen um sich gebraucht hatte wie die Luft zum Atmen.

Ohne sie war die Villa in Hamm dunkel, leer und kalt.

Grischa nickte. »Das ist sicher eine gute Idee.«

In langen Schlucken tranken sie von ihrem Whisky.

»Hast du es mir je übel genommen«, setzte Grischa dann neu an, »dass ich mich damals zwischen dich und Katya gestellt habe?«

Seltsam, diese Frage nach all der Zeit gestellt zu bekommen. Christian musste sie erst zusammen mit dem Whisky in sich hineinsickern lassen.

»Nicht, weil ich dich nicht mochte«, beteuerte Grischa. »Sondern weil sie noch so jung war.«

»Ich weiß.«

Vorsichtig schmeckte Christian den Worten auf seiner Zunge nach.

»Ich habe lange damit gehadert, ja. Aber letztlich war es meine Entscheidung, stattdessen Henny zu heiraten. Im Rückblick weiß ich nicht einmal, ob ich Katya je gerecht geworden wäre.«

Grischas Blick wanderte zum Fenster hinaus, einen dunklen Glanz von Melancholie in den Augen.

Christian nahm seinen ganzen Mut zusammen. »Ging es dir mit Thilo so?«


Grischas Hand, die eben das Glas zum Mund führen wollte, verharrte in der Luft.

»Du hast davon gewusst?«

Christian hob eine Schulter.

»Ich hatte zumindest so etwas vermutet. Wenn ich auch lange die Augen davor verschlossen hielt, weil ich es befremdlich fand. Nicht nur, mir zwei Männer zusammen vorzustellen. Sondern weil es dazu noch Thilo betraf. Meinen Bruder. Und dich, den Schwerenöter.«

Grischas Mundwinkel hoben sich. »Du warst schon immer ein Biedermann.«

»Sagte der russische Hinterwäldler«, konterte Christian, die Brauen blasiert angehoben.

Grischa lachte. »Ich hatte schon mehr von der Welt gesehen, als dein Horizont noch nicht weiter reichte als bis zum Turm von Sankt Katharinen.«

»Wenn schon, dann bis Sankt Nikolai, bitte.«

Ein Grinsen wanderte zwischen ihnen hin und her.

Am Ende waren Geheimnisse nichts anderes als Gebilde aus Eis. Man konnte immer erahnen, was sich dahinter verbarg, und eines Tages zerbrachen sie ja doch oder schmolzen einfach.

»Ich habe mich immer nur in den Menschen verliebt«, sagte Grischa jetzt. »Das Geschlecht war zweitrangig.«

Christian deutete ein Nicken an. Die Kiefermuskeln angespannt, starrte er geraume Zeit in den bernsteinfarbigen Whisky.

»Ich hatte immer gehofft«, kam es dann tonlos von ihm, »Thilo würde eines Tages mit mir darüber reden. Obwohl ich nur der kleine Bruder war, unbeleckt von solchen Dingen. Umso mehr habe ich mich von euch beiden ausgeschlossen gefühlt. Dass ich es selbst nicht geschafft habe, ihn danach zu fragen, aus Eitelkeit oder falscher Scham oder weil es schlicht bequemer war, werde ich immer bereuen.«

Grischa blinzelte vor sich hin. Beide schienen sie sich dessen bewusst zu sein, dass sie jetzt in dem Alter waren, in dem das meiste hinter ihnen lag, Grischa mit fast zweiundsechzig, Christian drei Jahre älter. Was jetzt noch kam, war nichts weiter als ein Bonus oder ein Malus, je nachdem.

»Katya hat ihn so viel glücklicher gemacht, als ich es jemals gekonnt hätte«, murmelte er schließlich heiser.

Etliche Herzschläge lang schwiegen sie. Als lauschten sie den Wellen der Zeit, die über sie hinwegwuschen, und mit ihnen das Salz der Erinnerung, das dem Leben erst seine Würze gab.

»Könntest du dir vorstellen«, begann Grischa dann, »Jakob …«

»Soll ich Jakob nach Norwegen mitnehmen?«, fragte Christian im selben Atemzug.

Ein Lächeln schien auf ihren Gesichtern auf, das an den Augenwinkeln Strahlenkränze auffächerte. Spuren all der Jahre, die vergangen waren, seit sie mit Thilo im Kabuff hinter dem Gemischtwarenladen aus Katyas Idee ihren Traum vom Eis gesponnen hatten.

»Wir sind doch eine Familie, oder nicht?«, fragte Christian zögerlich.

Als müsste er sich dessen versichern, was Grischa nie in Zweifel gezogen hatte.

In Grischas Augen schimmerte es warm auf.

»Das waren wir immer, Christian. In guten und in schlechten Tagen.«

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