50

»Wissen Sie auch, was Sie tun?« Miranda ging auf und ab, ihre le­derbesohlten Schuhe glitten über die abgenutzten Bodendielen des Postamts.

Die alte Bahnhofsuhr an der Wand zeigte zwanzig nach sieben. Dunkelheit hatte das kleine Gebäude eingehüllt. Die Jalousien waren heruntergelassen, und nur ein Lichtschimmer vom Hinterzimmer stahl sich aus dem rückwärtigen Fenster nach draußen. Der Haupt­eingang, der unverschlossen blieb, ging hin und wieder auf und zu, wenn die Bewohner von Crozet auf dem Heimweg von der Arbeit oder unterwegs zu einer Party hereinhuschten und ihre Post abholten, sofern sie tagsüber nicht dazu gekommen waren.

Als öffentliche Einrichtung mußte bei einem Postamt der vordere Teil des Gebäudes, wo sich die Schließfächer befanden, für die Öf­fentlichkeit zugänglich bleiben. Der Hintereingang wurde abge­schlossen, und über dem Schalter wurde eine Tür mit zinnenartigen Ornamenten heruntergelassen, ähnlich einem Garagentor, und von hinten verschlossen.

»Ich komme ein bißchen später zu Ihrer Vorstellung«, sagte Harry.

»Sie sollten nicht allein hierbleiben, wenn ein Mörder frei herum­läuft.«

»Sie hat recht«, tönten Mrs. Murphy, Tucker und Pewter.

Pewter, die das Licht gesehen hatte, war von nebenan hereinge­schlendert gekommen.»Market hat bis elf auf, aber es könnte sich trotzdem jemand hier reinschleichen, ohne daß er's mitkriegt. Er klebt doch immer an der Mattscheibe.«

»Harry, kommen Sie. Sie können das morgen machen.«

»Geht nicht. Ich habe nun mal diese Ahnung.«

»Wenn Sie nicht bis zur Pause bei unserem Chorfestival sind, rufe ich Rick Shaw an. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja.«

Widerstrebend machte Mrs. Hogendobber die Tür zu, und Harry schloß hinter ihr ab.

Im Postamt zu arbeiten hieß, daß sie jeden Katalog unter der Sonne zu sehen bekam. Sie kannte drei Jagdkataloge, fünf Waffenkataloge, die auch Messer führten, und einen Spezialkatalog für Jungs, die sich gerne als Söldner sähen. Wenn die Polizei die Messer nicht aufge­spürt hatte, die der Mörder benutzte, konnte es durchaus daran lie­gen, daß sie sich auf Geschäfte im näheren Umkreis beschränkt hatte.

Harry fing an zu telefonieren. Da sämtliche Versandfirmen über gebührenfreie Telefonnummern einen Service rund um die Uhr anbo­ten, wußte sie, daß sie jemanden ans andere Ende der Leitung be­kommen würde.

Eine Stunde später hatte sie Case-XX-Jagdmesser für über 200 Dollar, Nachbildungen von Säbeln, zweischneidigen Schwertern und Sarazenerdolchen gefunden und sogar Stilette, aber nicht die Sorte, die sie suchte. Sie hatte mit schwarz arbeitenden Collegestudenten gesprochen, mit barschen alten Männern, die über die relativen Vor­züge von regierungseigenen Bayonetten diskutieren wollten, und schließlich mit einem unverfrorenen Zeitgenossen, der es auf ein Fern-Rendezvous abgesehen hatte.

Die beiden Katzen hatten sich in den Postkarren gekuschelt, weil sie ihr bei dieser Arbeit nicht helfen konnten. Tucker war eingeschla­fen.

Nachdem sie ihren Vorrat an Katalogen erschöpft hatte, war Harry mit ihrem Latein am Ende. Ihr fiel nichts ein, was sie noch tun konn­te. Sie hatte sogar einen Uniformhersteller angerufen, in der abwegi­gen Hoffnung, daß jemand dort ein Schneidewarenenthusiast war, wie sie es nannte.

»Ruf bei L.L. Bean an. Sie wissen alles«, rief Mrs. Murphy vom Boden des Postkarrens.

Harry machte sich eine Tasse Tee. Sie sah auf die Uhr. »Wenn ich nicht in zwanzig Minuten in der Kirche zum Heiligen Licht bin, macht Mrs. Hogendobber Hackfleisch aus mir.«

»Ich hab dir doch gesagt, ruf bei L.L. Bean an.«

Harry setzte sich hin und trank ihren Tee. Sie fühlte sich jetzt wa­cher. Sie hatte ihren eigenen L.L.-Bean-Katalog neben der Zucker­schale liegen.

»Tucker, hat sie's schon kapiert?«

»Nein.« Der Hund hob den Kopf.»Vergiß es.«

»Manchmal bringen mich die Menschen auf die Palme!« klagte die geschmeidige Katze und sprang aus dem Postbehälter.

»Wozu machst du dir die Mühe?« Pewter streckte sich auf dem Bo­den des Karrens aus.»Sie wollte nichts von Lindas Leiche hören. Jetzt wird sie auch nicht zuhören.«

Mrs. Murphy sprang auf den Tisch, rieb sich an Harrys Schulter, dann streckte sie die Krallen aus und zog den L.L.-Bean-Katalog zu Harry hin.

»Murph!« Harry legte die Hand auf den Katalog, aus Angst, die Katze würde ihn zerfetzen. »Hmm.« Sie überflog die Seiten, voll mit Waren, die so präzise wie möglich abgelichtet waren.

Sie stürzte einen Schluck heißen Tee herunter, sprang auf und wählte die gebührenfreie Nummer.

»Kann ich bitte Ihren Vorgesetzten sprechen?«

»Sicher.« Die Frauenstimme am anderen Ende war freundlich.

Harry wartete einige Augenblicke und hörte dann: »Hallo, L.L. Bean, womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ma'am, verzeihen Sie die Störung. Meine Frage hat nichts mit L. L. Bean zu tun, aber kennen Sie ein Versandhaus, das auf Messer spezialisiert ist?«

»Lassen Sie mich kurz überlegen«, sagte die Stimme einer Frau mittleren Alters. »Joe, wie heißt die Firma in Tennessee, die auf Jagdmesser spezialisiert ist?« Im Hintergrund war eine schwache Stimme zu hören. »Smoky Mountain Messerwerke in Sieverville, Tennessee.«

»Vielen Dank.« Harry notierte die Information. »Sie haben mir sehr geholfen. Dürfte ich einen Vorschlag zu Ihren Stallstiefeln machen? Ich meine die hohen Gummistiefel, ich sag immer Stallstiefel dazu.«

»Natürlich. Wir hören immer gerne von unseren Kunden.«

»Also, die Bean-Stiefel, die Sie seit 1912 herstellen, ich liebe diese Stiefel. Ich habe meine zweimal neu besohlen lassen.«

»Das freut mich zu hören.«

»Aber Damengrößen haben keinen dreißig Zentimeter hohen Schaft. Unsere haben bloß gut zwanzig Zentimeter, und ich arbeite auf einer Farm. Ich hätte liebend gern einen Dreißig-Zentimeter- Schaft.«

»Wie ist Ihre Schuhgröße?«

»Einundvierzig.«

»Dann sollten Sie diesen Stiefel in einundvierzigeinhalb tragen - ein bißchen größer für dicke Socken.«

»Ja, danke für diesen Tip.«

»Hören Sie, können Sie mich morgen wieder anrufen, und ich wer­de sehen, was wir tun können? Der Verkauf geht rund um die Uhr, aber ich muß bis zur regulären Geschäftszeit warten, um zu sehen, ob ich Ihrer Bitte entsprechen kann. Wie ist Ihr Name?«

»Mary Minor Haristeen.«

»Also gut, Miss Haristeen, Sie können mich morgen nachmittag anrufen. Fragen Sie nach Glenda Carpenter.«

»Danke, mach ich.«

Harry drückte auf die Gabel und suchte die Telefonnummer der Firma in Sieverville heraus. Hastig wählte sie die Nummer.

Ein Mann meldete sich: »Smoky Mountain.«

»Sir, hallo, hier spricht Mary Minor Haristeen vom Postamt Crozet in Mittel Virginia. Ich versuche, Bestellungen von unseren Kunden nachzuspüren. Einer sagt, er hat sich die Messer zu meinem Postamt schicken lassen, und ich schwöre, sie müssen ans Hauptpostamt in Charlottesville gegangen sein. Das ist sicher nicht Ihr Fehler - so was kommt eben vor.«

»Na, so was - das könnten eine Menge Bestellungen sein.«

»Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Es müßten entweder Nachbestel­lungen oder eine größere Bestellung für dieses schöne Stilett sein, oh, jetzt habe ich den Namen vergessen, aber der Griff ist mit Draht umwickelt, und es ist ungefähr dreißig Zentimeter lang.«

Die Stimme war von Stolz erfüllt. »Sie meinen das Gil Hibben Sil­ver Shadow. Das ist ein tolles Stück Stahl, Schwester.«

»Ja, ja, das stimmt.« Harry bemühte sich, nicht zu schaudern, da sie wußte, welcher Bestimmung es zugeführt worden war.

»Warten Sie, ich ruf die Bestellung im Computer auf.« Er summte. »Ja, hier habe ich eine nach Charlottesville. Drei Messer. Bestellt für Albemarle Cutlery. Feiner Laden, hm?«

»Ja. Sagen Sie, steht auch ein Personenname dabei?« Harry sagte ihm nicht, daß es kein Geschäft namens Albemarle Cutlery gab. Der Name mußte eine Finte sein.

»Nein. Nur das Geschäft und eine Kreditkarte. Die Nummer darf ich natürlich nicht weitergeben.«

»Nein, nein, das versteht sich, aber jetzt weiß ich wenigstens, wo­hin die Sendung gegangen ist.«

»Ist vor zwei Monaten rausgegangen. Ist nicht zurückgeschickt worden. Ich hoffe, alles ist okay.«

»Sicher. Sie haben mir sehr geholfen.«

Sie verabschiedete sich und rief dann beim Zentralpostamt an der Seminole Road an.

»Carl?« Sie kannte die Stimme, die sich meldete.

»Harry, wie geht's denn so?«

»Es wird immer schlimmer. Von heute an bis zum 25. Dezember brauchen wir an Schlaf gar nicht mehr zu denken. Würdest du mir einen Gefallen tun?«

»Klar.«

»Hast du ein großes Postfach, auf Albemarle Cutlery registriert?«

»Moment.« Er legte den Hörer hin.

Harry hörte seine Schritte, als er wegging, dann Stille. Schließlich kehrten die Schritte zurück. »Albemarle Cutlery. C. deBergerac.«

»Verdammt!«

»Was?«

»Verzeihung, Carl, du warst nicht gemeint. Das ist ein falscher Name. Cyrano deBergerac war ein berühmter Fechter im siebzehnten Jahrhundert. Held einer berühmten Romanze.«

»Steve Martin, ich weiß «, erwiderte Carl unverzagt.

»Nun ja, so kann man sich's auch merken.« Harry lachte und fragte sich, was Edmond Rostand, der Verfasser des Stückes, wohl zu Steve Martin als Verkörperung seines Helden gesagt hätte. »Hör zu, wür­dest du mir seine Unterschrift von der Empfangsbestätigung schicken?«

»Ja, sicher. Hast du was Bestimmtes vor?«

»Hm - ja.«

»Okay, ich halt den Mund. Ich such die Unterlagen raus und faxe sie sofort rüber. Gut so?«

»Mehr als gut. Danke.«

»Mutter, beruhige dich«, sagte Mrs. Murphy.»Das Fax wird in ei­ner Minute hier sein.«

Harry erstarrte, als sie das Summen und Pfeifen des Faxgerätes hör­te. Mit zitternden Händen zog sie das Papier heraus. Mrs. Murphy sprang auf ihre Schultern.

»Das darf doch nicht wahr sein!« Harrys Hände zitterten noch hef­tiger, als sie die nach links geneigte, kühne Schrift sah.

»Nun, wer ist es?« rief Pewter aus dem Postbehälter.

»Weiß ich nicht«, rief Murphy zurück.»Ich sehe die Handschrift von Menschen nicht wie Mutter. Ich meine, ich kenne die von Mom, Fair, Mim und Mrs. Hogendobber, aber die hier kenn ich nicht.«

Tucker rappelte sich auf die Beine.»Mutter, ruf Rick Shaw an. Bit­te!«

Doch Harry, ganz durcheinander von dem, was sie seit eben wußte, konnte nicht mehr richtig denken. Erschüttert faltete sie das Papier zusammen und steckte es in die Gesäßtasche ihrer Jeans.

»Kommt, ihr Bande, wir müssen in der Kirche sein, bevor Mrs. Hogendobber einen Tobsuchtsanfall kriegt.«

»Mach dir keine Sorgen wegen Mrs. Hogendobber«, riet Pewter weise.»Ruf den Sheriff an.«

»Alle werden beim Chorfestival sein, also wird sie ihn dort sehen«, fügte Tucker hinzu.

»Das ist es ja, wovor ich Angst habe.« Mrs. Murphy sträubte ihr Fell und sprang auf Harrys Schulter.

»Was soll das heißen?« fragte Pewter, als sie aus dem Postbehälter kroch. Sie war zu träge zum Springen.

»Alle werden dort sein - auch der Mörder.«

Загрузка...