30





Im Regen eilte Cathrin über den Hopfenmarkt. Nicht im klassischen Hamburger Nieselregen, der ganze Tage eintrübte, sondern in einem pladdernden, trommelnden, prasselnden Platzregen, der aus heiterem Himmel gekommen war. Die Wolken hingen so tief, dass sie beinahe den Kirchturm von Sankt Nikolai streiften, der sich Jahr um Jahr weiter in die Höhe schraubte, aber noch immer nicht fertig war.

Als ob sich die reichen Hamburger Kaufleute eine bequeme Himmelsleiter bauten, lästerten manche, um sich die besten Plätze neben dem Herrgott zu reservieren, für später.

Schützend hielt Cathrin sich die Ledermappe mit den Unterlagen über den Kopf, damit der kleine Hut möglichst wenig Schaden nahm; ein Hut gehörte sich, wenn man auf der Bank zu tun hatte. Ihre Rocksäume waren bereits vollgesogen, ihre Schuhe durchweicht und die taillierte Jacke an Schultern und Ärmeln nass. Aber eine Mietdroschke hätte sich nicht gelohnt, nicht für die paar Straßenecken; vielleicht war sie auch schlicht trotziger Stimmung.

Jenseits der Holzbrücke hing ein Fuhrwerk am Straßenrand fest, ein Defekt an der Achse, wie es schien. Während die Pferde unter gelassenem Blinzeln ihre Pause genossen, bemühten sich drei Männer, denen das Wasser von den Mützen troff, den Wagen wieder flottzukriegen. Beinahe hätte Cathrin laut aufgelacht; genauso festgefahren fühlte sich ihr Leben momentan an.

Seit sie ins Kontor zurückgekehrt war, erledigte sie ihre Arbeit dort gewissenhaft, aber ohne Freude. Sie konnte sich nicht beklagen, die Geschäfte liefen besser denn je, während sich das Füllhorn des Wohlstands über Mitteleuropa ausgoss. Doch obwohl Cathrin sich mit Ludger erstaunlich schnell einig gewesen war, in den derzeitigen Hamburger Bauboom zu investieren, Projektpläne studierte und Grundstücke in Augenschein nahm, hungerte sie nach neuen Impulsen.

Der aus Kairo importierte Luxuskaffee fand reißenden Absatz und das türkische Blütenöl nicht minder; rosige Zeiten sollten schließlich auch genauso duften. Danach jedoch hatte Cathrin keine einzige neue Idee gehabt, keine neuen Pläne für das Unternehmen geschmiedet. Und die Konkurrenz schlief gerade jetzt nicht und überbot sich gegenseitig mit neuen Produkten, Rabatten, eilfertigen Dienstleistungen, die aus den Kunden sprichwörtliche Könige machten.

Zum ersten Mal kamen Cathrin Zweifel, ob die Fußstapfen, die sie anstrebte, nicht doch zu groß für sie waren.

Ihre Aufgabe im Kontor schien allein darin zu bestehen, das zu überwachen und zu verwalten, was ohnehin schon da war und sicher auch ohne sie gelaufen wäre wie ein gut geöltes Uhrwerk. Wie der Haushalt in der Villa in Hamm, derzeit allein vom Personal bevölkert, wo sie ab und zu nach dem Rechten sah, bevor sie wieder nach Teufelsbrück hinausfuhr; während Katyas Abwesenheit war Cathrin dort die Hausherrin.

Katya war viel verreist seit dem Herbst, mit Marie und Griet. An die raue Küste waren sie hinaufgefahren, nach Helgoland und nach Rügen. Bei Silja in Tromsø hatten sie Weihnachten gefeiert, damit Marie einmal das Polarlicht erleben konnte, und derzeit schipperten sie über den Rhein, um die Burgen und Schlösser dort zu sehen, den Drachenfelsen und das Siebengebirge.

Für Marie mit ihrem grundlegenden Bedürfnis nach Ruhe und Routine alles andere als ein Spaziergang. Was sie jedoch dort an Eindrücken sammelte, schien alle Strapazen mehr als wettzumachen. Cathrin lächelte jedes Mal vor sich hin, wenn sie Katyas Briefe von unterwegs las, von Marie liebevoll mit Reiseansichten illustriert, und das Herz wollte ihr schier überquellen vor Stolz auf ihre tapfere und so begabte Schwester.

Um sich unter der Woche die Fahrten zwischen Teufelsbrück und der Hamburger Innenstadt zu sparen, hätte Cathrin gern eine kleine Wohnung gemietet. Zweifellos war es eine clevere Idee gewesen, Cornelius Overbeck als Vertreter von Petersen & Voronin nach einem geeigneten Objekt für die Juniorchefin in spe suchen zu lassen. Doch auch er bekam ständig die Frage gestellt, ob denn zusammen mit dem Fräulein Petersen eine Mutter oder Tante mit einziehen würde, ein männlicher Verwandter oder wenigstens eine Schwester, eine Freundin. Eine Anstandsperson eben. Ansonsten könne man leider nicht vermieten, nicht an ein alleinstehendes Fräulein, nicht ohne Aufsicht.

Ein vorbeifahrender Wagen rollte mit hoher Geschwindigkeit durch eine ausgedehnte Pfütze. Vor der aufschießenden Fontäne sprang Cathrin zur Seite, um ein Haar in einen jungen Mann hinein.

»Hoppla!«, rief er lachend.

Hübsch war er in seinem feinen Anzug, das glatt rasierte Gesicht unter dem Hut klar gezeichnet und gerade dabei, an eckigen Konturen zu gewinnen. Wie sich seine Miene erhellte, verriet Cathrin, dass sie ihm gefiel.

Einladend hob er seinen Schirm an. »Darf ich Ihnen mein Geleit anbieten, verehrtes Fräulein?«

»Danke, aber ich habe es nicht mehr weit«, antwortete sie knapp.

Cathrins dreißigster Geburtstag stand vor der Tür, spätestens dann würde sie ganz offiziell als alte Jungfer abgestempelt sein. Ein übrig gebliebener Restposten. Ramschware für den Hamburger Heiratsmarkt, sogar mit viel Geld und einem guten Namen im Hintergrund.

Alle Frauen, die Cathrin in ihrem Alter kannte, waren entweder schon verheiratet oder zumindest verlobt. Finja, mit sechsundzwanzig Jahren die älteste Tochter der Reintjes, trat in ein paar Wochen mit Martin Wisser vor den Altar. Ein durch und durch feiner Kerl, blitzgescheit und gut aussehend noch dazu, und mehr als bereit, den Posten im Fischhandel seines Vaters gegen ein Arbeitsleben im Stammhaus von Feinkost Reintjes einzutauschen. Und auch Famke Kopstede, ein gutes Jahr jünger, würde bald in den alteingesessen Tuchhandel Beckmann einheiraten, wo sie zuletzt eine ganze Abteilung von Weißnäherinnen leitete.

Cathrin beneidete die beiden nicht um das Brimborium einer Hochzeit. Noch nicht einmal um den künftigen Status als Ehefrau oder darum, überhaupt einen Mann an ihrer Seite zu haben. Nur das lästige Los der Jungfernschaft hätte Cathrin lieber heute als morgen von sich abgeworfen.

Vorletzten Sommer hatte sie noch Gerrit und Jakob geküsst, und beide waren sie fortgegangen. Das Sehnen nach mehr als nur Küssen zerrte mittlerweile an jeder Faser Cathrins und benebelte zuweilen ihren Verstand. Eine Phantomlust, mit der sie sich selbst überlassen blieb.

Jetzt sah sie die zahlreichen Affären Grischas mit anderen Augen, jetzt verstand sie jene Männer, die für die Erfüllung ihrer Sehnsüchte bezahlten.

Manchmal war sie verlockt, sich eigenmächtig einen Mann dafür zu suchen. In einem Kaffeehaus. Wenn sie auf der Bank oder im Hafen zu tun hatte. Vielleicht sogar auf der Straße. Doch immer, wenn sie einen Herrn sah, der ihr annehmbar schien, störte sie etwas auf den zweiten Blick. Eine zu grobe Nase. Ein fusseliger Bart. Fleischige Hände, ein wenig schöner Mund oder schlicht der Ausdruck in seinen Augen.

Am Ende hatte sie wohl doch nicht die Nerven dafür. Wohl wissend, dass die Welt gerade in dieser Hinsicht bei Männern und Frauen zweierlei Maß anlegte. Besonders, wenn man Cathrin Petersen hieß, auf den Speicherböden auch in langen Röcken seinen Mann stehen musste und Kunden mit Handschlag begrüßte, bevor es ans selbstbewusste Feilschen ging.

Klatsch und Tratsch waren wie Ruß, der sich weithin durch die Luft verteilte, sich überall festsetzte und kaum wieder herauszubekommen war.

Schwungvoll legte sie die letzten Schritte zum Kontor zurück.

Auf den Stufen zum Eingangsportal stand ein Mann, den Hut in der Hand, und hielt nach allen Seiten Ausschau, sein Haar und der Bart glänzend wie Kupfer. Cathrin stockte der Atem. Als sich ihr Blick mit dem Gerrits traf und sich ein Lachen auf seinem Gesicht ausbreitete, begann sie zu laufen.

An der Hand, die er ihr entgegenstreckte, sprang sie die Stufen zu ihm hinauf ins halbwegs Trockene.

»Seit wann bist du wieder in Hamburg?«, sprudelte sie hervor.

»Seit gestern Abend. Ich war eben oben und habe nach dir gefragt. Du müsstest jeden Augenblick zurück sein, hieß es. Und ich wollte lieber hier unten warten als zwischen all den Leuten.«

Dass Gerrit spätestens zur Hochzeit seiner Schwester nach Hause kommen würde, war zu erwarten gewesen, nur ein Datum stand noch nicht fest. Auch Betje hatte noch nichts Genaues gewusst, als Cathrin sie zuletzt danach gefragt hatte.

Kräftig boxte sie ihn gegen den Arm.

»Warum hast du nicht geschrieben, dass du kommst?«

»Das habe ich doch«, wehrte er sich vergnügt. »Aber offensichtlich war mein Schiff schneller als das mit meinem Brief an dich.«

Lachend sahen sie sich an. In einer übermütigen Heiterkeit, die nach und nach zärtlicher Ernsthaftigkeit wich.

Mehr als eineinhalb Jahre hatten sie einander nicht gesehen. Achtundzwanzig Jahre alt war Gerrit jetzt, die Züge von einer entschlosseneren Männlichkeit. Die indische Sonne hatte die allerersten haarfeinen Linien unter seine Augen gestrichelt; eine Art von Reife, die Männer wie ihn noch anziehender machte.

»Gut siehst du aus«, flüsterte Cathrin.

»Wie geht es dir?«, fragte Gerrit behutsam. »Ich meine, zwischen den Zeilen, die du mir geschrieben hast?«

Thilos jäher Tod vor fünf Jahren hatte eine entsetzliche Wunde gerissen, die durch Tristan noch weiter ausgefranst war. Henny in ihrem langsamen Sterben zu begleiten war etwas anderes gewesen. Quälend, ja, aber durch die Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten, auch Trost spendend.

Solange Cathrin zurückdenken konnte, hatte sie sich an ihrer Mutter gerieben wie an einem Schleifstein; jetzt fühlte sie sich ohne klare Form, ohne Konturen. Eine eigentümliche Schwerkraft war von Henny ausgegangen, gegen die Cathrin zeit ihres Lebens anstrampelte. Seit sie nicht mehr da war, war etwas in Cathrin ins Trudeln geraten.

Das Kinn vorgeschoben und die Brauen unruhig, nickte Cathrin vage. Gerrit beließ es bei dieser Antwort, fuhr ihr nur sanft mit dem Daumen über die Wange.

»Ich habe dich vermisst«, murmelte er.

Mit aller Kraft schlang Cathrin die Arme um ihn und wollte auf der Stelle zergehen, als sie spürte, wie er sie an sich drückte.

»Hast du Hunger?«, raunte er an ihrem Ohr.


Die nassen Schuhe mit Zeitungspapier ausgestopft, Rock, Strümpfe und Jacke zum Trocknen über Stuhllehnen gehängt, saß Cathrin in Bluse und Unterrock bei Gerrit in der Küche. Jenseits des Fensters blinzelte schon wieder die Sonne durch die Wolken über dem Binnenhafen.

Leichtfertig und geradezu pflichtvergessen war Cathrin sich vorgekommen, als sie die Bankunterlagen in die Buchhaltung hinaufgebracht und kurz mitgeteilt hatte, sie nehme sich den restlichen Tag frei. Jetzt verschwendete sie keinen weiteren Gedanken daran.

»Was hältst du von dem Tee?«, erkundigte Gerrit sich.

Am Gasherd beobachtete er den Reis beim Quellen und rührte nebenher in mehreren Pfannen, aus denen es verlockend duftete, nach kräftigen Gewürzen und fremden Aromen.

»Blumig«, äußerte sich Cathrin beim nächsten Schluck. »Ich muss an zart duftende Rosen denken. An den Geruch ihrer Laubblätter, grasig und auf frische Art ein bisschen holzig.«

Gerrit lächelte vor sich hin. »Genau dasselbe ging mir auch durch den Kopf. Das ist einer der Tees aus Darjeeling, von denen ich dir geschrieben habe. Viel zu schade, um ihn mit Milch zu verdünnen. Aber das ist den Engländern ja nicht abzugewöhnen.«

Es tat gut, wieder in dieser Wohnung zu sein, die nicht groß war, aber freundlich, mit anheimelnd alten Deckenbalken und Dielen, die Cathrins bloßen Füßen schmeichelten. Offenbar hatte Bertha, die Perle der Reintjes, sich die ganze Zeit über darum gekümmert. Abgesehen von den Seekisten und Paketen, die überall herumstanden, und einem noch nicht ausgepackten Schrankkoffer vor dem Schlafzimmer, war es, als wäre Gerrit niemals fort gewesen.

»Et voilà!«

In einer großen Geste stellte er zwei dampfende Teller mit Reis und verschiedenen Chutneys auf den Tisch und nahm selbst Platz.

Nach dem ersten Mundvoll gab Cathrin einen glücklichen Laut von sich.

»Das schmeckt wie bei Shilpa!«

Gerrit grinste stolz. »Das sind auch ihre Rezepte. Mehr oder weniger zumindest. Ich musste ganz schön tüfteln, bis ich die Zutaten so weit aufeinander abgestimmt hatte, dass sie sich nicht nur in Gläsern lange halten, sondern auch später noch genauso schmecken wie frisch von Shilpa zubereitet.«

Ausführlicher als in seinen Briefen erzählte Gerrit von den harten ersten Monaten in Indien. Besonders für Henning war es schwer gewesen, aus seinem Leben in Hamburg herausgerissen und ans andere Ende der Welt verpflanzt zu werden. In ein vollkommen fremdes Land, in dem man nicht einmal dasselbe Englisch sprach wie dasjenige, das er jahrelang im Altonaer Christianeum gelernt hatte. Der einzige Weiße in seiner Klasse, weil die Engländer es vorzogen, ihre Kinder zur Erziehung und Ausbildung in die alte Heimat zu schicken, mit einem anderen Lehrstoff, einem dichteren Pensum.

Nareesh, nur ein knappes Jahr jünger, war seine Rettung gewesen; heute waren sie die dicksten Freunde, Neela wie eine weitere Schwester für Henning, und Shilpa eine zweite Mutter.

»Shilpa ist einfach großartig«, sagte Gerrit. »Grischa ist ein Narr, dass er eine solche Frau nicht vom Fleck weg geheiratet hat.«

Cathrin lachte. »Es ist nun mal nicht jeder für die Ehe gemacht.«

Eine jähe Stille ergoss sich durch die Küche. Beide dachten sie dasselbe, das konnten sie aus dem Gesicht des anderen herauslesen.

Die eine Frage, die eine Antwort, die sie in ihren Briefen stets gemieden hatten.

Mit einem verlegenen Räuspern stand Gerrit auf und kehrte mit einem Paket zurück.

»Das habe ich dir mitgebracht.«

Cathrin warf ihm einen fragenden Blick zu. Geradezu gewichtslos war dieses Paket in ihren Händen, als sie das braune Papier zurückschlug, schnappte sie überrascht nach Luft.

Vorsichtig entfaltete sie ein zartes Gespinst nach dem anderen und breitete sie über der Handfläche aus. Duftiger und durchscheinender als alles, was Cathrin bisher zu Gesicht bekommen hatte, sowohl hier in Hamburg als auch auf den Basaren von Madras und Bombay oder den souqs von Kairo. Spinnwebzart und von filigranen Mustern durchzogen, nahm sich sogar Brüsseler Spitze grob dagegen aus.

Ein Hauch von nichts. Stoff gewordenes Licht in Weiß und Rosé, hellstem Blau und dem allerersten Grün des Frühlings.

»Musselin aus Bengalen«, erklärte Gerrit. »Aus Dacca. Früher, im vergangenen Jahrhundert, war diese Art von Musselin weltberühmt und besonders in Frankreich begehrt. Bis die Sitten strenger wurden und es als unschicklich galt, solch dünne Stoffe zu tragen. Man erzählt sich auch die Schauergeschichte, dass die Briten allen Musselinwebern Bengalens die Daumen abhackten, um mit ihren eigenen biederen Baumwollstoffen aus Manchester und Birmingham den Markt zu übernehmen. Aber es gibt sie noch, die ein, zwei Werkstätten, die solchen Musselin zu weben verstehen. Und ich weiß jetzt, wo in Dacca sie zu finden sind.«

In Gerrits Küche hielt Cathrin den französischen Ursprung des Wortes Musselin in den Händen, Mousse, und wie Schaum fühlte sich der zarte Stoff auch an.

Cathrin selbst legte keinen Wert auf große Garderobe, alles an Rüschen, Spitzen und Bändern ließ sie aussehen wie Graubrot, das man unter Zuckerguss, Buttercreme und Schlagsahne begrub. Einen Blick für Mode hatte sie gleichwohl, das blieb nicht aus, wenn man in einem Unternehmen mitarbeitete, das seit seiner Gründung mit Stoffen handelte.

Dieser Musselin war wie dafür geschaffen, als Oberstoff eine Abendrobe mit der neuerdings schmaleren Silhouette noch ätherischer wirken zu lassen. In eine üppig geraffte Stola aus diesem Material gehüllt, konnte eine Dame die Abendgesellschaft betreten wie Venus, die dem Meeresschaum entstieg. Unterlegt von weißer Seide oder Satin, würde dieser Musselin aus jeder Braut eine Märchenprinzessin machen, mit einem der gerade so beliebten bodenlangen Schleier, die nicht selten in einer Schleppe ausliefen, und bestimmt begehrten auch die Brautjungfern etwas von diesem zartfarbigen Gewebe für sich selbst.

Eine einzige Hochzeit würde unzählige Meter dieses kostbaren Musselins verschlingen, und die stolzen Eltern würden jeden Preis dafür bezahlen, dass ihr Mädchen am glücklichsten Tag ihres Lebens aussah wie Kaiserin Sisi von Österreich höchstselbst.

Eine Goldgrube hatte Gerrit mit diesem Musselin aufgetan.

»Ich komme nicht mehr zurück, Cathrin«, drang Gerrits Stimme in ihre Gedanken. »Ich werde mich dauerhaft in Bombay niederlassen.«

Cathrin nickte, etwas in der Art hatte sie schon vermutet.

»Nicht nur, weil Henning dortbleiben will«, fuhr er fort. »Ich habe Bradshaw einige Zeit über die Schulter geschaut und mit seiner Hilfe dann meine eigene Firma gegründet. Mit Shilpas Chutneys lässt sich hier eine Menge Geld machen, davon bin ich überzeugt. Vielleicht importiere ich weitere Spezialitäten aus Indien, das wird sich noch herausstellen.«

»Und der Laden in Altona?«

»Finja und Martin haben ihn gut geführt, während ich fort war. Sie werden ihn übernehmen. Zu zweit schaffen sie das, beide Filialen auf einmal. Auch wenn dann Kinder da sind, das ging bei unseren Eltern ja auch.«

Unablässig wanderten Cathrins Finger über die Stoffmuster in ihrem Schoß.

»Die Chutneys und der Musselin, Cathrin. Damit können wir reich werden, du und ich.«

Da waren sie, die neuen Ideen, auf die Cathrin bislang vergeblich gewartet hatte. Die Einmachgläser mit Shilpas Chutneys und der traumhaft schöne und dazu noch rare Musselin aus Dacca. Sie bräuchte nur zuzugreifen und mit in das Boot zu steigen, das Gerrit für sie bereithielt.

Gerrit fasste sie bei der Hand. »Das Einzige, was mir in Bombay fehlt, bist du.«

Sie, Cathrin, hätte diejenige sein sollen, die diesen Musselin entdeckte. Sie hätte nichts lieber getan, als sich im fernen Bengalen auf dessen Spuren zu setzen und ihn dann triumphierend nach Hause zu bringen. Der Neid auf Gerrit, der in ihr aufstieg, schmeckte gallebitter.

Cathrin fragte sich, was mit ihr nicht stimmte, dass sie jeden Mann als Konkurrenten sah. Dass sie sich nie mit weniger zufriedengeben konnte als die Erste, die Beste zu sein.

Gerrits Finger verstärkten ihren Druck, und endlich hob Cathrin den Kopf.

»Was hält dich denn noch hier?«, wollte er wissen.

Загрузка...