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Es hätte ein ganz gewöhnliches Familienfrühstück sein können, an diesem Sonntag in Hamm. Eines der Dörfer im Speckgürtel Hamburgs, wo die Villen gut betuchter Bürger nach und nach die Bauernhäuser verdrängten.
Henny Petersen hatte lange gezaudert, ob es nicht noch zu kühl war, dann aber doch nach dem Gottesdienst in der Dreifaltigkeitskirche die Tafel draußen decken lassen. In der Sonne strahlte das Porzellan mit der Säulenfassade der Villa um die Wette, und der Duft von Kaffee und Eiern und noch warmen Rundstücken mischte sich mit dem des frischen Grases und der Frühlingsblumen.
Die Kinder waren bereits vom Tisch entlassen, vom Ufer des Teichs sprudelten ihre Stimmen herüber. Aufmerksam beobachtet von ihrer Mutter Jette, falls Thalia, mit vierzehn Jahren die Älteste, die Aufsicht über ihre Geschwister vernachlässigen sollte. Claudius und Viktoria waren schon recht vernünftig, aber gerade Nesthäkchen Richard war ein ziemlicher Racker.
Mit knorrigen Fingern zerrupfte Großmutter Pohl die nächste Scheibe Hefezopf und tunkte Fetzen für Fetzen in ihren Milchkaffee. Fürsorglich zog Henny das wollene Tuch enger um die Schultern ihrer betagten Mutter und erntete dafür ein zahnloses Lächeln.
Cathrin lag die Idylle schwer im Magen. Genauso behaglich hatten sie und Marie bei Katya und Thilo am Tisch gesessen, keine drei Wochen war es her, und nichts, absolut nichts hatte ahnen lassen, dass sie Thilo niemals wiedersehen würden.
Nichts in ihrem Leben hatte sie darauf vorbereitet. Nicht der Tod von Großvater Pohl damals, von dem ihr nur wenige Erinnerungen geblieben waren, bevor ihn im Kontor ein Schlaganfall ereilt hatte. Zwei Monate, ehe er in den Ruhestand gehen und sich mit seiner Mathilde noch etwas von der Welt ansehen wollte, die er nur von Schiffspapieren und Zollerklärungen auf seinem Schreibtisch her kannte.
Es war auch nicht dasselbe wie bei Cathrins geliebtem Opa Arno Petersen, der ihr immer vorgekommen war wie ein gutherziger Riese aus einem Märchen. Tapfer hatte er sich gegen das Verwittern gestemmt, selbst als er schon dalag wie ein morscher Baum; fast fünfzehn Jahre war es jetzt her.
Mit Thilo hatte sie den Mann verloren, den sie als ihren eigentlichen Vater betrachtete. Ein solch unermesslicher, tiefgreifender Verlust für Cathrin, dass sie nicht wusste, wie sie ihn je verwinden sollte. Der sie hier an diesem Tisch überdeutlich spüren ließ, wie allein sie inmitten ihrer Familie war.
Sie blickte zu Marie, die das ganze Frühstück damit zugebracht hatte, an einem einzigen weich gekochten Ei zu löffeln. Kaum hörbar vor sich hin summend, ging sie jetzt ganz darin auf, mit ihren Elfenfingern die Schale in unzählige Stückchen zu zerbrechen und auf dem Teller zu einem gleichmäßigen Muster zu arrangieren.
Ihre dreiunddreißig Jahre sah man Marie nicht unbedingt an, ihr eigentümliches Wesen indes schon, spätestens auf den zweiten oder dritten Blick. Geistig minderbemittelt, lautete oft genug das Urteil Fremder, vorschnell gefällt. Maries Welt war bunter, facettenreicher, lauter, intensiver; eine beständig herandonnernde Brandung aus Sinneseindrücken, die ihren wachen Verstand durcheinanderwirbelte. Davor konnte sie sich nur abschotten, das hatte Cathrin früh verstanden.
Unvermittelt hob Marie den goldblonden Kopf von ihrer Puzzlearbeit. Ihre blauen Augen ließen tief blicken, in dieselbe uferlose Trauer hinein, die auch Cathrin empfand. Ein seltener Augenblick schwesterlicher Innigkeit, bevor Marie sich wieder dem Mosaik aus Eierschalen widmete, auf der Suche nach Ordnung in dieser furchterregend chaotischen Welt.
Hausmädchen Mine trat mit einer Kanne frischen Kaffees an den Tisch, bei Ludger Niebuhr machte sie den Anfang. Obwohl Jette in jeder Hinsicht eine glänzende Partie gewesen war, hatte Maries bloße Existenz ihre Chancen seinerzeit geschmälert. Zu groß waren die Befürchtungen potenzieller Schwiegereltern gewesen, so etwas könnte womöglich erblich sein.
Ludger Niebuhr hatte sich davon nicht abschrecken lassen. Deutlich älter als Jette, hatte er nicht nur Geschäftserfahrung und eigenes Vermögen mit in die Ehe gebracht, sondern auch die nötige Reife, um mit Jettes Launen und Allüren umzugehen. Die Brauen buschig, der grau melierte Backenbart üppig, erinnerte er an einen missgestimmten Straußenvogel, fand Cathrin.
»Menschlich war es gewiss eine nachvollziehbare Entscheidung. Schließlich hat er Katya stets auf Händen getragen«, ließ Ludger sich jetzt vernehmen und griff zu der nachgefüllten Tasse, ohne Mine in irgendeiner Form zu beachten. »Trotzdem halte ich eine solche Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Firma für bedenklich.«
Die Nachwehen der Beerdigung: Thilos Testament, in dem er jeder der drei Petersen-Schwestern die gleiche großzügige Summe vermacht hatte. Dass Maries Geld von Katya treuhänderisch verwaltet werden sollte und nicht etwa von Christian und Henny, hatte schon für hochgezogene Brauen gesorgt. Ludger nahm es dazu persönlich, dass er keinerlei Zugriff auf Jettes Erbteil haben sollte oder auch nur ein Mitspracherecht; eine Schmach für einen Mann wie ihn.
Vermutlich verbiss er sich deshalb wie ein Terrier in die Tatsache, dass Katya nun mit Thilos Anteilen die Hälfte von Petersen & Voronin in ihren Händen hielt. Cathrins Vater kaute genauso schwer daran, auch hier zogen Christian Petersen und Ludger einmal mehr an einem Strang.
»Wem hätte Thilo seine Anteile denn sonst vermachen sollen?«, fragte Cathrin herausfordernd. »Grischa? Oder Vater? Das Ergebnis wäre doch dasselbe gewesen.«
In gewohnter Freundlichkeit, aber eine Spur lauter als nötig, bedankte sie sich bei Mine für das Nachschenken. Zu subtil für Ludger, für solche Zwischentöne war er taub.
»Mein liebes Kind«, sprach er Cathrin ungeachtet ihrer fast fünfundzwanzig Jahre an. »Die Leitung eines solchen Unternehmens bedeutet eine große Verantwortung. Jede Entscheidung, die es zu treffen gilt, kann folgenschwere Konsequenzen nach sich ziehen, auf Jahre hinaus. Jegliche Sentimentalität ist da fehl am Platz.«
»Weder Katya noch Thilo haben sich jemals sentimental gezeigt, wenn es um das Geschäft ging«, hielt Cathrin dagegen, Jettes warnenden Blick ignorierend. »Katya hat das Unternehmen mitbegründet, der Eishandel war überhaupt erst ihre Idee. Sie hatte darin schon jahrelange Erfahrung, als du noch die Schulbank gedrückt hast.«
»Müssen wir das denn ausgerechnet heute …«, begann Henny, zaghaft bemüht, den Sonntagsfrieden zu wahren.
Ludger ließ sich davon nicht beirren. Für ihn war eine Auseinandersetzung erst dann beendet, wenn er den Gegner auf seine Seite gezogen hatte.
»Bei allem Respekt, verehrte Schwägerin«, widersprach er Cathrin. »Thilo hätte besser daran getan, die Last der Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen.«
»Zu viele Köche verderben den Brei«, gab Cathrin patzig zurück.
Ganz und gar nicht wie die abgeklärte Geschäftsfrau, die sie sein wollte. Trotzdem sah sie voller Genugtuung, dass sie Ludger an seinem empfindlichsten Punkt getroffen hatte, seiner Eitelkeit.
»Mit Verlaub, das sehe ich anders. Ein zusätzlicher Mann in der Geschäftsführung hätte der Firma mehr als gutgetan.«
Daher wehte der Wind also: Ludger hatte selbst auf Thilos Anteile gehofft. Das Testament hatte Katya mit einem Schlag doppelt so reich, doppelt so mächtig gemacht, wer hätte nicht an ihrer Stelle sein wollen.
»Du wirst doch ohnehin bald Vaters Position übernehmen«, entgegnete Cathrin.
»Was er sich auch mehr als verdient hat«, warf Jette ein.
»Das stelle ich doch auch gar nicht in Abrede«, wehrte Cathrin ab. »Es geht mir nur darum …«
»Weißt du«, schnitt Jette ihr das Wort ab, »du solltest solche Dinge denjenigen überlassen, die etwas davon verstehen.«
»Ich bin mit dem Geschäft groß geworden«, verteidigte sich Cathrin. »Von klein auf war ich mit Thilo im Kontor, mit Grischa auf den Schiffen und in Zollbüros. Ich habe mit Katya unser Eis in Norwegen geholt und sogar die Webereien und Manufakturen in Indien besucht. Das ist weitaus mehr, als Ludger von sich behaupten kann.«
»Ein nettes Steckenpferd«, erwiderte Jette geschmeidig. »Aber vollkommen nutzlos. Du hättest dich lieber mal mit Nadelarbeiten beschäftigt oder um sonstige hausfrauliche Fertigkeiten bemüht. Dann würdest du nicht immer noch am Rockzipfel von Papa und Mama hängen. In deinem Alter.«
Cathrin kümmerte es herzlich wenig, ob sie verheiratet war oder nicht; dass Jette, durch und durch Tochter ihrer Mutter, es ihr bei jeder Gelegenheit unter die Nase rieb, hingegen schon. Die zwölf Jahre, die sie trennten, hatten sich über die Zeit zu einer Kluft zwischen Generationen ausgedehnt. Unvereinbare Vorstellungen und Werte, an denen sie sich wie Streichhölzer rieben und genauso leicht entzündeten.
Schweigend verfolgte Christian Petersen den hitzigen Wortwechsel der beiden, einmal mehr erstaunt über diese drei so unterschiedlichen Töchter, die aus ihm und Henny hervorgegangen waren. Jette in ihren Farben von Milch und Honig, die mit Ende dreißig gerade in voller Blüte stand. Verwöhnt, aber diszipliniert und dazu noch scharfsinnig, selbstbewusst in ihrer Ehe wie der Mutterschaft. Marie, dieses versponnene Elfenkind, für das sie einen sicheren Hort geschaffen hatten, in dem sie aufblühen und ihrer künstlerischen Begabung nachgehen konnte.
Und Cathrin.
Aus einer Laune der Natur heraus war sie äußerlich ganz nach Thilo, seinem Bruder, geraten. Die Erbanlagen eines gemeinsamen Vorfahren, durch Christian an sie weitergegeben. Das Haar so hell, dass es fast weiß war, und so seidig, dass keine Brennschere, kein noch so kunstfertiger Kniff mehr als einen schlichten Knoten zustande brachte; ein ewiger Kummer für Henny. Die Augen kühle Kiesel unter Brauen und Wimpern wie Raureif, die Züge eine verfeinerte Version von Thilos, geradlinig und schnörkellos. Wie aus demselben blassen Stein geschnitten und zu lebendiger Leuchtkraft poliert.
In diesen Tagen tat es weh, in ihrer Nähe zu sein, so ähnlich sah sie ihm.
Christian wollte die Augen davor verschließen und konnte es nicht. Sobald er die Lider auch nur senkte, tauchte dahinter Thilos brutal zerschundenes Gesicht auf, schon kalt und tot.
Gestern erst, so kam es ihm vor, waren sie noch zwei Jungen gewesen, die vor dem Gemischtwarenladen ihrer Eltern am Kehrwieder umhertollten, und nun war nur noch er selbst übrig, tiefe Linien unter den Augen und das Haupt wie von Asche bestäubt.
Sechzig Jahre lang, ein Menschenalter, hatte Thilo ihn auf seinem Lebensweg begleitet. Ein großer Bruder im besten Sinne, auf nüchterne Weise fürsorglich. Von jeher stärker, reifer, vernünftiger; ein Bleistiftstrich am Türrahmen, an dem Christian sich stets gemessen hatte, bewusst oder nicht. Auseinandergetrieben von ihren unterschiedlichen Charakteren, war Thilo dennoch eine feste Größe in seinem Leben geblieben; ein zutiefst vertrauter Fremder, auf den Christian manchmal neidvoll schielte.
Wenn schon ein Mann wie Thilo, baumstark und von besonnenem Gemüt, ein Opfer roher Gewalt werden konnte, wie viel zerbrechlicher war dann ihrer aller Dasein? Über Nacht war die Welt zu einem Ort des Schreckens geworden. Voller unsichtbarer Gefahren, vor denen Christian seine Familie schützen wollte. Allen voran Cathrin. Um sie sorgte er sich am meisten, und gerade sie war die Letzte, die sich in Watte packen ließ.
In Cathrins ersten Lebensmonaten hatten sie befürchtet, nach Marie ein zweites Muschelkind bekommen zu haben, so viel schrie sie. Das Gegenteil war der Fall.
Cathrin schrie, weil sie ihren Hunger nach dem Leben nicht gestillt bekam. Unersättlich war ihre Gier danach; mit beiden Händen packte sie, was sie zu fassen bekam, und stopfte es sich in den Mund, um es mit allen Sinnen in sich aufzunehmen. Kopfüber stürzte sie sich in diese neue und aufregende Welt, ungeachtet aller Schrammen und Beulen, die sie sich dabei holte. Jede beschützend ausgestreckte Hand schlug sie beiseite und brüllte in der Sicherheit des Laufgitters stundenlang wie am Spieß.
Zu wild, zu eigensinnig war sie, als dass Christian und Henny sie hätten bändigen können, nicht einmal mit der Hilfe der resoluten Kinderfrau. Nicht neben Jette, die an der Schwelle zum schwierigen Backfischalter stand, nicht mit den Anforderungen, die Marie jeden Tag an sie alle stellte.
Besonders Hennys Nerven lagen allzu bald blank.
Einmal, kurz vor Cathrins erstem Geburtstag, war Christian dazugekommen, wie Henny das Kind anschrie und schüttelte. Beide im Schock, nachdem die Kleine, nur einen Wimpernschlag lang aus den Augen gelassen, sich am Bein einer Konsole hochgezogen hatte und die Vase darauf um Haaresbreite an ihrem Kopf statt auf dem Boden zerschellt wäre. Der vorläufige Höhepunkt eines permanenten Kriegszustands, der weder Henny noch Cathrin weiter zuzumuten war.
Kurzerhand hatte Christian seine wutstrampelnde Tochter unter den Arm geklemmt und war nach Teufelsbrück hinausgefahren. Obwohl er wusste, dass das Haus dort im Umbau war, die gerade erst gekittete Ehe von Katya und Thilo noch fragil; er hatte sich nur nicht anders zu helfen gewusst.
Wie ein Äffchen hatte Cathrin sich an Katya geklammert und schutzsuchend den Kopf an ihre Brust gedrückt. Mit einer zu Hause kaum je gezeigten Zutraulichkeit, die Christian ins Herz schnitt. Erst als Katya ihm mit leuchtenden Augen zugenickt, ihn sogar sacht an der Schulter berührt hatte, wie zum Trost, konnte er aufatmen.
Bis heute plagten ihn Schuldgefühle, dass er damals seine Tochter weggegeben hatte. Sie als das Kind von Katya und Thilo aufwachsen zu sehen, über die Jahre nur zu Besuch im eigenen Elternhaus, für einen Tag, einige Wochen, mehrere Monate, schmerzte noch immer.
Bereut hatte er es nie.
Das Gespräch am Tisch hatte sich wieder der Firma zugewandt, wie so oft. Petersen & Voronin war nicht nur das Wurzelwerk, das die Familie ernährte, es erstreckte sich auch bis in den letzten Winkel ihres Daseins. Im Grunde ihres Wesens waren sie alle Hamburger Händlerseelen, fasziniert von der Dynamik aus Angebot und Nachfrage. Süchtig nach dem Wettbewerb, dem nächsten lohnenden Geschäft, eine gute Bilanz ihr bestes Ruhekissen. Auch das war Thilos Vermächtnis.
Christian beobachtete Cathrin, wie sie leidenschaftlich auf ihrem Standpunkt beharrte und dabei kein Blatt vor den Mund nahm.
Unter der Hege von Katya und Thilo war ein vor Lebensfreude schier platzendes Mädchen aus ihr geworden, dem kein Zaun, kein Baum je zu hoch war, kein Wasser zu tief, aber auch kein Buch zu dick. Eine unerschrockene Reiterin bis heute, die sich von keiner Hürde bremsen ließ. Nie schien es für sie irgendwelche Grenzen zu geben und keinen anderen Herrn und Gebieter außer ihrem eigenen Willen.
»Solange du nicht die notwendige Erfahrung mitbringst«, maßregelte Ludger jetzt seine junge Schwägerin, »steht es dir schlichtweg nicht zu, dich in geschäftliche Belange einzumischen.«
»Dann gebt mir doch endlich einen Platz in der Firma!«, rief Cathrin aus. »Und wenn es nur als Schreibkraft ist. Wie soll ich denn sonst Erfahrung sammeln?«
Ihr sehnlichster Wunsch, fast von Kindesbeinen an. In dem Kaufmannsladen, mit dem sie als kleines Mädchen gespielt hatte, hatte sie die Äpfel und Birnen aus Holz kurzerhand zu Ananas und Mango aus Indien erklärt, das Sortiment aus eigenem Antrieb um Stoffreste aus Katyas Nähkorb erweitert und mit ihrer erwachsenen Kundschaft um jeden Heller gefeilscht wie ein gewieftes Marktweib. Auf eine Art, die sich nicht damit erklären ließ, dass sie viel Zeit bei Betje und Hanno im Laden verbrachte. Durch und durch eine Petersen war sie, den Geschäftssinn eingeschlossen.
Wenn Christian sich ein Kind hätte erträumen können, wäre es wie Cathrin gewesen. Sein größtes Glück. Seine empfindlichste Schwäche, weil sie ihn, heute älter, reifer und vielleicht weiser, an all seine Fehler erinnerte.
»Vater«, richtete Cathrin jetzt das Wort an ihn.
Nicht fragend, bittend oder gar flehend, sondern als unmissverständliche Forderung.
Natürlich würde Cathrin sich nicht damit zufriedengeben, Geschäftsbriefe zu verfassen oder die Bücher zu führen. Für sie gab es nur alles oder nichts, das unterschied sie von Katya. Christian konnte sich allzu gut vorstellen, wie sie und Ludger, den er als Geschäftsmann wie Schwiegersohn schätzte, ständig krachend zusammenstießen wie zwei Steinböcke mit ihren Hörnern. Er sah die konsternierten Blicke der Geschäftspartner schon vor sich, die es nicht gewohnt waren, wenn eine junge Frau derart unverblümt den Ton angab und die Zügel an sich riss.
Wäre sie ein Mann gewesen, hätten ihr alle Türen offen gestanden. Aber als Frau summierten sich ihre Eigenschaften zu Mängeln auf. In Hamburg war man auf Unwetter und Sturmfluten eingestellt. Nicht auf ein Naturereignis wie Cathrin Petersen.
Es schmerzte Christian, dass er für seine Tochter nicht die Welt verändern konnte. Dass sogar noch die Fußstapfen, die Katya hinterlassen hatte, zu klein für sie waren. Mit dem Kopf durch die Wand wollte sie, und Christian fürchtete, sie würde sich dabei den Schädel einrennen.
»Nein«, lehnte er zum wiederholten Mal das Ansinnen seiner Tochter ab. »Und dabei bleibt es.«
Cathrin schluckte schwer an der Antwort ihres Vaters, obwohl sie damit hätte rechnen müssen. Zu oft hatten sie schon darüber gestritten, und trotzdem hoffte sie jedes Mal, er würde sich anders besinnen.
Ein stummes Kräftemessen entspann sich zwischen ihnen. Christian, der bei Damen jeden Alters für seinen Charme beliebt war, sich Cathrins Schwestern gegenüber liebevoll und nachgiebig zeigte und Henny jeden Wunsch von den Augen ablas, blieb bei ihr, Cathrin, streng, geradezu hart.
Eine Herausforderung, die Cathrin bereitwillig annahm, indem sie zu einer lebhaften Rede über Ungerechtigkeit und Willkür ansetzte. Umso flammender, je mehr es in den Augen ihres Vaters aufglomm. Je ungehaltener Ludger und Jette sie zu unterbrechen versuchten, die begütigenden Einwände ihrer Mutter kaum lauter als das Flüstern von Frühlingslaub.
Maries Summen war bedrohlich angeschwollen, unvermittelt schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch, dass Porzellan und Silber nur so klirrten.
»Thilo ist tot«, stieß sie hervor, ihre blauen Augen starr und eine erregte Röte im Gesicht.
Der nächste Schlag ihrer Hand katapultierte die Tasse zur Seite, und der frische Kaffee explodierte auf dem Tisch.
»Thilo. Ist. Tot.«
Beruhigend sprach Christian auf Marie ein und rieb ihr den Rücken, während Henny nach Mine rief und die Schulter ihrer Mutter streichelte, die erschrocken zusammengezuckt war.
»Jetzt sieh nur, was du angerichtet hast«, fauchte Jette in Cathrins Richtung.
Cathrin schwieg mit brennenden Wangen, einmal mehr auf den Platz des Störenfrieds verwiesen.