22

Der Regen ergoß sich in silbernen Schnüren über die Windschutz­scheibe. Harry konnte kaum sehen, als sie zur Arbeit fuhr. Die Scheibenwischer schwirrten hin und her und gestatteten kurze Blicke auf die Straße, die sie zum Glück gut kannte.

Mrs. Murphy, aufmerksam die Pfoten am Armaturenbrett, half Har­ry beim Fahren. Tucker schaffte es nicht ganz, die Hinterbeine auf der Sitzbank abzustützen und mit den Vorderpfoten das Armaturen­brett zu erreichen.

»Große Pfütze voraus«, warnte die Katze.

Harry nahm das Tempo herunter, wunderte sich über die Ge­schwätzigkeit ihrer Tigerkatze.

»Mom, ein gestrandeter Wagen voraus.« Mrs. Murphy grub die Krallen in das Armaturenbrett.

Mickey Townsends schöner silberner BMW stand am Straßenrand, die rechten Räder in einem Abflußgraben, der von einem Rinnsal zu einem reißenden Strom angeschwollen war.

Harry hielt an und schaltete den Blinker ein, weil die Warnblinkan­lage des alten Transporters die Neigung hatte durchzubrennen. Was natürlich nicht so ärgerlich war wie der Schalthebel, der jedesmal klemmte, wenn sie den dritten Gang einlegen wollte. Das Beifahrer­fenster sah aus, als ob der Niagara sich darüber ergösse. Sie konnte absolut nichts sehen.

»Verdammt.« Sie stellte sich vor das gestrandete Fahrzeug, sorg­sam darauf bedacht, nicht dasselbe Schicksal zu erleiden. »Kinder, ihr bleibt hier.«

»Geh nicht da raus«, sagte Mrs. Murphy.»Du holst dir den Tod durch Erkältung.«

»Hör auf zu jammern, Murphy. Du bleibst hier drin. Das ist mein Ernst.«

Sie packte sich den alten Cowboyhut ihres Vaters so auf den Kopf, daß das Wasser von der Vorder- und Rückseite des Hutes abgeleitet wurde. Sie hatte nie etwas Besseres gefunden, um den Regen von ihrem Gesicht fernzuhalten. Sie trug außerdem ihren Barbourmantel, dunkelgrün und mit Schlamm gesprenkelt, sowie ihre hohen Gummi­stiefel. Die würden sie trocken halten.

Sie stieg aus, schloß rasch die Tür und betete, daß niemand um die Kurve schlittern möge, wie es anscheinend Mickey Townsend pas­siert war. Sie hielt die Hand über die Augen und spähte zum Fahrer­sitz hinein. Nichts. Sie ging auf die andere Seite, um sich zu verge­wissern, ob er sich nicht außerhalb seines Wagens vornüber beugte und überlegte, wie er sich aus diesem Schlamassel befreien könne. Er war nicht da.

Sie kletterte wieder in den Transporter, schaltete das Blinklicht aus und fuhr weiter. Bis sie, Mrs. Murphy und Tucker unter ihren Bar­bour geklemmt, zur Hintertür hereinkam, hatte Mrs. Hogendobber schon einen Postsack sortiert.

»Miranda, tut mir leid, daß ich mich verspätet habe. Ich konnte nicht schneller als vierzig fahren, die Sicht war so miserabel.«

»Machen Sie sich deswegen mal keine Gedanken«, erwiderte Mrs. Hogendobber munter. »Das Wasser für den Tee ist bereit, und ich habe gestern abend Hafermuffins und noch einen Schwung glasierte Doughnuts gebacken. Ich kann gar nicht genug Doughnuts für Mar­ket backen. Um zehn Uhr ist er ausverkauft.«

»Oh, danke.« Harry zog erleichtert ihren Regenmantel aus, und Mrs. Murphy und Tucker schüttelten die wenigen Wassertropfen ab, die sie abbekommen hatten. Harry hängte ihren Mantel an den Gar­derobenständer am Hintereingang und schenkte sich eine Tasse Tee ein. »Ich würde sterben ohne Tee.«

»Das bezweifle ich, aber Sie wären morgens gewiß ziemlich gries­grämig.« Miranda schenkte sich eine zweite Tasse ein.

»Oh, ich muß Rick anrufen.« Harry nahm die dampfende Tasse mit zum Telefon.

»Was gibt's denn?«

»Mickey Townsends BMW ist bei Harper's Curve gestrandet.« Sie wählte die Nummer.

»Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Im Moment ist alles so - ver­dreht.«

Harry nickte. »Sheriff Shaw bitte, hier spricht Mary Minor Hari­steen.« Sie wartete eine Minute. »Hi, Sheriff, Mickey Townsends BMW ist mit zwei Rädern bei Harper's Curve in einen Graben ge­rutscht. Ich bin ausgestiegen und habe reingeguckt, er ist leer.«

»Danke, Harry. Ich schicke jemanden hin, sobald es hier ein biß­chen ruhiger zugeht. An einem Tag wie heute gibt's einen Blechschaden nach dem anderen.« Er hielt einen Moment inne. »Sagten Sie, Mickey Townsends Wagen?«

»Hmm - ja.«

Seine Stimme klang angespannt. »Danke. Ich kümmere mich sofort darum. Die Kurve kann übel sein.«

Es knackte in der Leitung, und Harry legte den Hörer zurück auf die Gabel.

»Und?«

»Zuerst schien er nicht weiter besorgt, aber jetzt schickt er sofort jemanden hin.«

»Gestern abend bei der Chorprobe hat Ysabel Yadkin geschworen, daß Mickey in eine große Glücksspielchose verwickelt ist und daß Nigel Danforth ihm Unmengen Geld schuldet. Ich habe sie gefragt, wann sie das letzte Mal bei einem Hindernisrennen war, und da hat sie mir vielleicht einen scheelen Blick zugeworfen, das kann ich Ihnen flüstern.>Nun, Ysabel<, habe ich gesagt,>wenn du Geschichten verbreitest, solltest du die Leute wenigstens kennen, über die du re­dest.< Sie hat gekocht. Und nach der Probe kam sie zu mir und er­klärte, ich sei blasiert, weil ich mit Pferdeleuten befreundet sei. Ihr Albert kennt Mickey Townsend, weil er seinen teuren Wagen war­tet.«

»Seit wann wartet Albert BMWs?«

Mrs. Hogendobber leerte ihre Tasse und machte sich an den zwei­ten Postsack. »Seit die ihm mehr Geld geboten haben als Mercedes.«

»Mrs. H. setzen Sie sich, Sie haben den ersten Sack ganz allein sor­tiert. Ich sortiere den hier.«

»Müßigkeit ist aller Laster Anfang. Ich mach's gern.«

Gemeinsam kippten sie den Sack in den Postkarren, und just in die­sem Moment kam Boom Boom Craycroft zum Vordereingang her­eingetänzelt. Es war Punkt acht Uhr.

»Was für ein Morgen, und die Temperatur sinkt. Hoffentlich gibt es keinen Eisregen.«

»Wir sind ein bißchen im Rückstand, Boom Boom, durch meine Schuld.«

»Ich kann helfen.«

»O nein, bemüh dich nicht«, sagte Harry, die wußte, daß Boom Booms Vorstellung von helfen darin bestand, fünf Minuten zu sortie­ren und dann einen Anfall wegen der Ausdünstungen zu markieren. »Willst du nicht ein paar Besorgungen machen und in etwa einer halben Stunde wiederkommen?«

»Könnte ich machen.« Sie nahm ihren Regenschirm aus dem Stän­der, in den sie ihn gesteckt hatte. »Ist das nicht schrecklich mit Coty Lamont?«

Bevor sie den Satz vollständig ausgesprochen hatte, stieß der völlig durchnäßte Mickey Townsend die Tür auf und sackte gegen die Wand.

»Mickey, fehlt Ihnen was?« Boom Boom streckte die Hand nach ihm aus.

»Nein, Gott sei Dank.« Er fing an zu zittern, er war völlig durchge­froren.

»Kommen Sie nach hinten.« Miranda hielt die Trennklappe hoch. »Sie brauchen was Heißes zu trinken. Ich laufe nach Hause und hole ein paar von Georges Sachen. Die werden Ihnen zu groß sein, aber sie sind wenigstens trocken.«

»Oh, Mrs. Hogendobber, eine Tasse Kaffee bringt mich schon wie­der auf Trab.« Seine klappernden Zähne straften seine Worte Lügen.

»Sie bleiben jetzt hier«, befahl Miranda, während Harry ihm eine Tasse Pulverkaffee machte.

»Zucker und Sahne?« Harry öffnete den winzigen Kühlschrank, um die Sahne herauszuholen.

»Zwei Stück Zucker und einen Schuß Sahne.« Er nahm die Tasse, legte beide Hände darum und bemühte sich vergeblich, mit dem Zit­tern aufzuhören.

Boom Boom trat zu ihnen, während Mickey den ganzen Fußboden naß tropfte.

»Er ist kreidebleich«, bemerkte Tucker.

»Ich habe bei Ihrem Wagen angehalten.« Harry warf ihm ihre Jacke über die Schultern.

»Wann war das?«

»Vor fünfzehn, zwanzig Minuten.«

»Dann haben Sie mich knapp verpaßt.« Seine Zähne schlugen an den Tassenrand. »Ich konnte kein Haus finden. Ich bin dort ins Korn­feld gelaufen, aber dann wurde mir klar, daß ich wieder auf die Stra­ße mußte, weil ich nichts sehen konnte und mich verlaufen würde. Ich meine, ich kenne die Gegend, aber ich konnte die Hand vor Au­gen nicht sehen, und ich war.« Er nahm ein paar Schlucke von dem warmen Kaffee. »Gott, tut das gut.«

Miranda stieß die Hintertür auf, drehte sich um und schüttelte ihren Regenschirm vor der Tür aus, die sie dann schloß, weil der Wind den Regen ins Postamt blies. Eine Einkaufstasche mit Kleidungsstücken hing an ihrem Arm. »Sie gehen jetzt auf die Toilette und trocknen sich ab. Hier ist ein großes Handtuch. Und dann ziehen Sie diese Sachen an.«

Mickey tat wie geheißen und kam schließlich in einer Hose mit umgekrempelten Aufschlägen heraus, die Ärmel von Georges altem Marinepullover hatte er ebenfalls umgeschlagen, aber ihm war we­nigstens warm.

»Mrs. Hogendobber wirft nie etwas weg.« Mrs. Murphy lachte. »Ich nehme an, das ist gut so.«

Mickey aß einen glasierten Doughnut und fuhr mit seiner Ge­schichte fort: »Ich fand die Straße wieder und wußte, wenn ich in die Stadt gelangen könnte, Sie würden früh im Postamt sein. Ach ja, ich muß einen Abschleppdienst anrufen.«

»Ich habe schon Rick Shaw angerufen.«

»Warum das denn?«

»Ich wußte nicht, wo Sie waren oder ob Ihnen was passiert ist - so, wie die Dinge stehen«, sagte Harry geradeheraus. »Darum habe ich ihn angerufen.«

»Na, um mich macht er sich bestimmt keine Sorgen. Er behandelt mich wie den Hauptverdächtigen.«

»Am Telefon klang er aber ziemlich besorgt«, erklärte Harry.

»So - hm.« Mickey sackte einen Moment zusammen, dann straffte er seinen Rücken. »Ich bin wohl selbst ein bißchen besorgt.«

»Alle sind besorgt.« Boom Boom knabberte ein Hafermuffin.

»Ich kenne die Straße wie meine Westentasche. Jemand kam von hinten angeschossen und hat mich von der Straße gedrängt.«

»Die Leute achten einfach nicht auf das Wetter. « Miranda schick­te sich an, eine Schmährede gegen das unmögliche Fahrverhalten der jüngeren Generation - womit sie alle meinte, die jünger waren als sie selbst - vom Stapel zu lassen.

Mickey fiel ihr ins Wort: »Nein, wer immer das war, wollte mich von der Straße abdrängen - oder Schlimmeres.«

»Was?« Boom Boom hielt mitten im Abbeißen inne.

»Sie haben mich von hinten gestoßen und sind dann neben mich gefahren und haben mich von der Straße geschoben. Wären wir zwanzig Meter weiter gewesen, wäre es ein steiler Sturz geworden, das kann ich Ihnen sagen.«

»Konnten Sie sehen, wer es war?« fragte Harry.

»Himmel, nein, bei diesem Regen. Es war eine Protzkarre, kann ich Ihnen sagen. Ich bin mir nicht mal sicher, welche Farbe, obwohl ich glaube, ich habe was Schwarzes oder Dunkelblaues aufblitzen sehen. Vielleicht ein General-Motors-Transporter, aber ich weiß es nicht. Es ging so schnell.«

»Warum fragen sie ihn nicht, was er überhaupt da auf der Straße gemacht hat?« Mrs. Murphy rieb sich an Tucker.

»Zu höflich.« Tucker hatte es gern, wenn die Katze sich an ihr rieb.

»Jetzt ist nicht die Zeit, höflich zu sein. Und außerdem glaub ich ihm nicht.«

»Du glaubst nicht, daß er von der Straße abgedrängt wurde?«

»Das glaube ich.« Die Schnurrhaare der Katze berührten Tuckers Nase und kitzelten sie.»Aber er verbirgt etwas.«

»Vielleicht weiß er, was in Orions Box ist?«

»Tucker, davon weiß ich nichts. Ich glaube nicht, daß wir die Men­schen je dazu kriegen, tief genug zu graben, und Orion kann nicht helfen. Er wurde in eine andere Box verlegt, erinnerst du dich?«

»Ja. Und was ist nun mit Mickey Townsend?«

»Du kannst Angst genauso riechen wie ich.«

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