»Mom, ich hab Hunger.«
»Tucker, hör auf zu kläffen, du gehst mir auf die Nerven.«
»Du hattest ein Schinkenbrötchen, und ich hab seit dem Frühstück nichts gegessen.« Der Duft, der den Verpflegungszelten entströmte, trieb Tucker zum Wahnsinn.
Harry sah auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten. Sie sauste in ein Zelt, schnappte sich ein Brathähnchen, einen kleinen Behälter mit Krautsalat, einen mit Bohnen, eine kalte Cola und einen großen Becher Tee mit Plastikdeckel.
Als Harry sich durch die Menge schob, kam sie am Jockeyzelt vorbei. Ein Tumult ließ sie innehalten. Die Zeltklappe öffnete sich und gab den Blick frei auf bunte Dressen auf Kleiderbügeln, die an einem quer durch das Zelt gespannten Seil hingen. Elastische Binden, Kappen und Socken waren auf niedrige Bänke geworfen.
Nigel, dessen kurzgeschnittenes Haar in der Sonne glänzte, stürzte heraus. Chark Valiant stürzte hinterdrein.
»Laß ihn in Ruhe«, rief Addie ihrem Bruder nach. Sie öffnete die Zeltklappe und steckte den Kopf heraus. Sie war noch nicht fertig umgezogen und konnte sich nicht vollständig zeigen.
»Halt den Mund, Adelia.« Chark stieß ihren Kopf hinter die Klappe zurück, dann drehte er sich zu dem jungen Mann um. »Du verfluchter Schwindler - mich legst du nicht rein. Wäre meine Schwester keine Valiant, du würdest sie nicht mal grüßen.«
Addie steckte den Kopf wieder aus dem Zelt, zugleich tauchte Mickey Townsend mit hochrotem Kopf am Schauplatz auf.
Arthur Tetrick beugte sich aus dem zweistöckigen Zielrichterturm herunter. »Mickey, nicht - « Er brach ab, weil ihm klar wurde, daß er sonst bloß eine noch größere Szene heraufbeschwören würde.
Der Jockey wollte sich von Chark abwenden, der aber packte ihn an der rechten Schulter und drehte ihn zu sich herum.
»Laß das.« Nigels Ton war schneidend und wütend.
»Laß die Finger von meiner Schwester.«
»Sie ist alt genug, um selbst zu entscheiden.«
Chark drohte Nigel mit dem Finger. »Du willst ihr Geld, du verlogener Sack Scheiße.«
»Verpiß dich«, brummte Nigel.
Chark holte aus, um ihn zu schlagen, doch Mickey Townsend packte Chark von hinten und zog ihn zurück. »Das könnt ihr später klären.«
Chark drehte sich zu Mickey um, während Nigel zu Addie zurückging, die den Kopf wieder aus dem Zelt gesteckt hatte. Er schlüpfte zu ihr hinein, als drei andere Jockeys herausschlüpften.
»Einer wie der andere, alle hinter ihrem Geld her.« Chark wollte sich losreißen.
Mickey, bullig gebaut und kräftig, ließ nicht locker und zog ihn weiter fort. »Laß den Scheiß.«
Arthur, der vom Turm heruntergeeilt war, trat auf die beiden Männer zu. »Mickey, überlaß das mir.«
»Wie du willst.« Mickey entließ den jungen Mann aus seinem eisernen Griff.
»Danke für die Entschärfung einer peinlichen Situation.« Arthur nahm Charks Arm.
»Gern geschehen.« Mickey neigte seinen hübschen Kopf mit dem Bürstenschnitt, dann schlenderte er zum Führring.
»Charles, so geht das nicht«, ermahnte Arthur ihn streng.
»Ich bring das Ekel um.«
Arthur verdrehte die Augen himmelwärts. »Je mehr Widerstand du leistest, desto unwiderstehlicher wird er. Außerdem ist Adelia wie ein kleines Kind. Sie wird sich nicht mit Männern einlassen, die du attraktiv findest.«
»Ich finde Männer nicht attraktiv«, konterte Chark.
»Ist mir so rausgerutscht. Du weißt, was ich meine.« Arthur legte seinen Arm um Charks Schulter. »Beruhige dich. Wenn du diese absurde Romanze ignorierst, erledigt sie sich von selbst.« Die Pferde waren jetzt im Führring. »Hör zu, nach den Rennen muß ich den Papierkram vom großen Haus aus an den Verband faxen. Dürfte vielleicht eine Stunde dauern. Wollen wir uns hinterher im Keswick Club treffen und was trinken? Dann können wir uns unterhalten. Okay? Danach schauen wir bei Mims Party vorbei, denn wenn wir uns dort nicht blicken lassen, verbannt sie uns nach Sibirien.«
»Okay«, erwiderte Chark, der sich bemühte, seine aufgewühlten Emotionen in den Griff zu bekommen. »Aber ich kapier das einfach nicht.«
Arthur kicherte. »Das hält die Welt in Schwung. Sie denken nicht wie wir.«
Chark unterbrach ihn. »Sie denken überhaupt nicht.«
»Wie dem auch sei, Männer und Frauen sehen die Welt völlig unterschiedlich. Ich muß wieder auf meinen Turm. Um acht im Keswick Club.«
»Ja.« Chark lächelte den Mann an, der sein Ersatzvater geworden war, dann eilte er zum Führring. Addie, schon auf einem geschmeidigen Braunen namens Chattanooga Choo, tat, als sähe sie ihn nicht.
Nigel, in orangefarbenem Dreß mit drei königsblauen Ringen, ritt auf einem umwerfenden Kastanienbraunen neben ihr, als sie die Pferde bewegten.
Chark seufzte tief und beschloß, seiner Schwester keine Instruktionen für das dritte Rennen zu geben. Meistens ignorierte sie sie sowieso.
Harry eilte auf ihren Posten zurück und nickte Bekannten zu, während sie sich einen Weg durch die dichtgedrängte Menge bahnte. Wenn die Leute das Richterabzeichen sahen, winkten sie sie weiter, einige riefen, sie würden mal bei ihr vorbeischauen. Sie fragte sich, was Verliebtheit oder Erotik an sich hatte, das alle verrückt machte und eine Szene erzeugte wie die, die sie soeben miterlebt hatte.
Sie kehrte zum östlichen Hindernis zurück, setzte sich und nahm den Deckel von ihrem Teebecher. Dampfschwaden kräuselten sich aufwärts.
»Mutter!« Tucker hob die Stimme.
»Bettlerin.« Harry brach ihr ein Stück heißes Hähnchen ab, das Tucker verschlang.»Fette Bettlerin.«
»Ich bin keine Bettlerin, aber ich kann nicht an die Tische reichen und du schon. Und ich bin nicht fett. Pewter ist fett.« Tucker beschrieb zutreffend die graue Katze, die in Market Shifflets Lebensmittelladen neben dem Postamt in Crozet arbeitete. Pewter konnte auch nicht zu den Rennen kommen, was Tuckers äußerste Zufriedenheit noch verdoppelte.
Der Rennbahnsprecher rief die Startzeit auf. Harry aß jetzt so schnell wie Tucker. Sie hatte nicht gemerkt, wie hungrig sie war, aber sie war ja auch seit fünf Uhr morgens auf den Beinen und hatte sich nur mit ein paar Bissen gestärkt.
Jeden Morgen fütterte Harry ihre drei Pferde, dann ließ sie sie auf die Weide. Sie versorgte das Opossum, das auf dem Heuboden wohnte, mit Marshmallows. Danach fütterte sie ihre Haustiere, aber manchmal vergaß sie, sich selbst zu füttern. Mrs. Murphy hatte neben einem guten Frühstück eine große Schüssel Trockenfutter in verschiedenen Geschmacksrichtungen bekommen. Gewöhnlich ließ Harry das Tierpförtchen offen, das sie auf der Rückseite des Hauses in ihre Küchentür eingebaut hatte. Die Fliegentür der eingezäunten Veranda, die längs der Küche verlief, konnten Mrs. Murphy und Tucker mühelos aufstoßen. Doch heute morgen hatte Harry die Tierpforte dichtgemacht, weil sie beschlossen hatte, Mrs. Murphy im Haus zu behalten, nachdem die Katze ein paarmal dem Wagen gefolgt war. Als Miranda Hogendobber Harry abholen kam, hatte sie schon drei Stunden schwere Farmarbeit hinter sich.
Das Startsignal zum dritten Rennen zwang Harry, noch schneller zu essen. Sie spülte die letzten Bissen mit Tee und Cola herunter.
»Hast du noch was übrig?«
»Tucker, nimm deine Nase aus dem Becher.«
»War bloß neugierig.«
Harry wischte die Krümel weg, sammelte ihren Abfall ein und stellte sich auf ihren Posten.
Sie hörte einen Knall, dann einen zweifachen Schuß. Fehlstart. Die zerrten immer an den Nerven von Reitern und Pferden. Der Rennbahnsprecher bat die Pferde erneut an den Start. »Auf die Plätze. Ab. Sie sind gestartet!« Das dritte Rennen, das Noel Laing Stakes, viertausend Meter über Besen, war das zweitgrößte Rennen des Tages, mit 30.000 Dollar dotiert - sechzig Prozent für den Sieger.
Die Spannung war regelrecht hörbar. Die Pferde stürmten aus dem Blickfeld, und Harry hörte das Donnern der Hufe; der Boden zitterte wie Wackelpudding. Der in Führung liegende Hellbraune war den anderen weit voraus. Alle setzten über Harrys Hindernis, ein Pferd allerdings zögerte. Der Jockey hielt an, sein grüner Dreß mit einem blauen Kreuz klebte schon schweißnaß an seinem Körper.
Harry wußte, daß dieses Rennen über viertausend Meter ging. Die Pferde würden in wenigen Minuten wieder vorbeikommen. Sie lief zu dem Jockey, Coty Lamont.
»Alles in Ordnung?«
»Er lahmt auf einmal. Ich geh ans Innenrail.« Coty saß ab, sorgsam darauf bedacht, die Zügel festzuhalten, während Harry das Pferd am Zaumzeug hielt. »Der Tierarzt ist da drüben.«
»Sehnenschwellung, fürchterlich, Coty.« Harry hoffte, daß sie sich irrte, denn Sehnenverletzungen heilten sehr langsam, und bei einem Sehnenbug war das Risiko einer Neuverletzung hoch.
»Ja.« Als Zeichen des Dankes tippte Coty mit der Peitsche an seine Kappe. Langsam lenkte er den Wallach über die Bahn und zum Innenrail, während Harry auf ihren Posten zurückrannte.
Sekunden später kam das Feld herum, um erneut über das Hindernis zu setzen. Alle sprangen fehlerfrei.
Während Harry darauf wartete, daß der Sprecher den Sieger bekanntgab, sah sie Will und Linda Forloines den Grashang herunter auf sich zukommen. Sie hatten einen Mann im Schlepptau, der von oben bis unten in Barbour steckte.
Linda rief: »Hallo, Harry.«
»Hi.« Harry winkte den beiden zu. Kein Grund, unhöflich zu sein, sowenig sie das Pärchen leiden konnte. Sie erkannte augenblicklich, daß der Typ im ländlichen Outfit der demnächst zu schröpfende Yankee-Arbeitgeber der beiden sein mußte. Sie wußte auch, daß Will und Linda es darauf anlegten, ihm zu zeigen, daß sie jedermann in der Welt der Hindernisrennen kannten. Linda, gerissener als Will, blieb nicht oft stehen, um mit Leuten zu plaudern, weil sie wußte, daß man sie nicht gerade innig begrüßen würde. Dem Gentleman aus New York entging jedoch, daß sie mit ihnen nicht auf freundschaftlichem Fuße stand, weil alle höflich sein wollten. Sie drehten sich um und entfernten sich, als der Landrover auf Harry zugefahren kam. Linda zog beim Anblick des Sanburneschen Wagens den Kopf ein.
Jim und Larry hielten wieder bei Harry an. Diesmal sprang Mim vom Rücksitz. Sie hatte Will und Linda nicht gesehen. Die Männer fuhren weiter.
»Ich möchte mir das vierte Rennen von hier aus ansehen. Boom Booms Vorträge über gewürzten Rahmkäse auf Endiviensalat ertrage ich nicht eine Sekunde länger! Es geht entweder um Endivien oder um>Lifeline<.« Sie warf ihr wollenes Cape nach hinten.
»Dieses Hindernis ist für die meisten zu weit weg, um zu Fuß herzukommen.« Harry blickte die Absperrung entlang. »Ah, aber nicht für Greg Satterwaite. Wie ich sehe, arbeitet er sich am Außenrail vor. Als nächstes geht er wahrscheinlich zu den Außenstallungen. Gott bewahre, daß ihm jemand entginge.«
»Wem sagen Sie das«, rief Mim aus. »Hat der ehrenwerte Senator mich gesehen?«
»Noch nicht. Er ist ganz damit beschäftigt, Hände zu schütteln und breit zu grinsen.« Zur Veranschaulichung verzog Harry das Gesicht zu einer übertrieben freundlichen Grimasse.
Mim huschte hinter einen dicken Baum. Eine Rauchwolke würde sie verraten, sollte jemand hinschauen. Harry sah über Mims Heimlichtuerei hinweg: Sie wußte, daß Mim nicht rauchen sollte. Trotzdem würde sie ihr niemals sagen, was sie zu tun oder zu lassen hatte.
»Hallo, wie geht's?« Satterwaite streckte seine bereits geschwollene Hand aus.
Harry unterdrückte den boshaften Drang, sie herzhaft zu quetschen. »Morgen, Senator.«
»Ich hoffe sehr, daß ich auf Ihre Stimme zählen darf. Dies ist eine schwierige Wahl für mich.«
»Können Sie«, sagte Harry ohne große Begeisterung. Politik war ihr ein Greuel.
Eine dicke Rauchwolke stieg hinter dem Baum in die Höhe.
»Danke, danke für Ihre Unterstützung.« Er lächelte, seine Jacketkronen schimmerten, dann begab er sich zu seinem nächsten Opfer.
Wenige Sekunden später schlich Mim hinter dem Baum hervor. »Puh! Gerettet. Wenn Politiker wissen, daß man Geld hat, reden sie, bis sie blau anlaufen. Der Herr bewahre uns vor unserer Regierung!«
»Wir sind angeblich eine Demokratie. Der Herr bewahre uns vor uns selbst.« Harry lachte, dann bemerkte sie, daß Mim die Zigarette noch zwischen den Fingern hielt; sie brannte bis zum Stummel ab.
Mim trat sie auf der Erde aus. »Sagen Sie Jim nichts davon.«
»Mach ich nicht.« Aber sie war erstaunt, daß Mim nach ihrem Kampf gegen den Brustkrebs ihre Gesundheit aufs Spiel setzte.
Harry warf einen Blick ins Programmheft. »Sie haben Royal Danzig in diesem Rennen laufen. Übrigens, meinen Glückwunsch zur ersten Abteilung des Montpelier Cup. Ransom Mine hat dieses Hindernis so klar genommen, daß er förmlich flog.«
»Wenn er gesund bleibt, wird er einer der größten, wie Victorian Hill.« Mim sprach von einem wunderbaren Pferd, einem Star der frühen neunziger Jahre.
»Wer war der größte Springer, den Sie je gesehen haben?«
Mim antwortete, ohne zu zögern: »Battleship, von Man O'War aus der Quarantine, 1927 gezüchtet. Den Anblick dieses Pferdes in Mrs. Scotts hellblauen Farben mit dem rosasilbernen Kreuz werde ich nie vergessen. Ich war damals noch klein, aber es hat einen großen Eindruck auf mich gemacht. Hier war irrsinnig viel los, denn Mrs. Scott war in der Blüte ihrer Jahre. Battleship gesehen zu haben war einfach himmlisch.«
»Und Marylou Valiants Zinger?« Harry erinnerte sich an den langbeinigen kastanienbraunen Hengst.
»Wenn er sich nicht am Knie verletzt hätte, ja, ich glaube, er wäre wirklich sehr gut geworden.« Sie blickte zum Himmel hinauf. »Ich hoffe, sie schaut heute von da oben zu. Die Leute werden sagen, ich hätte Adelia und Chark aus Verbundenheit angestellt. Zugegeben, das mag eine kleine Rolle gespielt haben, aber die Wahrheit ist, sie sind gut. und werden immer besser. Und was für ein Unterschied im Stall, seit das schreckliche Pärchen nicht mehr da ist!« Sie verschränkte die Arme. »Wissen Sie, es war ein Tröpfeln wie die chinesische Wasserfolter, nachdem Marylou verschwunden war. Der Tag, an dem ich mir eingestand, daß sie tot sein muß, war einer der finstersten meines Lebens. Und ich habe versprochen, alles in meiner Macht stehende für ihre Kinder zu tun.«
»Sie haben Ihr Versprechen mehr als gehalten.«
»Die Schwerstarbeit war ja schon getan. Das haben Marylou und Charley besorgt. Als Chark nach Cornell ging und Addie nach Foxcroft, habe ich sie in den Ferien ab und zu bei Schulveranstaltungen gesehen. Schwierig war nur, zu wissen, wann ich hart bleiben mußte.« Sie lachte über sich selbst. »Bei Marilyn hatte ich damit nie Probleme, aber. sie haben ja auch einen so schweren Verlust erlitten. Manchmal frage ich mich, ob ich hätte strenger sein sollen, vor allem mit Addie.«
Bevor Harry etwas sagen konnte, hörten sie den Schuß. Mim trat zurück. Harry konzentrierte ihren Blick auf den Streckenabschnitt, in dem sie das Feld zuerst sehen konnte.
Wieder dieses unheimliche Donnern, und dann stürmten die Pferde dicht an dicht heran. Mims purpurrote Farben waren in der Mitte des Feldes, ein guter Platz für diese Abteilung des Rennens, das nur über 3200 Meter ging. Die Rennbrille vor den Augen, konzentrierte sich Addie auf den Sprung. Harry horchte auf das Schnaufen und die Rufe der Jockeys, als sie über das Buschwerk setzten, auf das>Wop-wop< und>Wisch-wisch<, als die Hinterhufe das Laub berührten. Und schon waren sie fort, rasten weiter, glitten in die Landsenke und stürmten wieder bergauf zum nächsten Hindernis.
Mim lauschte angestrengt auf den Rennbahnkommentator, der die Plazierungen durchgab. Als sie über Harrys Hindernis setzten, hob ein Pferd am Ende des Feldes zu früh ab und krachte durch das Hindernis, stolperte auf der anderen Seite, fing sich aber wieder.
Harry beobachtete das Pferd, das nicht verletzt, aber schrecklich erschöpft war. »Verdammt, warum bleibt er nicht stehen?«
»Weil es Linda Forloines ist. Die hetzt ein Pferd zu Tode.«
»Aber ich habe Linda erst vor zwanzig Minuten gesehen.«
»Zack Merchants Jockey ist im Führring getreten worden, gerade als er aufsitzen wollte. Linda ist schnurstracks zu Zack gelaufen, der natürlich verzweifelt war. Das Resultat spricht für sich.«
Der Lärm der Menge, eine eigenartig dumpfe Vereinigung von Stimmen, folgte den Pferden, und dann erschien das Feld wieder auf dem Hügel, Royal Danzig immer noch auf einem sicheren Platz in der Mitte.
Harry schüttelte den Kopf. »Linda ist 'ne ganz schräge Nummer.«
»Allerdings.« Mim schürzte die Lippen. Es lag ihr nicht, üblen Klatsch zu verbreiten, aber sie hatte einen solchen Widerwillen gegen die Forloines, daß es ihrer ganzen vorbildlichen Disziplin bedurfte, ihre Verachtung nicht jedem mitzuteilen, der es hören wollte.
»Zack Merchant ist auch nicht gerade einer von der edlen Sorte.« Harry fand es schrecklich, wie er mit Pferden umging; vor Kunden und neuen Auftraggebern kehrte er zwar den Tierliebhaber hervor, doch die anderen Pferdezüchter wußten von seinen brutalen Methoden. Bislang gab es aber keine Möglichkeit, Mißhandlungen beim Rennsport zu ahnden. Es wäre ein bißchen so, als würde man einem Mann verbieten, seine Frau zu prügeln. Man mochte ihn deswegen hassen. Man mochte den Wunsch haben, ihm die Fresse einzuschlagen, aber irgendwie - man konnte es nicht, solange man ihn nicht auf frischer Tat ertappte.
Die Stimme des Rennbahnkommentators überschlug sich. »Vier Längen voraus in diesem Rennen ist Royal Danzig, Royal Danzig, Royal Danzig, Isotone geht mit Abstand als zweiter über die Ziellinie, gefolgt von Hercule und Vitamin Therapy.«
»Gratuliere!« Harry gab Mim die Hand; Mim war keine Frau, die man spontan umarmte.
Mim nahm vorsichtig die dargereichte Hand. Ihr Gesicht lief rot an. Sie traute ihrem Glück nicht. Schließlich waren die Ergebnisse noch nicht offiziell. »Danke.« Sie blinzelte. »Ich gehe jetzt zu Chark und Addie. Das hat sie klug angestellt, im Feld zu bleiben bis zur Zielgeraden.«
»Sie haben einen sensationellen Tag.« Harry lächelte. »Und er ist noch nicht zu Ende.«
»Die offiziellen Ergebnisse des Montpelier Cup, zweite Abteilung: Royal Danzig, Isotone und Hercule.« Die Stimme des Rennbahnsprechers hatte einen rasselnden, metallischen Klang.
Mim entspannte sich. »Ah!« Sie wußte nicht, was sie sagen sollte.
»Gratuliere, Mrs. Sanburne.« Tucker keuchte vor Aufregung.
Mim sagte: »Tucker will etwas.«
»Nein, ich freu mich bloß für Sie«, erwiderte Tucker.
»Tucker.«
»Warum sagst du mir immer, ich soll still sein, wenn ich höflich bin?« Tuckers Ohren zuckten vor und zurück.
»Ich muß machen, daß ich zum Winners' Circle komme. Ah, da kommt mein Ritter in schimmernder Rüstung.«
Jim Sanburne kam im Landrover angefahren. »Komm, steig ein, mein Herz.«
Larry lachte. »Gut gemacht, Mim die Mächtige!«
»Hi, Jungs.« Harry steckte den Kopf zum Fenster hinein. »Sagt Fair, er soll das Pferd untersuchen, das Linda geritten hat. Es sieht sehr mitgenommen aus.«
»Wird gemacht«, sagte Larry Johnson, während Jim seiner Frau, die auf den Vordersitz rutschte, einen Kuß gab.
Larry Johnson stieg nach hinten, und als Mim ihre attraktiven Beine hineinschwenkte und dicht nebeneinander stellte, wie es sich für eine wohlerzogene Südstaatenlady gehörte, hatte Harry einen Augenblick lang eine Ahnung, wie Mim gewesen sein mußte, als sie jung war: anmutig, zurückhaltend, liebreizend. Der Liebreiz hatte sich in tadellose Aufmachung verwandelt, als sie die 39,999 erreicht hatte und dort verweilte... wie Miranda Hogendobber es ausgedrückt hatte, als sie selbst sechzig wurde. Daß Mim von jeher tyrannisch war, gehörte in dieser Stadt so sehr zu den Selbstverständlichkeiten des Lebens, daß kaum noch jemand ein Wort darüber verlor. Wenigstens stellte sie ihre Tyranneien in den Dienst von Belangen, die über ihr eigenes Ego hinausgingen.
Harry ging zu Mims Baum und lehnte sich an die rauhe Rinde. Tucker setzte sich ihr zu Füßen. Die Temperatur stieg auf fünfzehn Grad, der Himmel war knallblau und mit sahnefarbenen Wolken durchsetzt. Harry fühlte sich seltsam schlapp.
Miranda, deren Golfschuhe ihr festen Halt auf dem Gras gaben, schritt geradewegs über den Hügel, duckte sich unter dem Innenrail hindurch, überquerte die Bahn und duckte sich unter dem Außenrail durch. Ihr Schottenrock, der von einer großen Messingnadel gehalten wurde, vervollständigte einen Aufzug, den sich nur Miranda ausdenken konnte. Das ganze Outfit raunte>Landleben<, abgesehen von der jägergrünen Baskenmütze, auf der Miranda bestand, weil sie es nicht leiden konnte, wenn der Wind ihre Frisur in Unordnung brachte. »Federn sind nichts für mich«, hatte sie verkündet, als sie Harry auf der Farm abholte. Harrys Vorstellung von einer Kopfbedeckung war ihre Baseballmütze vom Smith College oder ein uralter verbeulter Cowboyhut, den schon ihr Vater getragen hatte.
»Abgeschlafft?« Miranda setzte sich bedachtsam neben sie.
»Hm, mein täglicher toter Punkt.«
»Meiner kommt um vier, was Sie nur zu gut wissen, weil ich mich dann immer auf den Stuhl fallen lasse und Sie zwinge, Tee aufzubrühen.« Miranda faltete die Hände. »Ist das ein Trubel dort. Ich habe noch nie so viele Menschen gesehen, und Mim kann keinen Schritt vor oder zurück machen. Das hier istihr Montpelier.«
»Scheint so.«
»Ist das nicht wunderbar mit den Valiant-Kindern?« Miranda bezeichnete sie als Kinder, obwohl beide über zwanzig waren. »Sie geben Mim, was sie sich wünscht - Sieger!«
»Hm-hm.«
»Wenn ich daran denke, was diese beiden jungen Leute durchgemacht haben - also, unfaßbar. Beide Eltern verloren, als sie noch Teenager waren. Dabei muß ich an den vierzigsten Psalm denken.« Sie verfiel in ihren pastoralen Ton.»>Ich harrte des Herrn; und er neigte sich zu mir und hörte mein Schreien und zog mich aus der grausamen Grube und aus dem Schlamm und stellte meine Füße auf einen Fels, daß ich gewiß treten kann.<« Sie verschnaufte.
Harry warf ein: »Miranda, wie können Sie sich so viel merken? Sie könnten zwei Wochen ohne Pause aus der Bibel zitieren.«
»Ich liebe die Heilige Schrift. Wenn Sie in meine Kirche vom Heiligen Licht kämen, würden Sie sehen, weshalb ich meine Stimme erhebe.«
Harry unterbrach sie wieder. Das war nicht ihr Stil, aber sie hatte keine Lust auf einen religiösen Disput. »Ich komme zu Ihren Konzerten.«
Miranda, die eine schöne Stimme besaß, erwiderte: »Das ist wahr. Vergessen Sie nicht unser großes Liederfestival am dritten Wochenende im November. Ich wünschte, Sie würden zu einem richtigen Gottesdienst kommen.«
»Kann ich nicht. Das heißt, ich könnte, aber Sie wissen ja, ich gehöre zu Reverend Jones' Herde.«
»Oh, Herbie, der silberzüngige! Wenn er zur Kanzel hinaufsteigt, glaube ich, die Engel beugen sich herab, um zu lauschen. Trotzdem, die protestantische Kirche hat viele Makel, die« - sie bemühte sich, vorurteilslos zu klingen - »sich im Laufe der Jahrhunderte zwangsläufig einschleichen mußten.«
»Miranda, Sie wissen, wie ich bin.« Harry schlug einen entschlossenen Ton an. »Aus irgendeinem Grund bin ich heute die Zielscheibe des Tages. Boom Boom ist aufgekreuzt, um mir eine offene Aussprache aufzuzwingen. Ätzend! Dann kam Senator Satterwaite, aber ich hab ihm keine Gelegenheit gegeben, seinen Leierkasten anzuschmeißen. Und jetzt Sie.«
Miranda blinzelte. »Sind Sie heute mit dem falschen Bein zuerst aufgestanden?«
»Nein.«
»Sie sollten Ihre Stimmung nicht von Boom Boom beherrschen lassen.«
»Tu ich gar nicht«, konterte Harry, mit dem leisen Verdacht, daß es wahr sein könnte.
»Ah ha«, kam es bedeutungsvoll zurück. Miranda verschränkte die Arme.
Harry wechselte das Thema. »Sie haben recht, die Valiants haben eine Menge durchgemacht. Diese Siege müssen süß sein.«
»Mich würde es quälen, nicht zu wissen, wo die Leiche meiner Mutter ist. Wir wissen alle, daß sie tot ist. Man kann nur eine gewisse Zeit hoffen, und es ist fünf Jahre her, daß Marylou verschwand. Aber wenn man nicht weiß, wie oder wo jemand gestorben ist, kann man sich damit nicht abfinden. Ich kann meinen George besuchen, wann ich will. Ich lege ihm gerne Blumen aufs Grab. Das hilft mir.« George, Mirandas Mann, war seit neun Jahren tot. Er war Posthalter in Crozet gewesen, bevor Harry seinen Posten übernahm.
»Vielleicht denken sie nicht darüber nach. Sie sprechen nicht darüber - zumindest habe ich es nie gehört, aber ich kenne sie ja auch nur von gesellschaftlichen Anlässen.«
»Es ist da - unterschwellig.«
»Ich vermute, wir werden nie erfahren, was mit Marylou passiert ist. Wissen Sie noch, wie Mim zehntausend Dollar Belohnung für jeden Hinweis ausgesetzt hat, der zu Marylous Entdeckung führt?«
»Alle haben Detektiv gespielt. Der arme Rick.« Miranda meinte den Sheriff von Albemarle County, Rick Shaw, der mit den aberwitzigsten Theorien belagert worden war.
»Nach Charleys Tod war Marylou mit einigen unscheinbaren Männern zusammen. Sie hatte Charles geliebt, und ich glaube, lange Zeit konnte sich keiner mit ihm messen. Er war ja auch erst achtunddreißig, als er starb. Schwerer Herzinfarkt. Charley war tot, bevor er auf den Boden sank.« Miranda hielt die Hände in die Höhe, die Handflächen nach außen. »Nun, ich sitze nicht zu Gericht. Eine Frau Ende Dreißig, Anfang Vierzig, plötzlich allein, ist allerdings anfällig. Vielleicht erinnern Sie sich nicht, aber sie war mit diesem verblassenden Filmstar zusammen, Brandon Miles. Er wollte, daß sie seinen Comeback-Film finanziert. Sie hat Männer verbraucht wie Popcorn. das heißt, bis Mickey Townsend kam.«
»Das nächste Rennen!« Harry stand plötzlich auf. Das feste Hindernis war neben dem Besen.
Im fünften Rennen, dem mit 40.000 Dollar dotierten Virginia Hunt Cup, der letzten Abteilung der Virginia-Fall-Timber- Meisterschaften, traten keine Probleme auf, abgesehen von zwei Reitern, deren Pferde sich von ihnen trennten, was die Chance für diejenigen erhöhte, die noch im Sattel saßen. Mickey Townsend und Charles Valiant befehdeten sich nicht. Ihre Pferde und Jockeys waren in dem 6500-Meter-Rennen so weit auseinander, daß keiner sich über eine Behinderung des anderen beklagen konnte.
Linda Forloines hatte sich Zack Merchants übrige Pferde geschnappt und war im Virginia Hunt Cup Dritte geworden. Dabei war ein bißchen Kleingeld für sie abgefallen, zehn Prozent von den 4400 Dollar Preisgeld für den dritten Platz.
Das sechste Rennen, die erste Abteilung des Battleship Cup, der nach Mrs. Scotts berühmtem Pferd benannt war, ging 35oo Meter über Besen und war mit 6000 Dollar dotiert. Miranda, des Trubels müde, blieb bei Harry. Die Spannung schwappte über den Hügel. Sie konnten die Aufregung förmlich spüren. An der Barriere versuchte Mim, die gespannt war wie ein Flitzebogen, ruhig zu bleiben. Die Jockeys umrundeten den Führring. Addie, die auf Mims Bazooka saß, einem Grauen von 163 Stockmaß, würde mit einem rasend schnellen, kräftigen Ritt glänzen, wenn sie das Tier bei der Sache halten konnte. Sie ging Chark immer noch aus dem Weg. Nigel, der Mickey Townsends rote Farben mit der blauen Schärpe trug, scherzte mit ihr. Beide Reiter sahen auf, als das niedrige Tor geöffnet wurde, so daß sie die Grasbahn betreten konnten. Linda Forloines, in den braungelben Farben von Zack Merchant, sprach mit niemandem. Das sechste Rennen war schon schwer genug für die Jockeys, die ihre Pferde kannten; sie kannte ihres nicht. Coty Lamont strahlte Zuversicht aus; er lächelte in die Menge, als er auf die Bahn ging.
Das Startsignal ertönte. »Sie sind gestartet!«
Es schienen nur Sekunden, bevor das Feld auf Harry zupreschte, über das östliche Hindernis flog und sich dann donnernd entfernte.
»Schnelles Tempo«, sagte Harry zu Miranda.
Der Lärm der Menge verklang über den Hügel und hob wieder an, als die Pferde dort erschienen, wo die meisten Zuschauer warteten. Abermals erstarb der Lärm, als das Feld bergauf kam und die andere Seite der Strecke umrundete; nur die Stimme des Kommentators durchschnitt die Spannung, als er die Plazierungen und die Hindernisse ansagte.
Wieder elektrisierte der Rhythmus der Hufschläge Harry, das Feld raste um die Kurve und behielt ein scharfes Tempo bei.
Bazooka, in blendender Verfassung, lag konstant auf dem vierten Platz. Harry wußte von Mim, daß Addies Strategie, die sie lange vorher mit Chark ausgearbeitet hatte, vorsah, sich bei der vorletzten Hürde ins Zeug zu legen.
Als die Pferde auf ihr Hindernis zupreschten, sah sie, wie Linda Forloines Nigel scharf anrempelte. Er hatte Mühe, sich im Sattel zu halten, als sein Pferd aus dem Tritt geriet.
»Verdammte Scheiße!« schrie er.
Linda lachte. Nigel, der das bessere Pferd hatte, ritt neben sie, dann zog er ab. Vor dem Hindernis sah Harry Linda mit dem linken Arm ausholen und ihre Peitsche durch Nigels Gesicht ziehen. Mit blutenden Lippen setzte Nigel über die Hürde. Linda sprang einen Sekundenbruchteil nach ihm hinüber. Erneut peitschte sie Nigel, doch diesmal war er auf sie gefaßt. Er hatte seine Peitsche von der linken in die rechte Hand gewechselt und schlug Linda rückwärts ins Gesicht, Gleiches mit Gleichem vergeltend. Linda schrie. Harry und Miranda beobachteten bestürzt, wie die Jockeys bergauf ritten und dabei aufeinander einschlugen.
»Harry, was werden Sie tun?«
»Nichts vor Ende des Rennens. Dann muß ich schleunigst zum Turm und Bericht erstatten. Aber solange keiner von ihnen protestiert, wird nichts geschehen. Wenn es einer tut - dann gibt's einen Aufruhr!«
»Gemein!«
»Linda Forloines?«
»Ja, aber der andere war fast genauso schlimm.«
»Ja, aber er war in der nicht gerade beneidenswerten Lage, etwas tun zu müssen, oder Linda wäre noch aggressiver geworden. Menschen wie sie halten nichts von Fairneß. Sie interpretieren sie als Schwäche. Man muß noch härter zurückschlagen, als sie einen geschlagen haben.«
»Bei einem Rennen?« Miranda stieg schnaufend hinter Harry den Hügel hinauf, während die Siegerin verkündet wurde - Adelia Valiant auf Bazooka. Tucker, die Ohren angelegt, tollte voraus.
»In der besten aller möglichen Welten nicht, aber gerade dann gehen Menschen wie Linda auf einen los. Wenn sie denken, man kann oder wird sich nicht wehren. Ich hätte sie jedenfalls umgebracht.«
Sie kamen zum Turm, Mrs. Hogendobber keuchte.
»Miranda, steigen Sie hier rauf. Sie sind auch eine Zeugin.«
Miranda stapfte die drei Treppenabsätze zum Turm hinauf, wo der Rennbahnsprecher, Arthur Tetrick, und Colbert Mason, der Verbandspräsident, residierten. Tucker blieb am Fuß der Treppe.
Die Pferde galoppierten vor der Tribüne aus.
»Harry«, sagte Arthur Tetrick und bot ihr etwas zu trinken an, »vielen Dank für alles, was Sie heute getan haben. Oh, Pardon, Mrs. Hogendobber, ich hatte Sie gar nicht gesehen.«
»Arthur.« Harry nickte Colbert Mason zu. »Colbert, ich muß leider einen gefährlichen und unsportlichen Vorfall melden am östlichen Hindernis. Linda Forloines hat Nigel Danforth schwer behindert. Es könnte Zufall gewesen sein.«
»So etwas kommt vor«, unterbrach Colbert sie jovial; denn er wollte hinuntereilen, um Mim Sanburne zu dem erstaunlichen Ereignis zu gratulieren, zwei Rennen, eines davon das strapaziöse feste Hindernis, gewonnen und den zweiten Platz bei einem anderen gemacht zu haben, alles an einem Tag. Besonders freute es ihn, daß Mim den Virginia Cup gewonnen hatte.
»Einen Moment noch, Colbert. Dann schlug sie ihm mit der Peitsche ins Gesicht. Nach dem Sprung haben sie aufeinander eingedroschen wie zwei Boxer. Mrs. Hogendobber hat es auch gesehen.«
»Miranda?« Arthurs sandfarbene Augenbrauen verharrten über seiner Schildpattbrille.
»Das hätte mit schweren Verletzungen enden können, oder noch schlimmer«, bestätigte Miranda.
»Ich verstehe.« Arthur beugte sich über den Schreibtisch und rief zu dem Rennsekretär im zweiten Stock herunter: »Paul, hat es bei diesem Rennen einen Protest gegeben?«
»Nein, Sir.«
In diesem Augenblick beugte sich Colbert über die Tribüne. »Donnerwetter. « Jetzt konnte er die Striemen in Nigels Gesicht und seine blutende Lippe sehen, da der Jockey auf dem Weg zum Führring vorüberritt. Ein Blick auf Lindas Gesicht bestätigte ihm, daß es einen Kampf gegeben hatte.
Arthur beugte sich ebenfalls herüber, um es zu sehen. »Mein Gott.« Er rief: »Nigel Danforth, kommen Sie einen Moment hierher. Linda Forloines, auf ein Wort, bitte.«
Ohne sich gegenseitig eines Blickes zu würdigen, ritten die beiden Jockeys zum Zielrichterturm, während ihre Trainer und Pferdepfleger nach draußen liefen, um das Zaumzeug ihrer Pferde zu ergreifen.
»Haben Sie zu dem ungewöhnlichen Zustand Ihrer Gesichter etwas zu sagen?« bellte Arthur.
»Nein, Sir«, erwiderte der Engländer.
»Linda?« fragte Arthur.
Sie schüttelte den Kopf und schwieg.
»Na schön.« Arthur entließ sie, während Mim auf Wolken in den Winner's Circle schwebte. »Harry, unter diesen Umständen kann ich nichts machen, aber ich habe das mulmige Gefühl, daß es noch nicht vorbei ist. Wenn Sie mich bitte entschuldigen, ich muß in den Winner's Circle. Ich habe den Scheck.« Er klopfte auf seine Brusttasche. »Meine Damen, wir sehen uns auf Mims Party.«
Während die Menge sich langsam zerstreute, gingen die Pferdepfleger, Jockeys und Trainer ihrer Arbeit nach, bis am Ende nur noch die Bahnrichter übrigblieben. Selbst die Wahlkampfkandidaten waren verschwunden. Ein Pferd nach dem anderen wurde vom Madison-Anwesen gefahren.
Harry, Mrs. Hogendobber und Tucker sprangen in den Falcon. Die Sonne versank hinter den Blue Ridge Mountains. Dunkelheit umfing sie, als sie langsam den Weg hinunterfuhren.
»Im Hauptstall ist noch Licht«, bemerkte Harry. »Es ist soviel zu tun.« Die Pferde erforderten nach einem Rennen viel Zuwendung - ihre Beine mußten kalt abgespritzt, sie mußten gefüttert und mit Medikamenten versorgt werden, und zum Schluß wurde das Sattelzeug gesäubert.
»Alles erledigt«, verkündete Miranda laut.
»Wie bitte?«
»Das Licht ist gerade ausgegangen.«
»Oh.« Harry lächelte. »Schön, jedenfalls einer, der zeitig nach Hause kommt.«
Eine Stunde später schrillte das Telefon in Montpelier, wohin Arthur und Colbert sich zurückgezogen hatten, um sich etwas aufzuwärmen und sodann die Tagesergebnisse zusammenzustellen und an das Nationalbüro in Elkton, Maryland, zu faxen.
»Hallo.« Arthurs Gesichtsausdruck veränderte sich so drastisch, daß Colbert aufstand, um ihm notfalls beizustehen. »Wir kommen sofort.« Arthur legte den Hörer sorgfältig auf die Gabel zurück.
Er lief hinaus zu seinem Wagen, Colbert neben ihm her, und sie fuhren zum Hauptstall.