13

Fair stand in der Tür und sah so ernst aus wie ein Herzinfarkt. Nor­malerweise hätte Harry mit ihm geschimpft, weil sie es überhaupt nicht mochte, wenn er bei ihr hereinschneite, ohne vorher anzurufen. Manchmal vergaß er, daß sie nicht mehr verheiratet waren, eine in­teressante Wendung, denn als sie verheiratet waren, hatte er auch das manchmal vergessen.

Als sie seine blassen Lippen sah, blieb ihr der Protest im Halse stecken.

»Daddy!« Tucker huschte herbei, um Fair mit Liebe zu überschüt­ten.

»Schleimscheißerin.« Mrs. Murphy kehrte ihm den Rücken zu, und ihre Schwanzspitze zuckte. Sie hatte Fair gern, aber nicht so sehr, daß sie sich zum Narren machte, indem sie zu seiner Begrüßung eilte. Auch fühlte Murphy, die selbst einst unter einem Schwerenöter von Gatten zu leiden gehabt hatte, dem hübschen schwarzweißen Paddy, von ganzem Herzen mit Harry.

»Mach die Tür zu, Fair. Es ist kalt.«

»Das kann man wohl sagen.« Er schloß leise die Tür hinter sich, zog sein dickes grünkariertes Arbeitshemd aus und hängte es an ei­nen Haken bei der Tür.

»Bei mir gibt's heute abend nur Käse und Cracker, weil ich seit Wochen nicht im Supermarkt war. Du kannst gern was abhaben.«

»Kein Appetit. Hast du 'n Bier?«

»Klar.« Sie holte eine kalte Flasche Sol aus dem Kühlschrank, öff­nete sie, nahm ein Henkelglas und gab es ihm, worauf er ins Wohn­zimmer ging. Er ließ sich in den prall gepolsterten Sessel fallen, ein Überbleibsel aus den vierziger Jahren. Harrys Mutter hatte ihn bei einem Ramschverkauf erstanden. Er war so oft neu bezogen worden, daß von dem ursprünglichen Muster, goldene Sterne auf schiefer­grauem Grund, nur an den Ecken noch Reste übrig waren, wo die Polsternägel vereinzelte Originalfäden festhielten. Das letzte Mal war der Bezug vor sieben Jahren erneuert worden. Mrs. Murphy hatte mit ihren Krallen das Holz unter dem Stoff freigelegt, weshalb man auch die Polsternägel sehen konnte. Die stete Ausübung ihres kätzischen Zerstörungswillens zwang Harry, den Sessel mit einem Überwurf zu bedecken. Nachdem sie sich daran gewöhnt hatte, gefiel ihr die dunkelgrüne, gold eingefaßte Decke ganz gut, die einst dazu gedient hatte, bei bitterer Kälte die Hinterhand von Pferden warm zu halten.

»Was verschafft mir das Vergnügen?«

Fair tat einen langen Zug aus der Flasche. »Man ermittelt gegen mich.«

»Wegen der Ermordung von Nigel Danforth?« platzte Harry her­aus.

»Nein - wegen Pferdedoping. Mickey Townsend ist zu Mim gefah­ren, um es ihr zu sagen, und Mim hat es mir gesagt, und natürlich hat Colbert Mason vom Verband es bestätigt. Er hat freundlicherweise gesagt, daß niemand es glaubte, aber er müsse der Sache pro forma nachgehen.«

»Hat dich jemand formell beschuldigt?«

»Noch nicht.«

»Das ist ja totaler Hirnriß!«

»Ganz meine Meinung.« Die tiefen Falten um seine hellen Augen unterstrichen seine männliche Erscheinung. Er rieb sich die Stirn. »Wer mag so was nur tun?«

»Wer immer dir sagt, daß er es nie tun würde«, bemerkte Harry. »Wer hat etwas davon, dir das anzutun? Ein anderer Tierarzt?«

»Harry, du kennst die anderen Pferdeärzte so gut wie ich. Keiner von ihnen würde so tief sinken. Außerdem arbeiten wir zusammen.«

Murphy schleppte ihre kleine Spielmaus herein, die mit Kaninchen­fell bezogen war, eine von ihren Lieblingsspielsachen. Sie hoffte, Harry dazu verleiten zu können, sie zu werfen, damit sie ihr nachja­gen konnte. Sie sprang auf die Armlehne des Sessels und ließ die Maus in Harrys Schoß fallen.

»Murphy, geh, fang dir eine richtige.«

»Ich hab dieses Haus von Mäusen befreit. Ich bin die Mäusefän­germeisterin«, prahlte sie.

»Ha!« Tucker zwängte sich auf Harrys Fuß.

»Du könntest ja nicht mal 'ne Maus fangen, wenn dein Leben da­von abhinge.«

»Und du könntest keine Kühe hüten, wenn dein Leben davon ab­hinge. So, da hast du's.«

Harry warf die Maus über die Schulter, und die Katze sprang vom Sessel, stürmte durchs Zimmer, schlitterte an der Maus vorbei, weil sie zu spät abgebremst hatte, stieß mit dem Hinterteil gegen die Wand, fuhr herum, zog die Pfoten an und hieb auf die Maus ein.

»Tod dem Geschmeiß!« Sie warf die Maus über ihren Kopf. Sie schlug sie mit ihren Pfoten. Sie warf sie im hohen Bogen in die Luft und fing sie im Herunterfallen.

»Möchtest du nicht einmal auch so sein?« Harry bewunderte Mrs. Murphys hemmungslose Wildheit.

»Freiheit.« Fair lachte, als die Tigerkatze, die Spielmaus im Maul, über die Corgihündin sprang.

»Ich hasse es, wenn du das machst«, knurrte Tucker.

Mrs. Murphy sagte nichts, weil sie ihre Maus nicht fallen lassen wollte, deshalb machte sie kehrt und übersprang Tucker von der anderen Seite. Tucker legte sich flach auf den Teppich, die Ohren angelegt.

»Angeberin.«

Die Katze achtete nicht auf sie, sondern raste ins Schlafzimmer, um die Maus hinter den Kissen verstecken und dann darunter kriechen zu können, um den Feind aufs neue zu vernichten.

Harry kam auf das Thema zurück. »Erinnerst du dich an die Bücher über Kriegsphilosophie, die du früher gelesen hast? Eines war>Die Kunst des Krieges< von>Sunzi<. Eine Passage darin lautetFeuer auf der Ostseite, Angriff vom Western. Vielleicht wird so was mit dir gespielt.«

»Du hast diese Bücher genauer gelesen als ich.«

»Von Clausewitz fand ich am besten.« Sie setzte sich in den Schneidersitz. »Niemand, der dich kennt, niemand, der dich bei der Arbeit an einem Pferd beobachtet hat, kann jemals glauben, daß du Pferden aus Gewinnsucht Medikamente gibst. Weil diese Beschwer­de aus Rennbahnkreisen kommt, muß sie sich nicht unbedingt auf den Mord beziehen, aber es lenkt die Leute schon auf eine falsche Spur, läßt sie den Blick sozusagen nach Osten wenden.«

»Ja - man wird Zeit mit mir verschwenden«, murmelte er.

»Wie gesagt,Feuer auf der Ostseite, Angriff vom Westen<.« Sie hielt inne. »Hast du Nigel gekannt?«

»Er hat nicht viel geredet, wir haben uns meist bloß zugenickt.« Er schwenkte sein Bein über eine Armlehne des Sessels. »Möchtest du ins Kino gehen?«

»Nee. Ich streiche heute abend das Badezimmer. Ich kann es keine Minute länger ertragen.«

»Du arbeitest zuviel.«

»Das mußt du gerade sagen.«

»Kommt denn keiner hier rein und spielt mit mir?« rief Murphy aus dem Schlafzimmer und warf um der theatralischen Wirkung willen ein Kissen auf den Fußboden.

»Sie ist heute abend sehr gesprächig.« Fair trank sein Bier aus. »Bring mir dein Mäuschen.«

Zu beobachten, wie ein fast 1,95 Meter großes Kraftpaket von ei­nem Mann eine Katze bittet, ihm ihr Mäuschen zu bringen, mutete Harry keineswegs seltsam an. Sie und Fair waren beide so auf Tiere eingestellt, daß das Sprechen mit ihnen so natürlich war wie das Sprechen mit Menschen. Im allgemeinen führte es zu besseren Re­sultaten.

Murphy kam aus dem Schlafzimmer geschossen, die Maus wieder im Maul, und ließ das kleine graue Spielzeug auf Fairs Stiefel fallen.

»So einekostbare Maus. Murphy, du bist eine große Jägerin. Du mußt unbedingt auf Safari gehen.« Er warf die Maus in die Küche, und Murphy raste davon.

»Du verwöhnst sie.« Tucker ließ den Kopf auf die Pfoten sinken.

»Miranda und ich wollten eigentlich in der Mittagspause zu Mim, um uns umzuhorchen wegen des Gerüchts, daß Nigel im sechsten Rennen - oder war es das fünfte? - gegen sich selbst gewettet hat.« Sie zuckte die Achseln. »Allerdings, über Linda Forloines kursierte dasselbe Gerücht.«

»Die tausend Dollar?«

»Nehme an, es hat sich rumgesprochen.«

»Ja. Warum seid ihr nicht hingegangen?«

»Larry hat uns erst spät abgelöst. Miranda bekam einen Anruf von ihrer Kirchengruppe, irgendwelche Probleme mit dem Liederfestival, und da bin ich in die Pizzeria gegangen. Es ist sinnlos, Gerüchten hinterherzulaufen, und deswegen kann ich nicht glauben, daß Colbert Mason sich mit dem, was dich betrifft, überhaupt abgibt. Na ja, ich nehme an, er muß der Sache nachgehen.«

»Du hast die Menschen immer besser verstanden als ich. Ich bin nicht bloß Tierarzt, weil ich Tiere liebe. Im tiefsten Innern mag ich die Menschen wohl nicht besonders - oder vielleicht mag ich nur ein paar Auserwählte wie dich.«

»Fang nicht schon wieder damit an«, erwiderte Harry rasch.

»Mom, sei nicht so streng mit ihm.« Mrs. Murphy deponierte ihre Maus neben ihrer Futterschüssel.

»Ja, Mom«, fiel Tucker ein.

»Ich fang nicht damit an.« Er seufzte. »Du weißt, ich habe bereut. Ich hab's dir gesagt. Ich bin dabei, mich zu ändern. Himmel, viel­leicht werde ich sogar erwachsen.«

»Mutter hat immer gesagt, Männer werden nicht erwachsen, sie werden alt. Eigentlich dachte ich, Dad sei ein reifer Mann, aber eine Tochter sieht einen Mann ja nicht so wie eine Ehefrau.«

»Willst du mir damit sagen, ich kann nicht erwachsen werden?«

»Nein.« Sie löste die gekreuzten Beine und beugte sich vor. »Ich kann mit solchen Themen nicht gut umgehen. Im allgemeinen be­hauptet man, daß Frauen über Gefühle sprechen können und Männer nicht. Ich sehe nicht, daß ich das gut könnte, und ich sehe keinen Grund, es zu lernen. Ich weiß schließlich, was ich fühle. Ob ich das ausdrücken kann oder will, ist meine Sache, oder? Jedenfalls, Gefüh­le sind wie Quecksilber, rauf, runter, und wenn du das Thermometer zerbrichst, läuft das Zeug raus. Puff.«

»Mary Minor, sei nicht so widerborstig. Ein bißchen Innenschau kann nicht schaden.«

»Nicht schon wieder die Therapieschiene!« Sie hob die Hände.

Er ging nicht auf die Bemerkung ein. »Zuerst wollte ich ja nicht dahin, aber ich hatte mein Leben so durcheinandergebracht, daß mir nur die eine Wahl blieb: hingehen oder einen Pistolenlauf in den Mund stecken.« Er hielt inne. »Eigentlich freu ich mich auf die Sit­zungen. Ich nehme an einem Collegekurs teil, und das Thema bin ich. Das bedeutet vermutlich, daß ich selbstsüchtig bin.« Er lächelte gequält.

»Worauf es ankommt, daß es für dich eine - « sie suchte nach dem richtigen Wort - »Bereicherung ist. Du bist offen dafür und hast eine Menge davon. Ich nicht. Ich bin verschlossen. Das ist nicht mein Ding.«

»Was ist dein Ding?«

»Harte Arbeit. Warum fragst du, was du eh schon weißt?«

»Ich wollte es von dir hören.« »Du hast mich gehört.«

»Harry, es ist in Ordnung, seine Gefühle mitzuteilen.«

»Verdammt noch mal, das weiß ich. Es ist auch in Ordnung, sie nicht mitzuteilen. Wozu ist es gut, Fair? Und wo ist die Grenze zwi­schen mitteilen und jammern?«

»Jammere ich?«

»Nein.«

Sie saßen und schwiegen. Mrs. Murphy kam hereingetappt, ihre Maus ließ sie bei der Futterschüssel zurück.

»Geh mit ihm ins Kino, Mom«, empfahl Tucker.

»Ja«, fiel Murphy ein.

»Du weißt, wenn es eine Möglichkeit gibt, wie ich dir bei diesen Ermittlungen helfen kann, dann tu ich's.«

»Ich weiß.« Er saß und wartete darauf, zum Bleiben aufgefordert zu werden, und wußte doch, daß sie ihn nicht bitten würde. Schließ­lich stand er auf, warf die Bierflasche in den Abfall und nahm sein Hemd vom Haken. »Danke fürs Zuhören.«

Sie ging mit ihm in die Küche. »Es wird sich alles einrenken. Es ist Zeitverschwendung, aber tanz eine Weile nach ihrer Pfeife.«

»Als würde ich für mein Essen singen? Weißt du noch, als ich ganz am Anfang war, wie Mim mich hier und da im Stall arbeiten ließ und mich dann verköstigt hat? Ist schon komisch mit Mim. Sie ist her­risch und snobistisch, aber im Grunde ist sie eine gute Seele. Die meisten Menschen sehen das nur nicht.«

»Ich erinnere mich bloß, daß Little Marilyns erster Mann dir auf den Keks gegangen ist.«

»Dieser Kerl.« Fair schüttelte den Kopf. »Ich war froh, als sie ihn los war, obwohl es bestimmt schwer für sie war. Das ist es immer, wirklich. Bist du froh, mich los zu sein?«

»Einen Tag ja, einen Tag nein.«

»Und heute?«

»Egal.«

Er öffnete die Küchentür und ging. »Tschüs. Danke für das Bier«, rief er.

»Ja.« Sie winkte zum Abschied und fühlte im Herzen einen Phan­tomschmerz gleich dem in einem amputierten Glied.

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