27

»Sie haben die ganze verdammte Sache fallenlassen!« Fairs strahlen­des Gesicht unterstrich die gute Nachricht.

Harry hatte ihn bei Mim getroffen, als sie dort ein Eilpaket abliefer­te. Mim und Chark Valiant, der auch da war, freuten sich fast genau­so über Fairs Neuigkeit wie Harry.

Sie waren alle im Stall versammelt, wo Mrs. Murphy und Tucker herumschnüffelten. Rodger Dodger und Pusskin waren nirgends zu sehen.

»So, dann will ich mir Royal Danzig mal anschauen«, sagte Fair. »Hatte gar nicht vor, soviel zu quatschen.«

»Ach, er kann noch einen Moment warten. Wenn wir erst beim Ge­schäft sind, vergessen wir, nach den Einzelheiten zu fragen.« Mim bat sie in die Sattelkammer.

»Wo ist Addie?« fragte Fair.

Mim, die es wußte, sagte nichts; denn sie hatten Chark über den heillosen Schlamassel, den seine Schwester angerichtet hatte, im Dunkeln gelassen. Auch dies war auf Rick Shaws Ersuchen gesche­hen.

»Sie hat aus Charlottesville angerufen«, antwortete Chark. »Sie sagt, sie hat jede Menge zu tun und weiß nicht, wann sie zurück sein wird.«

»Oh, okay.« Fair nahm sich eine Tasse Kaffee. Er war wegen eines Notfalls in einem Reitstall seit vier Uhr morgens auf den Beinen. »Soweit ich es mir zusammenreimen kann oder soviel Colbert Ma­son mir erzählen wollte, hat er sich mit meiner Anklägerin Linda Forloines in Verbindung gesetzt. Sie behauptete, er hätte vollkom­men mißverstanden, was sie gesagt hat. Sie war wütend, weil er so etwas auch nur denken konnte, und sie habe nicht die Absicht, eine Anklage gegen mich vorzubringen. Das wäre also erledigt.« Er setzte sich in den bequemen alten Ledersessel und bereute es sogleich, weil er wußte, er würde nicht mehr aufstehen wollen.

»Typisch«, lautete Mims Kommentar.

»Sie ist es nicht wert, daß man sich mit ihr befaßt«, fügte Chark hinzu.

Sie alle kannten Lindas Vorgehensweise. Sie tat, als verfüge sie über interne Informationen, sie machte Andeutungen, wurde plump­ vertraulich, veränderte die Modulation ihrer Stimme, um ihren Wor­ten mehr Gewicht zu verleihen. Auf diese Weise konnte sie sagen, man hätte sie mißverstanden, und durchblicken lassen, daß mit einem selbst etwas nicht stimme, wenn man so etwas auch nur denken kön­ne.

»So, jetzt will ich mir aber Royal Danzig ansehen.« Fair zwang sich aus dem Sessel.

Sie gingen durch den schönen Mittelgang, und Chark holte den temperamentvollen Burschen aus seiner Box, während Fair mit den Händen über die Beine des Pferdes fuhr, kam Rodger Dodger, so­eben von einer Inspektion der Koppeln zurückgekehrt, in den Stall geschlendert, seine geliebte Pusskin an seiner Seite.

»Royal, was hast du?« fragte der alte rotbraune Kater.

»'ne empfindliche Stelle an meinem linken Bein. Ich glaube, ich bin falsch aufgetreten, als sie mich auf die Koppel gebracht haben.«

»Ich hoffe, es ist nichts Ernstes«, erwiderte Rodger höflich.

»Das hoffe ich auch, ich will nach Camden.«

»Rodger, wie geht's, wie steht's?« rief Mrs. Murphy, als sie Rod­gers Stimme hörte. Sie war mit Tucker in der Sattelkammer gewesen. Die roch so gut und war mollig warm.

»Murphy. Hi, Tucker«, sagte Rodger, und Pusskin murmelte einen Gruß.

Mrs. Murphy setzte sich und legte den Schwanz um sich.»Ich habe dir einen Vorschlag zu machen, Rodger.«

»Was für einen Vorschlag?« Tucker spitzte die Ohren»Warum hast du mir nichts gesagt?«

»Weil er erst reifen mußte.« Mrs. Murphy wandte sich wieder an Rodger.»Es ist möglich, daß eure Stallmäuse wissen, was in Orions Box ist.«

»Warum fragst du nicht die Pferde?« fragte Tucker.

»Hab ich.« Rodger schnippte eine Minute lang mit dem Schwanz.

»Sie konnten sich an nichts erinnern, nicht mal Orion, und er ist der älteste, mit zwölf. Andererseits, was immer da drin ist, könnte vor Jahren im Sommer vergraben worden sein. Die Jagdpferde kommen im Sommer immer raus auf die Weide, dann wären also bloß die Mäuse und ich hier gewesen. Ich erinnere mich an nichts, aber im Sommer geh ich ja ins große Haus und ruh mich dort aus, wegen der Klimaanlage.« »Wenn du mit den Mäusen ein Abkommen triffst, sprechen sie viel­leicht mit uns.« Mrs. Murphy hielt sich streng an ihre Tagesordnung.

»Was für ein Abkommen?«

»Sie nicht zu fangen.«

»Das kann ich nicht. Mim wird wütend, wenn ich keine Mäuse in der Sattelkammer abliefere. Sie fragt Chark jeden Tag, ob Pusskin und ich unsere Pflicht getan haben.«

»Sie ist richtig pingelig«, fügte Pusskin hinzu.

»Das habe ich bedacht.« Mrs. Murphy hätte Pusskin am liebsten einen Klaps gegeben. Sie bemühte sich, ihr Miauen freundlich klin­gen zu lassen.»Ich schlage vor, daß ihr Feldmäuse fangt und in der Sattelkammer abliefert. Die Menschen erkennen den Unterschied nicht.«

Rodger rieb sich mit der Vorderpfote die Schnurrhaare. Er runzelte die Stirn. Der weise alte Bursche wollte die möglichen Folgen einer solchen Abmachung bedenken.»Es wird eine Zeitlang funktionieren, Murphy, aber wenn die Körner schwinden und die Stallmäusebevöl­kerung nicht abnimmt, werden die Menschen dahinterkommen, daß etwas nicht stimmt. Ich will nicht, daß Pusskin oder ich gefeuert werden.«

»Das würde Mim nie tun«, vermutete Tucker richtig.

»Das kann ich nur hoffen.« Rodger kannte Katzen, die ihre Arbeit verloren hatten, weil sie träge geworden waren.»Aber selbst wenn sie uns bleiben läßt, holt sie vielleicht noch eine Katze hinzu, und damit will ich mich nicht herumschlagen. Das hier ist mein Stall.«

»Und wenn wir die Stallmäuse bitten, sich nicht zu zeigen?« Mrs. Murphy bemühte sich um eine Lösung.»Dann würden die Menschen sie wenigstens nicht sehen. Ihr wißt ja, wie sie sich mit Mäusen an­stellen.«

»Sehen ist schlimm genug. Aber die Körner sind es, die mir Sorgen machen«, sagte der besonnene Rodger.

»Können sie nicht mit dem auskommen, was die Pferde auf die Er­de werfen? Pferde sind doch so schlampige Esser«, warf Pusskin ein. Keine schlechte Idee für eine beschränkte Mieze, mußte Mrs. Mur­phy zugeben.

»Weniger Futter. Mehr Sicherheit«, schnurrte Rodger.»Ein Han­del. Ist wohl einen Versuch wert, aber Murphy, warum interessiert es dich, was in Orions Box ist?«

»Sag bloß nicht aus Neugierde«, warnte Tucker.

Mrs. Murphy atmete die frische Luft ein. Ihr Kopf fühlte sich so klar an wie die Luft um sie herum.»Ich glaube, das Morden ist noch nicht vorüber, und ich glaube, was immer in Orions Box ist, könnte ein Teil der Lösung sein.«

»Wenn die Menschen sich gegenseitig umbringen, ist das ihre Sa­che«, fauchte Pusskin, keine große Anhängerin der menschlichen Rasse.

»Aber wenn Mim dadurch in Gefahr gerät?« Mrs. Murphy streckte eine Pfote nach Pusskin aus, als wolle sie sie schlagen.»In ihrem Stall ist etwas passiert. Etwas, das mindestens ein paar Jahre zu­rückliegt. Mickey Townsend richtet mitten in der Nacht eine Pistole auf Coty Lamont. Coty hat in Orions Box gegraben. Mickey läßt ihn das Loch wieder zuschütten, dann bringt er ihn weg. Cotys Wagen war nicht hier. Er ist von irgendwo zu Fuß gekommen, und Mickey ist ihm nachgeschlichen. Ziemlich eigenartig. Am nächsten Tag liegt Coty Lamont tot auf der Ladefläche des Lieferwagens, mit einem Messer im Herzen und einer weiteren Spielkarte drauf, der Pikdame. Das hat Cynthia Cooper meiner Mom erzählt, als sie vorgestern abend zusammen gegessen haben.« Sie holte Atem.

Pusskin platzte heraus:»Das bedeutet, Mickey ist der Mörder.«

»Vielleicht ja und vielleicht nein. Addie hat ein Kilo Kokain in ih­rem Banksafe und sagt, es hat Nigel Danforth gehört.«

»O nein!« riefen Rodger und Pusskin wie aus einem Munde.

»Sie hat es Rick Shaw erzählt. Jetzt hat sie eine schöne Bescherung am Hals.« Tucker war von demselben Drang beseelt wie ihre beste Freundin.»Und ich glaube nicht, daß sie's ihm gesagt hätte, aber Mom und Mrs. Hogendobber haben sie dazu gezwungen. Ich vermu­te, das ist noch nicht das Ende vom Lied, denn Addie sollte das Kilo bei Linda Forloines abliefern, und was wird Linda tun, wenn sie nicht aufkreuzt?«

»Dann könnte Addie in Gefahr sein?« Rodger hatte Addie gern.

»Jeder könnte in Gefahr sein, vor allem wenn ich mit dem Geheim­nis in Orions Stall recht habe. Was, wenn Mim durch puren Zufall auf die Wahrheit stößt? Ihr könnt eure Besitzerin nicht so einer Ge­fahr aussetzen. Ich weiß, ihr seid keine Hauskatzen, aber Mim ist anständig und kümmert sich um euch. Und - « Mrs. Murphy senkte die Stimme -»was wäre aus euch geworden, wenn sie euch nicht aus dem Tierheim gerettet hätte? Es gibt zu viele Katzen, und egal, wieviel Gutes der Tierschutzverein tut - nun, ihr kennt das ja.«

Nach dieser bitteren Ermahnung blieben die Tiere eine ganze Weile still.

Schließlich sagte Rodger entschlossen:»Es ist eine Ehrenschuld. Für Mim tun wir unser Bestes. Pusskin?«

»Was immer du sagst, Liebster.«

Er blähte die rote Brust auf, schleckte Pusskins hübsches Gesicht ab und sagte dann:»Verhandeln wir also mit den Mäusen.«

Die Mäuse tummelten sich in den Wänden der Sattelkammer. Mim hatte die Sattelkammer isolieren lassen, so daß zwischen den beiden Wänden eine Menge Raum war, angefüllt mit warmem Isoliermate­rial, wo Mäuse mühelos hinein- und hinausgelangen konnten, weil sie von der nächstliegenden Boxentür einen Gang gegraben hatten. Sie hatten inzwischen zahlreiche Ein- und Ausgänge angelegt, was Rodger Dodger zur Verzweiflung trieb, weil ihm und Pusskin selbst dann, wenn sie sich aufteilten, um die Löcher zu bewachen, die Mäu­se durch die Lappen gingen.

Das heisere Quieken verstummte, als die Mäuse die nahenden Kat­zen hörten und rochen.

»Muß eine ganze Armee sein«, warnte die Obermaus, ein kesses Weibchen.

Rodger legte seine rosa Nase an den Eingang eines der Löcher. »Loulou, wir sind's, Rodger und Pusskin. Mrs. Murphy und Tucker, die Corgidame von drüben beim Yellow Mountain, sind bei uns.«

»Die Tiere von der Post«, erwiderte Loulou. Ihre hohe Stimme war klar und schrill.

»Woher weiß die das?« fragte Mrs. Murphy.

»Wir wissen alles. Außerdem haben wir Verwandte in Market Shi­fletts Laden. Pewter ist zu fett, um sie zur Strecke zu bringen.«

Murphy kicherte. Tucker ebenso.

»Loulou, ich komme mit einem Angebot, das ihr euch überlegen solltet.«

Nach einem Augenblick des Schweigens ließ sich Loulou argwöh­nisch vernehmen:»Wir sind ganz Ohr.«

»Wißt ihr, was in Orions Box vergraben ist?«

»Ich als die älteste Maus weiß es«, erwiderte Loulou geschwind. »Aber ich sag's euch nicht.«

Rodger zügelte seinen Zorn, doch Pusskin klagte:»Sie ist eine rich­tige Klugscheißerin.«

Mrs. Murphy flüsterte ihr zu, sie solle still sein.

»Loulou, ich erwarte nichts umsonst. Pusskin und ich erklären uns bereit, keine Stallmäuse zu fangen, und zwar für ein Jahr - « der letzte Teil war Rodgers eigener Zusatz -,»wenn ihr euch bereit er­klärt, euch vor den Menschen nicht blicken zu lassen. Sonst denken sie, Pusskin und ich faulenzen herum, und wir kommen in Teufels Küche, und Mim versucht womöglich, noch eine Katze herzubringen. Könnt ihr unsere Lage verstehen?«

»Ja.«

»Schön, ein Jahr Freiheit für die Information - und versucht, euch nicht zu stark zu vermehren, ja?«

»Es ist ein freier Lauf zur Futterkammer, ohne jede Deckung. Die Menschen werden uns sehen.« Loulou suchte Zeit zu schinden, wie das aufgeregte Geplapper im Hintergrund bewies.

»Unter den Futtereimern der Pferde liegen jede Menge Körner. Zeigt eure Gesichter nur nicht tagsüber im Stall, und wenn ihr abends einen Menschen kommen hört, geht in Deckung. Sonst gera­den wir alle miteinander in eine wirklich schlimme Lage.«

»Ich bin gleich wieder da«, erwiderte Loulou.

Die drei Katzen und der Hund warteten geduldig. Harry kam auf dem Weg zum Klo vorüber. »Was macht ihr da alle miteinander?«

»Verhandlungen auf höchster Ebene«, informierte Mrs. Murphy sie.

»Manchmal seid ihr so süß.« Lächelnd ging Harry weiter.

»Puh«, seufzte Tucker.»Sie hätte den ganzen Deal versauen kön­nen.«

»Ja, das hätte uns gerade noch gefehlt, daß jemand von ihnen die­sen Eingang sieht, und wie wir alle untätig herumsitzen wie der Ochs vorm Scheunentor.« Rodger verlagerte das Gewicht von einer Seite auf die andere.

Sie hörten einen Chor von dünnen Stimmchen.»Angenommen.« Dann ein einsames:»Abgelehnt.«

»Rodger Dodger!« sagte Loulou und steckte den kleinen Kopf aus dem Eingang. Sie war eine muntere und selbstsichere Maus.

»Ja.«

»Wir sind uns fast einig. Wir sind mit euren Bedingungen einver­standen, ein freies Jahr, aber ich muß euch noch um einen persönli­chen Gefallen bitten.«

»Welchen?«

»Kannst du mit Lucy Fur und Eloquenz sprechen, den beiden Kat­zen von Reverend Jones? Die Familie meiner jüngsten Schwester lebt hinter dem Himmelfahrtswandbehang. Lucy Fur und Eloquenz schikanieren sie andauernd. Ich verlange kein Stillhalteabkommen, bloß ein bißchen weniger Schikane, verstehst du?«

»Ich kenne diese Katzen nicht«, erwiderte Rodger wahrheitsgemäß.

»Aber ich«, sagte Mrs. Murphy rasch.»Ich spreche mit ihnen. Du hast mein Wort.«

»Du hast bestimmt Mäuse in deinem Stall«, wagte sich Loulou wei­ter vor.

»Schon, aber ihr seid alle braun, und das sind lauter graue. Ich be­zweifle, daß Verwandte von dir in meinem Revier sind.«

Es folgte eine Pause.»Du hast wahrscheinlich recht, aber sprichst du mit den anderen Stallkatzen?«

Nach einer langen Pause erklärte Murphy sich einverstanden:»Ja. So, und jetzt sagst du uns, was in Orions Box ist und was ihr von den Leuten wißt, die was damit zu tun haben.«

Loulou hüstelte und räusperte sich.»Ich war sehr jung. Mutter leb­te noch, aber ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Im Juli waren es fünf Jahre. Es war heißer als die Hölle. Coty Lamont und ein Typ namens Sargent gruben in der Ecke der Box ein tiefes Loch. Muß zwei Uhr morgens gewesen sein und etwa vier, als sie fertig waren. Die Erde war weich, drum kamen sie gut voran. Wir konnten riechen, wie nervös sie waren. Ihr wißt, dieser scharfe, gräßliche Geruch.« Sie atmete tief ein.»Sie gingen weg, kamen dann mit einer schweren Leinenplane wieder, die von je einem Mann an einem Ende gehalten wurde. Ich konnte nicht sehen, was drin war, aber ich konn­te Blut riechen.«

»Verdammt«, flüsterte Mrs. Murphy.

Loulou lauschte auf ein Quieken, dann sagte sie:»Mom und ich und die älteren Mäuse, die natürlich nicht mehr am Leben sind, sa­henvom Heuboden aus zu. Als sie die Plane anhoben, um sie in das Loch zu senken, ließen sie sie fallen, sie müssen wohl erschöpft ge­wesen sein, und ein Ende faltete sich ein bißchen auseinander. Massenhaft kupferrote Haare quollen heraus. Mutter hat das Gesicht genau gesehen, weil sie auf den Boxenbalken gelaufen ist.«

Alle Tiere hielten den Atem an, als Loulou fortfuhr:»Es war Mary­lou Valiant.«

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