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Mrs. Murphy verließ den Stall morgens um halb sieben und nahm die Abkürzung über die Heuwiesen, sie brauchte Zeit für sich, um nachzudenken. Sie streifte Habichtskraut, was jenes eigentümliche Geräusch verursachte, das Stadtmenschen immer erschreckt, wenn sie es zum erstenmal hören. Der leichte Frost, der sich kalt anfühlte an ihren Fußballen, würde bis zehn Uhr morgens vergangen sein und sich nur an sehr schattigen Stellen oder auf dem Bachboden halten.

Ein tiefer, schnellfließender Bach trennte Harrys Farm von Blair Bainbridges Land, einem Anwesen, das einst der Familie von Reve­rend Herbert Jones gehört hatte. Murphy hoffte, Blair werde bald zurückkehren, denn sie hatte ihn gern. Als Model gehörte er zu der wachsenden Zahl von Amerikanern, die in ihrem Job viel Geld ver­dienten, aber lieber in einer hübschen Gegend als in der Großstadt lebten. Er war allerdings oft unterwegs.

Murphy blieb am Bach stehen, sah dem Wasser zu, wie es gurgelte und die glatten Steine übersprühte. Mrs. Murphy, die Wasser nie viel abgewinnen konnte, mochte es noch weniger, wenn das Quecksilber unter fünfzehn Grad sank. Sie beugte sich über die tiefe Böschung, denn dort waren stille Tümpel, und wenn sie sich ruhig verhielt, konnte sie die kleinen Fische sehen, die sich dort tummelten. Sie hatte einmal erlebt, wie Paddy, ihr Exmann, einen Schwarzbarsch fing, eine Leistung, die ihre Leidenschaft für ihn entflammt haben mußte, wenngleich sie heute nicht verstehen konnte, was sie je an diesem treulosen Kater gefunden hatte. Trotzdem, er sah gut aus und war liebenswert.

Ein Schwanzschnippen warnte den Fischschwarm vor ihr. Sie seufzte, trabte dann an die Stelle, wo der Jones's Creek, wie der Bach genannt wurde, in den Swift Run und von dort in den Mee­chum's River floß.

Der Geruch von gefallenen und noch fallenden Blättern kündigte den Winter an. Sie raschelten unter ihren Pfoten, was die Jagd auf Feldmäuse zu einem schwierigen Unterfangen machte. Sie folgte den Biegungen und Windungen des Jones's Creek, bewunderte die Plata­nen, deren abblätternde Borke sich durch den Kontrast von Grau und Beige auszeichnete. Sie schreckte Raben auf, die Körner von einem Maisfeld pickten. Sie schrien sie an, erhoben sich über ihren Kopf, zogen einen Kreis und kehrten zurück, als sie weitergegangen war.

Nach abermals zehn Minuten erreichte sie die Stelle, wo der Bach in den Swift Run strömte. Eine große Weide, die Regen und Winde der letzten Wochen umgeworfen hatten, war vom gegenüberliegen­den Ufer in den Fluß gekracht. Ein einsamer blauer Reiher, ein stummer Wächter, stand starr etwa fünfzig Meter stromabwärts.

Da Mrs. Murphy am anderen Ufer war, hatte der Reiher, ein riesi­ger Vogel, kein bißchen Angst vor dem kleinen Raubtier. Immerhin war er so groß, daß er, würde Mrs. Murphy den Swift Run durch­schwimmen und sich auf seinen Rücken werfen, in die Luft schwe­ben und die Katze mit sich nehmen könnte.

Er unterbrach sein Fischen und bedachte Mrs. Murphy mit einem grimmigen Blick. Die Fangmethoden des Reihers beruhen auf Reg­losigkeit, gefolgt von blitzschnellen Reflexen, wenn er mit seinem langen Schnabel nach einem Fisch schnappt - oder sonst etwas, nach dem ihm gerade gelüstet.

Die Tigerkatze setzte sich hin und beobachtete den großen Vogel. Eine eigenartig kräuselnde Strömung unter dem Weidenstamm lenk­te ihren Blick von dem Reiher ab. Das Wasser schlug an das Hinder­nis und umwirbelte es, das Hindernis rollte ein wenig, dann brach sich das Wasser auf seinem Weg stromabwärts Bahn.

Mrs. Murphy lief ein Stück am Ufer entlang, um besser sehen zu können, froh über ihre guten Augen, die so viel schärfer waren als Menschen- oder Hundeaugen. Sie sah angestrengt hinüber, und ein neuer kleiner Wasserschwall hob das Hindernis an. Ein Arm durch­brach die Oberfläche und sank dann wieder herab. Noch ein schwe­rer Regen, und der Leichnam würde von den Ästen der Weide befreit sein.

Mit gesträubtem Fell starrte Mrs. Murphy hinüber. Die nächste Wasserwelle schob die Leiche ein bißchen nach oben, und sie sah, was von Linda Forloines Gesicht übrig war. Augen und Nase waren fort, das Werk hungriger Fische und Flußkrebse. Das Gesicht war noch weißer gebleicht und aufgequollen, aber es war ohne Zweifel Linda Forloines. Mrs. Murphy kannte sie aus der Zeit, als sie in Mims Stall arbeitete.

Sie trabte zu ihrem Ausgangspunkt zurück und rief dem Reiher zu:

»Entschuldige, daß ich dich beim Fischen störe. Ist dies dein Re­vier?«

»Natürlich ist es mein Revier«, lautete die schroffe Antwort.

»Weißt du, daß da hinten bei der Weide ein toter Mensch liegt?«

»Ja.«

»Weißt du, wie lange er schon da ist?«

Der Reiher warf den Kopf zurück, sein heller violett gekrönter Schopf fiel nach hinten.»Nicht ganz eine Woche. Es gibt noch eine Leiche, anderthalb Kilometer von hier, wenn ich fliege, mehrere Kilometer am Boden. Die steckt in einem Transporter.« Er schnappte mit seinem langen kräftigen Schnabel.»Ich wünschte, sie hätten soviel Anstand, ihre Toten zu begraben.«

»Der Mörder hatte es eilig«, rief die Katze über den Bach.

»Ah.« Er streckte den anmutigen Hals zum Himmel und zog ihn wieder ein.»Sie haben eine seltsame Neigung, sich gegenseitig um­zubringen, nicht?«

»Ein genetischer Defekt, vermute ich.« Auch Mrs. Murphy hielt menschliche Gewalt für höchst untierlich. Immerhin töteten sie und ihresgleichen lediglich andere Arten, und dann ausschließlich zur Ernährung, wenngleich sie dem Drang, einer Maus zum Vergnügen den Garaus zu machen, gelegentlich nur schwer widerstehen konnte.

Der Reiher breitete die Flügel aus, alle Federn der wärmenden Sonne darbietend.»Oh, das tut gut. Weißt du was, wenn ich Lust hätte, könnte ich zu dir rüberfliegen und dich am Schwanz hochhe­ben.«

»Zuerst müßtest du mich fangen«, konterte Mrs. Murphy.

»Du würdest staunen, wie schnell ich fliegen kann.«

»Du würdest staunen, wie schnell ich im Zickzack rennen kann.« Mrs. Murphys Zehen kribbelten. Sie fuhr ihre Krallen aus.»Ich will dir was sagen. Ich krieg einen Vorsprung, und du siehst zu, ob du mich fangen kannst. Aber heb mich nicht hoch, denn ich hab dir nichts getan - warum also solltest du mir was tun? Bloß ein Spiel, okay?«

»Einverstanden.« Der Reiher flatterte, noch im Stehen, mit den Flügeln.

Mrs. Murphy sauste los wie der Blitz. Sie rannte am Ufer des Jo­nes's Creek entlang zurück zu den Maisfeldern, während der Reiher sich zu seiner Flughöhe erhob. Sie tauchte in die Maisfelder ein, womit sie die Krähen erzürnte, die aufflogen wie am Himmel ver­streuter Pfeffer. Sie sahen den Reiher ankommen und schimpften, was ihre beachtlichen Lungen hergaben.

Der Reiher stieß über dem Maisfeld herab und rief:»Unfair.«

»Du hast nicht gesagt, daß ich nicht in Deckung gehen darf.«

Die Krähen fielen im Sturzflug wieder über den Mais her und ver­gaßen einen Moment Mrs. Murphy, die vorwärts sprang und beinahe einen schillernden schwarzen Schwanz zu fassen kriegte.

»He!« Die Krähe klappte ihren gelben Schnabel zusammen, dann machte sie sich im Steilflug davon, gefolgt von den anderen.

Der Reiher zog einen Kreis, landete am Rand des Maisfeldes, seine Augen glitzerten. Mrs. Murphy ging ans Ende der Maisreihe. Sie war vielleicht drei Meter von dem Riesengeschöpf entfernt.

»Du könntest rausgerannt kommen und mich angreifen, bevor ich mich in die Luft erheben kann«, neckte der Reiher die Katze.

»Vielleicht, aber warum sollte ich einem eleganten Vogel wie dir Federn ausreißen wollen?« schmeichelte Mrs. Murphy ihm. Sie kannte dieses Glitzern in den Augen und mißtraute dem Reiher, auch wenn sie nicht auf dem traditionellen Speiseplan des Vogels stand.

Das Kompliment erfreute den Reiher. Er putzte sich das Gefieder. »Oh, danke schön.« Er trat auf Mrs. Murphy zu, die nicht in den Mais zurückwich.»Kennst du die tote Frau da hinten in der Weide?«

»Ich weiß, wer sie war. Keine, an der mir lag, aber über die Men­schen ist eine Flut von Morden hereingebrochen.«

»Hm. Meine Mutter hat mir immer gesagt, sie könnte mir einen Fisch geben oder sie könnte mir beibringen, wie man fischt. Ich war natürlich faul und wollte, daß sie mir den Fisch gibt. Hat sie aber nicht. Sie hat ihn vor meiner Nase verschluckt. Das hat mich so wü­tend gemacht.« Der große Schnabel öffnete sich und legte eine leuchtendrosa Zunge frei.»Aber ich hab kapiert, und sie hat mir beigebracht, wie man fischt. Wenn du nicht fischen kannst, betrach­test du jedermann als kostenlose Mahlzeit oder wirst selbst zum Kö­der. Ich nehme an, das tote Ding da hinten konnte nicht fischen.«

»Stimmt zum Teil. Sie hat gern im Trüben gefischt.« Die Katze be­trachtete den Reiher eingehend. Die großen zinkigen Füße wirkten im Maisfeld fehl am Platz.

»Ah. So, hat mich gefreut, mit dir zu reden, Miezekatze. Ich geh jetzt wieder in mein Nest.«

»Mich hat's auch gefreut.«

Darauf erhob sich der Reiher in die Lüfte und flog einmal im Kreis. Mrs. Murphy trat aus dem Maisfeld und sauste schnurstracks zurück zu dem alten Stall, während der Reiher einen weiteren Kreis zog und zu ihr hinunterkrächzte. Obwohl sie es im Gefühl hatte, daß der Rei­her nicht angreifen würde, trieben die Krächzlaute sie zur Eile. Sie raste, den Bauch flach am Boden, den ganzen Weg nach Hause.

»Nanu, Mrs. Murphy, du siehst aus, als hättest du ein Gespenst ge­sehen«, sagte Harry, als Murphy in den Stall torkelte, die Augen so groß wie Billardkugeln.

»Nein, bloß Linda Forloines.«

Tucker legte den Kopf schief.»Nicht bei bester Gesundheit, nehme ich an.« Tucker lachte über ihren eigenen Witz.

»Sie war nutzlos im Leben. Wenigstens ist sie im Tod zu was nüt­ze.«

»Wozu denn?«

»Fischfutter.«

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