28

Zähneknirschend öffnete Addie im Beisein von fünf Personen ihren Safe in der Crozet National Bank. Rick Shaw und der Präsident der Bank, Dennis Washington, starrten auf das in braunes Papier gewickelte Päckchen. Indem sie den Safe am Abend öffneten, mieden sie den stetigen Publikumsverkehr und verminderten so das Risiko, daß jemand Wind von Addies Eskapade bekam.

»Ich weiß nicht, warum ihr alle hier sein müßt«, schmollte Addie. Arthur stand neben Dennis. Chark lehnte mit verschränkten Armen an einer Wand mit Bankfächern aus rostfreiem Stahl.

Cynthia Cooper hielt den kleinen Messingschlüssel in der Hand. Sie würde ihn Addie nicht zurückgeben. »Arthur ist Ihr Vormund bis zum 14. November, Mitternacht. Und ich möchte annehmen, Sie sind froh, daß Ihr Bruder hier ist.«

»Ich bin nicht froh.«

Rick hatte bis zur letzten Minute gewartet, um Charles und Arthur einzuweihen; denn er fürchtete, je früher er sie informierte, desto eher würden sie die Nachricht durchsickern lassen. Das könnte ge­fährlich sein.

Addies junges Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Man wird mir für den Rest meines Lebens meine miese Menschenkenntnis aufs But­terbrot schmieren.« Sie drehte sich zu Arthur um. »Und ich wette, du findest einen Weg, deine Treuhänderschaft zu verlängern,wieder mit Hilfe meineslieben Bruders!«

»Du stehst unter Druck«, sagte Arthur in besonnenem Ton. »Du hast eine enorme Dummheit begangen. Was dein Geld angeht, wird dem Wunsch deiner Mutter wortwörtlich entsprochen.«

»Das glaub ich nicht. Du denkst doch, ich bin blöd in Sachen Geld.«

Arthur machte den Mund auf und wieder zu. Addie, von hitzigem Temperament wie ihre Mutter, wollte sich nichts von ihm sagen las­sen.

»Schwesterherz, ich sollte dir für diese Glanznummer den Hals umdrehen«, sagte Chark mit zusammengebissenen Zähnen, während Cynthia Cooper in den Safe griff und das eingewickelte Kilo heraus­nahm.

»Es war nicht, wie du denkst. Nigel hat es gekauft, um seine Schulden bei Mickey zu bezahlen.«

»Das hier geht weit über Schulden bei Mickey Townsend hinaus«, erwiderte Rick. »Dies ist sehr viel Geld, das buchstäblich auf der Straße liegt.«

»Er hat dich ausgenutzt!« brüllte Chark.

»Er hat mich nicht ausgenutzt.«

»Man soll die Toten in Frieden ruhen lassen.« Arthur hob die Hän­de, um dem Streit ein Ende zu machen. »Was immer er vorhatte, wir werden es nie erfahren.«

Rick machte Cynthia ein Zeichen, den Safe abzuschließen.

»Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen.« Rick kniff die Augen zusam­men. »Und Addie, wenn Sie noch etwas zurückhalten, raus damit.« Sie funkelte ihn böse an, und er fuhr fort: »Es gibt keinen Nigel Dan­forth.«

»Was soll das heißen?« Angst flammte in ihrem Gesicht auf, wäh­rend sich in Charks und Arthurs Zügen Verwirrung spiegelte.

»Das soll heißen, eine solche Person ist in England nicht registriert. Und es gibt hierzulande keine Arbeitserlaubnis, die auf jemanden dieses Namens ausgestellt ist. Unsere einzige Hoffnung sind seine Zahnbefunde. Wir haben sie per Computer an jede Polizeistation geschickt, die wir erreichen können, hier und in England. Eine unsi­chere Sache. Seine Fingerabdrücke sind weder in den USA noch in England registriert.«

Addie sackte ab wie ein Stein. »Ich verstehe überhaupt nichts.«

Chark fing seine Schwester auf und setzte sie sanft auf einen Stuhl. »Er hat sogar noch mehr gelogen, alsich dachte«, sagte er.

Sie stützte den Kopf in die Hände und schluchzte. »Aber ich habe ihn geliebt. Warum sollte er mich anlügen?«

Arthur legte ihr seine Hand auf die Schulter. »Sheriff, könnte er vielleicht aus einer britischen Kolonie stammen - oder einer franzö­sischen Kolonie?«

»Daran hat Coop auch gedacht. Wir können nichts finden. Wir wis­sen nicht, wer dieser Mann war, woher er kam, oder sein genaues Alter. Wir wissen nur, daß er Addie ein Kilo Kokain zur Aufbewah­rung gegeben und ihr erzählt hat, er hätte es Linda Forloines abge­kauft.«

»Schnappen Sie die beiden.« wimmerte Addie.

»Wir wollten sie gestern verhaften. Sie sind weg.« Verlegen sah Rick die Bestürzung in ihren Gesichtern.

»Steht meine Schwester - « Chark bekam die Worte kaum heraus - »unter Arrest?«

»Nein. Zumindest noch nicht«, sagte Rick.

»Also hören Sie, Shaw.« Arthur richtete sich kerzengerade auf. »Sie war ein dummes Mädchen, aber manch eine Frau hat sich von einem Mann in die Irre führen lassen. Sie ist keine Drogendealerin. Sie nimmt auch nichts mehr.«

Unter Tränen, die ihr über die Wangen liefen, würgte Addie zit­ternd hervor: »Also äh, manchmal.«

»Dann werden dein Bruder und ich dich in eine Klinik bringen.« Arthurs Ton duldete keinen Widerspruch.

»Und was wird aus Camden? Außerdem, ich nehm ja bloß ein biß­chen zum Feiern. Ehrlich. Ich bin nicht süchtig oder so was. Ihr könnt mein Blut untersuchen.«

»Das machen wir unter uns ab.« Arthur übernahm das Kommando. »Sheriff, hat Adelia die Erlaubnis, in Camden zu reiten?«

»Ja, aber - « er sah Adelia fest an - »versuchen Sie keine Dumm­heiten - etwa abzuhauen.«

»Glauben Sie, daß Will und Linda dort aufkreuzen?« fragte Chark.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Rick.

»Die sind längst nicht mehr im Land.« Addie wischte sich die roten Augen. »Linda hat immer gesagt, sie will noch ein letztes großes Ding drehen.«

»Warum hat sie das nicht schon vor langer Zeit gemacht?« Arthurs Ton war streng.

»Weil sie selbst Drogen nahm. Sie sagte aber, sie wäre jetzt clean. Es ginge bloß noch ums Geschäft. Sie wollte einen Coup landen. Und dann nichts wie weg hier.« Addie ließ den Kopf wieder auf die Hände sinken.

»So etwas kommt in Rennbahnkreisen häufig vor, nicht?« Cynthia kritzelte Notizen in ihr Buch.

Addie zuckte die Achseln. »Das geht auf und ab. Ich glaube nicht, daß es auf der Rennbahn mehr Drogenmißbrauch gibt als in großen Betrieben.«

»In diesem Fall hat Amerika ein Problem«, sagte Chark.

»Mit Amerika befassen wir uns morgen.« Arthur lächelte verknif­fen. »Im Moment ist es mir wichtiger, diese junge Dame wieder auf die rechte Bahn zu bringen. Sheriff, brauchen Sie uns heute abend noch?«

»Nein«, sagte Rick. »Sie können gehen.«

Als Rick und Cynthia später im Begriff waren, in den Streifenwa­gen zu steigen, fragte sie ihn »Glauben Sie, sie sagt die Wahrheit? Daß sie wirklich nichts über Nigel wußte?«

»Was sagt Ihnen Ihr Instinkt?«

Cynthia lehnte sich gegen die Wagentür. Die Nacht, kristallklar und kalt, war schön. »Sie wußte nichts.«

»Was noch?« Er bot ihr eine Zigarette an, und sie nahm sie.

Cynthia senkte den Kopf, um sich Feuer geben zu lassen, und machte einen Zug. Sie blickte hoch und bemerkte, wie vollkommen die Sterne glänzten. »Rick, es ist noch lange nicht vorbei.«

Er nickte, und schweigend rauchten sie ihre Zigaretten zu Ende.

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