Ein gutes Rennpferd, genau wie ein guter Mensch, entsteht durch ein mühsames Zusammenspiel von Disziplin, Talent, Glück und Mut. Die besten Stammbäume der Welt allein bringen keinen Sieger hervor, wenngleich sie die Chancen erhöhen mögen.
Vollblüter, die eine Spur zu langsam sind für die Flachrennbahn, finden ihren Weg in die Hindernisrennställe der Ostküste. Hindernispferde, die viel mehr Ausdauer benötigen als ihre Brüder, die Flachrennen bestreiten, verblüffen die Pferdewelt. So manches erfolgreiche Hindernispferd wurde später bei der Fuchsjagd eingesetzt, beneidet von allen, die das Tier über Zäune, Hürden, Gräben und Steinmauern setzen sehen.
Sie versammelten sich an der Springdale-Bahn zu dem mit looooo Dollar dotierten Colonial Cup, dem letzten Rennen der Saison. Nach diesem Rennen würden die Punkte notiert und der beste Trainer, das beste Pferd, der beste Jockey der Saison ermittelt werden.
Harry und Mrs. Hogendobber fanden, daß sie sich am besten nützlich machen konnten, indem sie die übernervöse Mim ablenkten. Sie hüteten sich, die Valiants vor einem Rennen zu stören. Mim von ihnen fernzuhalten, schien ihnen eine gute Taktik.
Tucker beklagte sich, weil sie angeleint war, aber Harry weigerte sich, sie loszulassen. »Du weißt nicht, wo du bist, und könntest dich verlaufen.«
»Hunde verlaufen sich nicht. Nur Menschen.«
»Sie ist quengelig heute morgen.« Miranda, die ihren Lieblingswickelrock, eine weiße Bluse und einen roten Zopfmusterpullover trug, wirkte wie der Inbegriff des Herbstes.
»Die Menschenmenge regt sie auf.«
»Ich befinde mich auf einer Aufklärungsmission. Ich muß mich mit allen Tieren unterhalten, die mit mir sprechen wollen.«
Ohne Rücksicht auf Tuckers Vorhaben zog Harry sie zum Führring. Nachdem sie sich ein paar Meter hatte zerren lassen, beschloß Tucker, nachzugeben und brav bei Fuß zu gehen. Konnte sie schon ihren Willen nicht haben, dann mußte sie eben gute Miene zum bösen Spiel machen.
Prächtige immergrüne Eichen schirmten den Führring ab. Die Funktionäre hatten in der letzten Stunde vor dem ersten Rennen allerlei zu tun.
Colbert Mason erspähte Mrs. Hogendobber und winkte ihr zu. Miranda winkte zurück.
Arthur kam hastig aus dem kleinen Funktionärsbüro, seinen weichen Worth-and-Worth-Filzhut verwegen schräg auf dem Kopf. Die meisten Männer trugen Hüte: flache Filzhüte, Cowboyhüte, Schirmmützen aus allen denkbaren Stoffen, und einer hatte einen vornehmen marineblauen Homburg auf. Die Ripsbandfabrikanten würden überleben, auch wenn es mit Amerikas Kleidungssitten bergab ging. Pferdeliebhaber hatten Stil.
Das einzige unbehütete blonde Haupt in der Gruppe gehörte Fair, der im Wohnmobil hergefahren war. Er gesellte sich zu seiner Exfrau und Miranda.
»Darf ich den Damen etwas zu trinken holen? Oder ein Sandwich?«
»Nein, aber ich würde mich gern ein bißchen hinsetzen. Dieser Rummel macht müde.« Miranda ließ sich auf eine Parkbank fallen.
»Stellen Sie sich vor, wie den Pferden zumute sein muß.« Fair setzte sich neben sie.
»Fair, mach, daß sie mich losläßt«, flehte Tucker.
Er bückte sich und kraulte ihr die großen Ohren. »Du bist so dicht unten am Boden, Mädchen, die vielen Schuhe und Beine machen dich bestimmt ganz verrückt.«
»Nein, machen sie nicht.«
»Achte nicht auf sie. Sie winselt und wimmert seit dem Moment, wo wir angekommen sind.« Harry wackelte streng mit dem Zeigefinger.
»Weißt du, als wir verheiratet waren, wollte ich immer mit dir hierher, aber irgendwie hatte ich nie die Zeit dafür.«
»Jetzt bin ich hier.«
»Gefällt es dir?«
»Es ist herrlich. Miranda und ich haben einen Rundgang durch die Stadt gemacht. Ich hatte keine Ahnung, daß sie so schön ist.«
»Die Leute hier verstehen was vom Gärtnern.« Neben Chorgesang und Backen war Gärtnern Mirandas Leidenschaft. »Ich würde am liebsten um Ableger bitten.« »Ich bin sicher, man würde sie Ihnen geben.« Fair lächelte. Er legte seinen Arm um Harrys Schultern.
»Wo ist Mim?« fragte sie. »Wir waren mit ihr aufgebrochen.«
»Wir sind mit ihr und Jim hierher gefahren. Das ist nicht dasselbe wie aufbrechen.« Miranda kicherte. »Diese Mim, kaum hatten wir geparkt, da ist sie auch schon aus ihrem Wagen geschossen.«
»Keine Bange. Arthur hat sie abgefangen, bevor sie zu Addie und Chark gehen konnte. Und Jim ist ihr nicht von der Seite gewichen. Er ist der einzige von uns, der imstande ist, Mim von ihren Vorhaben abzubringen.«
»Es liegt nicht in ihrer Absicht, die jungen Leute zu bedrängen.« Mrs. Hogendobber streckte die Beine von sich und wackelte mit den Zehen. Sie war in den letzten vierundzwanzig Stunden mehr gelaufen als im vergangenen Monat. »Oh, das tut gut.«
»Die Nerven«, sagte Harry lakonisch.
»Es gibt eine Menge Pferdebesitzer, die schlimmer sind als Mim. Seinerzeit mußten wir Marylou Valiant praktisch ruhigstellen.« Fair lachte.
Harry kicherte. »Wenn ich mit Mickey Townsend zusammengewesen wäre, hätte man mich auch ruhigstellen müssen.«
»Ich dachte, Sie mögen Mickey.« Miranda ließ endlich ihre Handtasche los, die sie mit eisernem Griff umklammert gehalten hatte, und stellte sie neben sich auf die Erde.
»Ich mag Mickey. Er ist voller Elan. Er hat viel von diesem bulligen männlichen Charme, dem Marylou nie widerstehen konnte. Aber er verliert Geld beim Rennen und bezahlt seine Leute erst, wenn er es zurückgewonnen hat.«
Fair verschränkte die Arme. »Hätte er Marylou geheiratet, hätte er diese Sorgen nicht. Rennen ist nichts für Leute, die auf einen wöchentlichen Gehaltsscheck angewiesen sind. Außerdem braucht man Nerven aus Stahl. Die hat er. Sein Temperament macht mir mehr Sorgen als das Geld. Irgendwie kriegt er es zusammen.«
»DasIrgendwie ist es, das mir Sorgen macht«, sagte Harry.
»Wieso?«
»Fair, zwei Jockeys sind unter der Erde und.« Sie blickte auf und platzte dann heraus: »Was zum Teufel.?«
Miranda, Fair und Tucker wandten die Köpfe nach links und folgten Harrys erstauntem Blick. »Meine Güte!« rief Miranda aus.
»Ihr habt mich wohl in Zivil nicht erkannt«, scherzte Cynthia Cooper.
Fair, ganz Gentleman, stand auf und bot Cynthia Cooper seinen Platz an, als sie und Rick Shaw näher kamen.
»Na, wie sehe ich aus?« Rick trug eine karierte Schirmmütze, ein Tweedsakko und eine weite Hose.
»Sie sind wohl inkognito hier?« Harry lächelte ihn an.
»Sie sehen blendend aus«, lobte Miranda den Sheriff, einen Mann, mit dem sie wohl Unstimmigkeiten haben mochte, für den aber ihre Zuneigung nie erlahmte.
Harry senkte die Stimme. »Die Virginia-Truppe wird euch erkennen.«
Cynthia erwiderte: »Klar, das wissen wir. Wir waren noch nie bei einem Hindernisrennen, und der Chef hier hatte plötzlich diese Idee, und. voila!«
Harry, die kein Wort davon glaubte, lächelte nur. Rick und Cynthia wußten genau, daß keiner von den dreien ihnen glaubte; Tucker vermutlich auch nicht, aber sie würden es erst mal schlucken.
Laute Stimmen im Führring erregten ihre Aufmerksamkeit.
»Du steckst dahinter.« Chark hob die Stimme.
Er verstummte, als Mickeys Faust in seinen Mund knallte.
Binnen Sekunden droschen die zwei Männer aufeinander ein, daß die Fetzen flogen.
Fair, Cynthia und Rick rasten hinüber, Tucker machte einen Satz, um zu Hilfe zu eilen, doch Harry hielt sie fest an der Leine.
»Ich mach dich kalt, du blöder Arsch«, fluchte Mickey, dann landete er eine Rechte in Charks Magen. »Du bist zu dämlich, um zu merken, wer auf deiner Seite steht und wer nicht.«
»Mit dir als Freund brauch ich keine Feinde.« Chark stöhnte, dann erwischte er Mickey mit einem Schlag am Kopf. Der taumelte, sank auf ein Knie. Das Christopherusmedaillon fiel mit dem Gesicht nach unten aus seiner Tasche ins Gras.
Rick und Cynthia traten flink zwischen die beiden Männer. Rick packte Mickey, und Cynthia zog Charks linken Arm hinter seinen Rücken und umfaßte seinen Hals mit einem Ringergriff.
»Immer mit der Ruhe, Chark. Machen wir Schluß, bevor es noch viel schlimmer wird.« Cynthias Dienstwaffe, eine 357er Magnum, blitzte auf, als sich ihr Blazer öffnete. Chark konnte sie nicht sehen, aber als sie sich gegen ihn drückte, konnte er sie fühlen. Er hörte augenblicklich auf, sich zu wehren.
Mickey jedoch nicht. Fair trat hinzu, und er und Rick überwältigten Mickey gemeinsam.
»Verdammt, Mann.« Fair schüttelte den Kopf. »Es sieht so schon schlimm genug aus.«
Mickey versuchte, die Männer abzuschütteln. »Schlimm ist gar kein Ausdruck. Lassen Sie mich los.« Er sah das Medaillon und wollte es aufheben. Fair hielt ihn fest. Rick hob das Medaillon auf und gab es Mickey.
Chark bemerkte es, doch er registrierte den Gegenstand in diesem Moment nicht richtig.
Zwei uniformierte Polizeibeamte trafen am Schauplatz ein und wiesen Cynthia, Rick und Fair barsch an, zurückzutreten. Dann bemerkte der Dünne Cynthias Waffe.
»Haben Sie einen Waffenschein dafür, Ma'am?«
»Deputy Cynthia Cooper, Sheriffbüro Albemarle County. Ich würde Ihnen gern die Hand geben, aber ich bin beschäftigt. Solange Sie diesen Mickey Townsend nicht zur Vernunft bringen können, werde ich beschäftigt bleiben. Wir können uns später offiziell bekannt machen.«
»Brauchen Sie Hilfe?« fragte der Polizist Cynthia.
»Ich werde schon mit ihm fertig, danke.«
»Coop, ich mach keine Dummheiten. Ich hab die Beherrschung verloren.« Chark seufzte. »Warum sollte ich sonst auf ein Stinktier pissen?«
»Dazu kann ich nichts sagen. Kommen Sie, ich begleite Sie zur Waage, okay?«
»Ja. Auf dem Weg dahin können Sie mir sagen, was Sie hier tun.«
»Ein Hosenscheißer erster Güte!« Ohne auf die Menge ringsum zu achten, spuckte Mickey diese Worte aus, als Chark fortging.
Fair flüsterte: »Mickey, halten Sie den Mund.«
»Hm?« Fairs Worte sickerten durch den Hammer, der in Mickeys Kopf schlug.
»Zwei Jockeys, die Ihnen Geld schuldeten, sind tot. Kein Mensch glaubt, daß Sie Schwarzer Peter gespielt haben. Regen Sie sich ab «, warnte Fair.
Mickey hielt den Mund.
Rick wandte sich an die zwei uniformierten Polizisten. »Dieser Mann wohnt in meinem Bezirk. Kein Grund zur Beunruhigung.« Die beiden Polizisten nickten und sahen Rick und Fair nach, als sie davongingen, Mickey zwischen ihnen, während die Menge darüber zu schnattern anfing, was sie soeben beobachtet hatte.
»Erzählen Sie mir keinen Scheiß«, sagte Mickey leise zu Rick. »Sie wissen ja nicht mal, was bei einem Pferd vorne und hinten ist.«
»Mickey, Sie sind sich selbst Ihr schlimmster Feind.« Fair schüttelte den Kopf.
»Ist doch klar, oder?« Mickey sprach zu dem Tierarzt, den er beschäftigte und dem er vertraute. »Rick Shaw ist hier, um mir nachzuspionieren. Alle denken, ich habe Nigel und Coty umgebracht. Verdammt noch mal! Warum zum Teufel hätte ich meinen eigenen Jockey umbringen sollen?«
»Das will ich ja gerade von Ihnen hören«, sagte Rick.
»Ich war's nicht! Ein für allemal!« Mickeys ansehnliches Gesicht sackte in sich zusammen, und er wirkte plötzlich alt.
»Lügen kostet so viel Kraft. Sagen Sie einfach die Wahrheit«, sagte Rick gelassen. »Sie wußten, daß Nigel keine Arbeitserlaubnis hatte. Fangen wir da an.«
»Ach, Mann, kommen Sie mir nicht damit.« Mickey straffte die Schultern; er sah jetzt wieder so alt aus, wie er war, nämlich fünfundvierzig. »Es ist mir scheißegal, ob der Kerl einen grünen, gestreiften oder gepunkteten Wisch bei sich hatte. Er konnte reiten. Und sparen Sie sich diesen Schwachsinn von wegen Schutz der amerikanischen Arbeiter oder Schutz der ausgenutzten Einwanderer. Ich habe keinen ausgenutzt, und wenn ein amerikanischer Arbeiter den Job so gut machen kann wie der Tommy, hey, dann ist er engagiert. Scheiß auf die Regierung.«
Er war einfach unverbesserlich. Rick und Fair mußten lachen.
»Mickey, wenn Sie mir bloß reinen Wein einschenken würden, müßte ich in Ihnen nicht den Hauptverdächtigen sehen.«
Mickey sah Fair flehend an. »Verdächtigen? Weswegen?«
»Sagen Sie dem Mann einfach die Wahrheit«, sagte Fair gelassen.
Mickey blickte über ihre Köpfe, über die Wipfel der Bäume bis hinauf zu dem rotkehlcheneierblauen Himmel.
»Na gut.«