Nun fordert James uns auf, in sein Haus zu kommen, damit er seine Familie vorstellen kann. Seine Frau habe Chai, den traditionellen, sehr süßen Tee mit Ziegenmilch, vorbereitet. Von Mamas Manyatta sind es nur etwa zwanzig Schritte bis zum Eingang seines bescheidenen Hauses. Davor tummeln sich einige Kinder, die gespannt jeden unserer Schritte verfolgen. Im Eingang erscheint eine hübsche, mollige, junge Frau. James stellt sie als seine Frau, Mama Saruni, vor. Saruni, ein dreijähriges, sehr quirliges Mädchen, ist ihre erstgeborene Tochter.
Eheleute sprechen sich bei den Samburu nie mit dem Vornamen an. Geschieht dies einmal aus Versehen, muss der Sünder dem anderen eine Ziege schenken. Vornamen gelten als etwas sehr Persönliches. Wenn ein Paar noch keine Kinder hat, nennen sie sich „mparatut“ — Ehefrau und „lepayian“ — Ehemann. Sobald ein Kind da ist, wird man von der Gemeinschaft mit Mama oder Papa und dem Namen des Kindes gerufen. Nur wenn jemand nicht anwesend ist, darf man seinen Namen aussprechen. Fremden gegenüber redet man nur über Familiennamen und von wessen Vater und Mutter man abstammt.
Diese seltsame Sitte der Namensnennung bringt mich nun in eine gewisse Verlegenheit, denn ich weiß nicht so recht, wie ich Lketinga anreden soll. Früher nannte ich ihn immer „Darling“, was heute fehl am Platz wäre. Auch
„lepayian“, Ehemann, möchte ich ihn nicht nennen, denn wir sind ja geschieden und ich will keine falschen Erwartungen provozieren. „Papa Napirai“ wäre vielleicht eine Möglichkeit, doch will mir dies kaum über die Lippen. Es wird nicht einfach sein, über zwei, drei Meter Entfernung eine Unterhaltung mit ihm zu beginnen.
Wohl oder übel werden wir immer zueinander hinlaufen, uns anschauen oder uns gegenseitig am Ärmel zupfen müssen, um Aufmerksamkeit zu erlangen und miteinander reden zu können.
James' Frau finde ich auf Anhieb sehr sympathisch. Auf den ersten Blick würde ich sie nicht für eine Samburu halten. Wie James hat sie eine Schule besucht. Sie trägt keinen traditionellen Halsschmuck, sondern eine modische feine Kette aus schwarzen und goldenen Perlen und ihr Haar ist nicht rasiert, wie das bei den Frauen hier üblich ist, sondern auf eine freche, raffinierte Art mit einem Kopftuch geschmückt. Sie ist modern gekleidet mit einem Strick-Twinset und einem dunkelroten Rock. James und sie heben sich vom Rest der Familie ab, als lebten sie in einem anderen Zeitalter. Auf einem Arm trägt sie ihr jüngstes Baby, während sie uns mit der freien Hand begrüßt. Trotz ihres modernen Aussehens wirkt sie schüchtern, denn sie spricht leise und schaut uns nur einen kurzen Moment an.
Wir betreten das Wohnzimmer, einen geräumigen, mit schlichten Holztischen, Stühlen und Hockern eingerichteten Raum. Die Wände sind mit unterschiedlichsten Dingen dekoriert. Neben zwei Hochzeitsbildern, auf denen James wie ein traditioneller Krieger geschmückt zu sehen ist, hängt ein Bild von ihm, das ihn mit dunklem Anzug und Krawatte zeigt. Was für Gegensätze! Ein Foto von einigen kenianischen Ministern, ein riesiges Poster der brasilianischen Fußballmannschaft und ein an einen Nagel gesteckter Teddybär neben einem christlichen Kreuz an der Wand bilden Kontraste, die mich innerlich schmunzeln lassen. Mit mitteleuropäischen Augen betrachtet, wirkt alles sehr spärlich und teilweise komisch. Wenn ich mich allerdings an unser Leben in der Manyatta erinnere, kommt mir dieser Raum nahezu feudal vor.
Ich setze mich auf einen der Schemel und Lketinga lässt sich an der anderen Seite des Tisches nieder. Er schlägt seine langen Beine übereinander und umfasst mit seinen schlanken Händen den dünnen Stock, ohne den er nirgendwo hingeht. Er ist wohl eine Art Speerersatz. Seine ganze Art wirkt würdevoll und irgendwie auch feminin. Ich bin sehr froh, ihn in so guter Verfassung zu sehen, denn schließlich ist und bleibt er der Vater meiner Tochter, und sie soll stolz auf ihn sein. Er schaut mich unentwegt an.
Mein Blick schweift durch das Zimmer, während James' Frau Teetassen aus Emaille und Thermoskannen auf den Tisch stellt. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Thermoskannen! Auf diese Weise können sie den zubereiteten Tee lange warm halten. In diesem Fall erweist sich Plastik als wirklicher Fortschritt! Feuerholz ist rar, und wenn ein Feuer schon mal brennt, können sie den Tee gleich für den ganzen Tag aufbrühen, ohne nochmals Holz zu verschwenden.
Während ich mich mit Lketinga unterhalte, führt James mit Albert, Klaus und unseren staunenden Fahrern ein Gespräch. Neben Lketinga kauert sein älterer Bruder an der Wand und hört dem ungewohnten englischen Wortschwall zu. Ich bitte Lketinga, ihm zu übersetzen, dass ich Saguna so gerne sehen und ihr persönlich mein Geschenk überreichen würde. Papa Saguna erklärt, dass seine Tochter täglich mit den Kühen unterwegs ist. Er werde aber morgen nach Hause zurückkehren und sie beim Hüten der Kühe ablösen, damit Saguna übermorgen hierher kommen kann. Ich freue mich sehr, das kleine Mädchen von damals wiederzusehen. Mit Mama und mir wohnte sie in derselben Manyatta. Am Anfang hatte sie Angst vor meinem weißen Gesicht. Später dagegen wurde sie jedes Mal vor Sehnsucht krank, wenn ich für ein paar Tage wegen einer Einkaufstour unterwegs war und aß erst wieder, wenn ich zurückkam. Wenn ich zum Fluss ging, um Wasser zu schöpfen oder Kleider zu waschen, nahm ich sie manchmal mit. Dann badete sie in einer Pfütze und quietschte vor Vergnügen. Einmal brachte ich ihr aus der Schweiz eine braune Puppe mit, die anfänglich bei den Dorfbewohnern beinahe einen Aufstand verursachte, da sie dachten, es handle sich um ein totes Baby. Nun bin ich sehr gespannt, wie Saguna heute aussieht und ob sie sich noch an mich erinnern kann.
Bei meiner ersten Kenia-Reise 1986
Der geschmückte Samburu-Krieger Lketinga 19S7
der Ferne das gewachsene Barsaloi
Flussbett bei unserer ehemaligen Wasserstelle
Ich schlürfe den heißen süßen Tee und fühle, wie ich langsam ruhiger werde. Dieser Tee löst in mir ein Heimatgefühl aus. Klaus findet ihn scheußlich und auch Albert zieht eine Wasserflasche aus dem Auto vor, während er mir wie der beste Champagner vorkommt. Häufig war dieses Getränk über Tage hinweg das einzige Nahrungsmittel, das uns zur Verfügung stand.
Draußen vor dem Eingang sitzen zwei jüngere Mädchen am Boden und ich frage Lketinga nach Napirais Halbschwester. Er dreht sich um und spricht zu den zwei Kindern. Eine der beiden kommt schüchtern in den Raum. Sofort erkenne ich eine gewisse Ähnlichkeit mit meiner Tochter, vor allem um die Augen- und Stirnpartie. Lächelnd winke ich ihr zu, doch sie wagt sich nicht bis zu mir. Lketinga spricht in einem energischen Ton mit ihr und nun gibt sich das scheue Mädchen einen Ruck und begrüßt mich, ohne aufzublicken. Napirai war und ist bis heute auch eher ein scheues Kind. Ob das wohl an den Genen liegt? Shankayon hat die markante Nase ihres Vaters, während Napirai eindeutig die eher runde Nase ihrer afrikanischen Großmutter geerbt hat.
Lketinga erklärt, dass seine Tochter zur Schule geht und macht dabei eine leicht abschätzige Handbewegung.
Schule hat für ihn nichts mit dem richtigen Leben zu tun, und deshalb finde ich es bemerkenswert, dass er dennoch seinem bisher einzigen Kind hier in Afrika diese Möglichkeit bietet. Nach wie vor bestimmt nämlich der Vater, ob ein Kind zur Schule gehen darf, obwohl unter der neuen Regierung die Schulpflicht eingeführt wurde. Die hübsche Shankayon ist mit acht Jahren für ihr Alter sehr groß. Neben ihr hüpft die dreijährige Saruni vorbei und bestaunt uns unverhohlen und neugierig.
Ihr Vater James erzählt stolz, dass außer dem älteren Bruder die gesamte Familie hier im Kral zusammenlebt.
Selbst Mama sei von der anderen Seite des Dorfes, wo wir früher gelebt hatten, herübergekommen, um näher bei ihnen zu sein.
Überhaupt gebe es auf dem Hügel keine Manyattas mehr, sondern alle seien ins Dorf gezogen. Verwundert frage ich nach dem Grund. Da antwortet James lachend: „Du siehst doch, wie sich Barsaloi vergrößert und verändert hat. Heute haben wir hier im Dorf eine Wasserstelle, wo immer sauberes Trinkwasser aus einem Rohr fließt.
Niemand geht mehr den weiten Weg, um Wasser am Fluss zu holen.“
Ich kann nur immer wieder staunen, wie viel sich in den vierzehn Jahren getan hat. James deutet auf den Hof und zeigt uns ein kleines Gebäude aus Wellblech. „Das ist unser Bad und unsere Toilette“, erklärt er voller Stolz.
Wie ich später feststellen kann, ist die Toilette ein einfaches Stehklo und das Bad ist ein kahler Raum, in dem ein rotes Plastikwaschbecken am Boden steht. So einfach diese „Nasszelle“ auch ist, bin ich froh, nicht mehr im Busch verschwinden und anschließend noch das gebrauchte Toilettenpapier verbrennen zu müssen. Zwischen einer Akazie und dem Toilettenhäuschen hängt Wäsche zum Trocknen an einer Leine. Ja, von diesem Kral geht etwas Friedliches aus. James hat wirklich alles gut organisiert.
Lketinga unterbricht meine Gedanken, indem er fragt: „Weißt du, wie viele Shops jetzt hier sind?“ Ich schüttle den Kopf und schaue ihn erwartungsvoll an. „Vierzehn Shops, drei Metzgereien und eine Bierbar gibt es heute in Barsaloi, verrückt, oder?“ Das ist allerdings eine große Überraschung. War ich doch vor siebzehn Jahren die Erste, die einen vernünftigen Lebensmittelladen auf die Beine gestellt hatte. Wenn wir ausverkauft waren, gab es in ganz Barsaloi und Umgebung keine Möglichkeit, etwas zu erwerben. Zu hören, dass es heute immer genügend Lebensmittel gibt, freut mich sehr. Alles, was ich in der kurzen Zeit unseres Hierseins gesehen und gehört habe, vermittelt den Eindruck, dass das zwar nach wie vor karge und harte Leben wesentlich leichter geworden ist.
Sicherlich geht es auch meiner afrikanischen Familie durch die finanzielle Unterstützung unsererseits über all die Jahre hinweg um einiges besser als vielen anderen.
Als ob Lketinga meine Gedanken erraten hätte, schaut er mich an und sagt: „Really, das Leben ist jetzt viel besser. Vielleicht willst du ja wieder hier bleiben?“ Dabei lacht er und seine weißen Zähne blitzen. Etwas verlegen und doch schelmisch entgegne ich: „Du hast doch schon wieder eine junge Frau geheiratet. Wo ist sie denn?“ Sofort wird er ernst, macht eine unwillige Armbewegung und antwortet knapp: „I don't know — somewhere!“ Offensichtlich möchte er nicht über sie sprechen und deshalb wechsle ich das Thema.
Im Türrahmen lässt sich ab und zu der kleine zweijährige Sohn von James blicken. Zu Ehren meines Verlegers wurde er auf den Namen Albert getauft. Die Namensgleichheit jedoch scheint wenig Eindruck auf ihn zu machen, denn sobald ihn ein weißes Gesicht anschaut, weint er los oder rennt davon. Seine Schwester Saruni dagegen ist viel zutraulicher. In Etappen schleicht sie langsam auf mich zu. Sie ist so niedlich, dass ich sie am liebsten sofort auf den Arm nehmen möchte. Sie erinnert mich sehr an Saguna.
Stefania — mittlerweile haben wir erfahren, dass James' Frau so heißt — steht in dem schmalen Raum neben dem Eingang, der als Kochstelle dient. Unaufgefordert spricht sie nichts. In der „Küche“ befindet sich lediglich eine Feuerstelle, allerdings nicht am Boden wie normalerweise üblich, sondern etwas erhöht, so dass sie im Stehen kochen kann. Rund um die zementierte Kochstelle ist eine kleine Ablagefläche, links an der Wand hängen einige Töpfe, Tassen und Teller. Das Wasser steht in einem 20-Liter-Kanister am Boden.
James fragt, ob wir Hunger haben, doch Lketinga protestiert sofort energisch: „No, ihr müsst nachher eine Ziege essen. Ich schlachte die beste und größte für euch.“ Albert bemerkt, das müsse wirklich nicht sein, und verzieht als ehemaliger Vegetarier und Tierliebhaber sein Gesicht. Aber James erwidert bestimmt: „Doch, das muss sehr wohl sein. Was sollen denn die Leute denken, wenn wir zu deiner Rückkehr nicht die allerbeste Ziege schlachten!“ Beim Anblick der leicht betretenen Gesichter von Albert und Klaus muss Lketinga lauthals lachen.
Bis die Herde jedoch am Abend zurückkommt, wird es noch etwa zwei Stunden dauern. Diese Zeit sollten wir nutzen, um unsere Schlafplätze zu erkunden, bevor die jähe Dunkelheit hereinbricht.