39

Addie fand Mickey unter einem großen Styraxbaum an der Rückseite der Bahn. Verstohlen verglich er die Stoppuhr in seiner Hand mit der Anzeigentafel.

»Bist du auch wütend auf mich?« fragte er.

»Nee.« Sie trat neben ihn.

»Noch circa fünf Minuten«, sagte er.

»Du könntest dieses Rennen gewinnen.«

»Oh, ich könnte jedes Rennen gewinnen.« Er lächelte matt. »Hängt bloß davon ab, auf wen die Götter gerade herablächeln, stimmt's?«

»Ich glaube, es hängt vom Können des Jockeys und vom Mut des Pferdes ab.«

»Das erleichtert die Sache.« Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Weißt du, warum Nigel und Linda bei den Rennen von Montpelier aufeinander eingeprügelt haben? Er wollte es mir nicht sagen, aber ich denke, das könnte es sein, weshalb er tot ist.«

»Nigel hat ein Kilo Kokain von Linda gekauft. Zumindest dachte ich, er hätte es gekauft. Er wollte es verkaufen, um Schulden zu be­zahlen, auch die, die er bei dir hatte, und sich dann ein kleines An­wesen kaufen und anfangen, selbst Pferde zu trainieren. Er sagte, er könnte nicht ewig Jockey bleiben.«

»Hm, aber man kann nicht so mir nichts, dir nichts von Jockey auf Trainer umsatteln.« Mickey verschränkte die Arme. »Glaubst du, er war drogensüchtig?«

»Nein.«

»Hast du das dem Sheriff erzählt?«

»Am Ende ja. Ich sitz ziemlich in der Patsche, weil ich das Kilo in meinem Banksafe deponiert hab.«

»Addie!«

»Na ja, das hab ich ihnen auch erzählt. Sie haben es sichergestellt.«

Mickey kaute auf der Innenseite seiner Lippe. »Was hast du ihnen sonst noch erzählt?«

»Nicht mehr, als ich mußte. Hör zu, bloß weil du ein Glücksspieler bist, heißt das noch lange nicht, daß du jemanden umgebracht hast. Es war nicht genug Geld, um jemanden dafür umzubringen.«

»Und was glaubst du?« »Nie und nimmer.« Sie grinste.

»Ich will dir was sagen, meine Hübsche.« Er hegte fürsorgliche Ge­fühle für Addie, die ihn stark an Marylou erinnerte. »Wir brauchten einen Wahrsager, der uns hilft.«

»Wahrsager hat den Eclipse Award gewonnen. Herrje, wenn wir einen Wahrsager hätten, wäre das Leben vollkommen.«

Er lachte. »Du bist zu jung, um dich an das Pferd zu erinnern.«

Ihre Miene verfinsterte sich einen Moment. »Aber in einer Sache habe ich gelogen.«

»Hm?« Alle seine Sinne waren hellwach.

»Nigel hat das Kokain nicht bezahlt. Er sagte, er würde es bezah­len, sobald er es verkauft hätte. Er hat nur ungefähr ein Viertel der Summe bezahlt. Ich hab Sheriff Shaw erzählt, daß Nigel es bezahlt hätte.« Sie hob hilflos die Hände. »Ich weiß nicht, warum ich gelo­gen habe.«

Er wurde bleich. »Addie!«

»Ich will nicht, daß Linda hinter mir her ist.« Sie wurde rot im Ge­sicht. »Wenn Linda denkt, daß ich sie verpfiffen hab, he, dann.« Sie brauchte den Gedanken nicht zu Ende zu führen.

Mickey rollte die Schultern vor und zurück. Das tat er immer, um seine Muskeln zu entspannen. »Sie steckt bis obenhin in der Scheiße. Mein Gott, sie wissen, daß sie das Zeug verkauft. Sie ist eine Ver­dächtige, mit oder ohne deine Hilfe.«

»Verkaufen ist nicht töten. Kommst du zu meiner Geburtstagspar­ty?« Sie verfiel in Gleichschritt mit ihm.

»Nein.«

»Ich spreche mit Chark.«

»Tu das nicht. Laß es auf sich beruhen, Adelia. Ich wäre bloß ein Spielverderber.«

»Ach bitte, komm doch. Du würdest mir eine Freude machen.« Sie seufzte. »Wäre eine noch größere Freude, wenn Nigel noch bei uns wäre.«

Er klopfte sie auf den Rücken. »Ob du's glaubst oder nicht, mein Herz, ich weiß, wie dir zumute ist. Es vergeht kein Tag, an dem ich deine Mutter nicht vermisse.« Er machte eine Pause, räusperte sich. »Addie, du bist nicht die einzige, die dem Sheriff Informationen vorenthalten hat.« Er griff in seine Tasche und legte Adelia das schöne Christopherusmedaillon in die Hand.

Sie starrte darauf, blinzelte, dann strömten ihr die Tränen über die Wangen. Sie hielt das Medaillon an ihre Lippen und küßte es. »O nein. O nein.« Sie wußte, daß ihre Mutter tot sein mußte, doch das Medaillon brachte ihr die ganze Wucht ihres Verlustes wieder zu Bewußtsein; ihr blieb nicht ein Fünkchen Hoffnung.

»Woher hast du das?« flüsterte sie.

Mickey, der ebenfalls weinte, sagte: »Aus Nigel Danforth' Daunen­jacke.« Er schilderte ihr den ganzen Ablauf der Ereignisse. »Dies wird uns zu dem Mörder führen. Ich spüre es in meinem Innern, daß es nicht Nigel war. Aber wie ist er an das Medaillon gekommen?«

»Mickey, gib es mir.«

»Nachdem wir die Ratte aufgescheucht haben.«

»Nein, gib es mir jetzt. Ich will es tragen, wie Mom es getragen hat.«

»Addie, das ist zu gefährlich.«

»Bitte. Du kannst in meiner Nähe bleiben. Ich will Moms Medail­lon, und ich will, daß es alle sehen.«

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