Die Mission in Sererit

Langsam schleichen die Wagen einen kurvenreichen Pfad bergauf, bis wir nach einer letzten Kurve vor seiner Mission stehen. Nach Mission sieht es hier allerdings nicht aus. Ich habe eher den Eindruck, dass wir uns zwischen einer Ansammlung von überdimensionierten Konservendosen befinden. Alles außer der „Kirche“, die die kleine aus ein paar Hütten bestehende Ansiedlung dominiert, ist hier aus Wellblech erstellt. Sogar sein Motorrad, das er früher schon besaß, steht unter einer Wellblechhaube. Unsere Wagen sind fast so hoch wie diese Hüttchen. Jetzt verstehe ich, warum wir nur mit einem Fahrzeug hierher kommen sollten. Es gibt einfach keinen Platz dafür. Doch Giuliani wäre nicht Giuliani, wenn er dieses Problem nicht schnell lösen könnte. Einer der Wagen muss über seiner „Werkstattgrube“ parken. Sie besteht aus einem ausgehobenen Graben, neben dem er auf beiden Seiten kleine Rampen aus Beton errichtet hat. Der zweite Wagen parkt schräg am Hang. Unsere Dachzelte sind also nicht benutzbar.

Wir schauen uns die Mission an, und nicht nur wir drei europäischen Besucher, sondern auch unsere afrikanischen Fahrer fragen sich staunend, wie man hier leben kann. Der Pater, darauf angesprochen, erwidert lachend: „Ich gehe dahin, wo Samburu leben und wo es Wasser gibt. Das sind meine Auswahlkriterien, mehr brauche ich nicht. Von allen Plätzen, die ich in all den Jahren hier in Kenia kennen gelernt habe, ist das der schönste Flecken mit dem besten Wasser.“ Ein stolzes Strahlen unterstreicht seine Worte.

Nun beginnt das Entladen seines Wagens. Als zwei riesige Fässer gefüllt mit Diesel unter der Wagenplane auftauchen, frage ich mich, wie er die wohl von der Ladefläche bringen wird. Doch auch das ist für ihn kein Problem, da er speziell dafür eine Hebevorrichtung gebastelt hat und ihm einige Samburu helfen. Anschließend werden noch zahlreiche Schachteln Fett für die Bevölkerung aus der Umgebung in einer Art Schuppen verstaut.

Ich schaue dem Spektakel zu und stelle fest: „Das ist wohl Ihre Vorratskammer?“ Giuliani lacht und erwidert:

„Nein, Corinne, das ist mein Haus. Hier wohne ich und auf diesem Tisch schlafe ich. Abends werfe ich eine Matratze darauf und so liege ich bequem.“ Offensichtlich sieht er mir mein Staunen an und beteuert heiter:

„Mehr brauche ich nicht.“ Während er erzählt, gesellt sich ein zweiter italienischer Pater zu uns. Der 77-Jährige lebt hier mit Giuliani und macht einen ausgesprochen rüstigen Eindruck.

Später besichtigen wir den Mittelpunkt der Mission — die originellste „Kirche“, die ich je gesehen habe. Sie gleicht einer überdimensionalen Manyatta. Das Dach und die Seitenwände des runden Gebäudes sind mit blauen, gelben und grünen Plastikbahnen abgedeckt, zwischen denen einige Strohgeflechte hervorschauen. Die Fronttore bestehen aus Wellblech, die man mit Stützposten nach oben öffnen kann. Im Inneren des runden Zeltes befinden sich etwa vierzig Zentimeter über dem Boden auf Holzpflöcke genagelte Bretter, die als Sitzbänke dienen. Sichtlich stolz auf seinen Bau kündigt Giuliani an, dass wir morgen eine volle Kirche erleben werden.

Nun werden die Schlafplätze verteilt. Ich bekomme ein kleines Wellblechhäuschen für mich allein und Albert und Klaus müssen sich ein anderes teilen. Die Fahrer können ihr Zelt hier in dieser Schräglage leider nicht benützen. Selbst dafür hat Giuliani eine Lösung. Er bietet ihnen an, unter der Plane auf der Ladefläche seines großen Unimogs zu schlafen. Für eine Nacht dürfte das kein Problem sein.

Kaum haben wir unsere Sachen verstaut, bietet er uns auf einem Tablett einen heißen Espresso an — original italienisch. Anschließend bittet er uns in seine kleine Küche. Auf dem Weg dorthin zeigt er uns seinen Gemüsegarten, um dessen Eingangstor sich ein wunderschöner, rot blühender Strauch rankt. Die verschiedensten Gemüsesorten, unter anderem Tomaten, Auberginen und Salat, hat er hier angepflanzt. Kräuter in allen Variationen wachsen links und rechts des Gartenzaunes. Wir betreten die bescheidene Küche, in der ein hoher Kühlschrank steht. Er wird, wie auch die Beleuchtung in der kleinen Mission, mit Solarstrom betrieben. Gekocht wird mit Gas, das in Flaschen gelagert ist. Auf dem Tisch stehen ein großes Stück italienischer Hartkäse, Salami und Schinken. Wie macht der Mann das nur, all diese Köstlichkeiten hier am Ende der Welt auf den Tisch zu zaubern?

Ständig ist er in Bewegung und nimmt sich kaum Zeit, sich einmal hinzusetzen. Nachdem er hier der Koch ist, wird er uns heute Abend bekochen, einfach, aber gut. „Derart feine Dinge auf dem Tisch gibt es hier natürlich nicht täglich“, gibt er augenzwinkernd zu und schenkt uns dabei Rotwein in die Kaffeetassen. Ja, so ist er, unkompliziert, herzlich und ein Organisationstalent! Er sprüht vor Energie und man fühlt sich bei ihm gut aufgehoben und sicher.

Während des Essens fragt ihn Albert, ob er mein Buch gelesen habe. „Oh ja“, erwidert er lächelnd, „ich habe genau gelesen, was Corinne geschrieben hat. Dass ich ihr die Türe vor der Nase zugeschlagen habe, fand ich besonders interessant!“ Dabei steht er auf und spielt uns die Szene unserer ersten Begegnung, bei der ich eine ziemliche Abfuhr von ihm erhielt, vor, was ein herzliches Gelächter auslöst. Jedenfalls könne er bestätigen, dass das, was er im Buch gelesen habe, den tatsächlichen Geschehnissen, so weit er sie mitbekommen habe, voll entspricht. Er ergänzt, dass aus seiner Sicht die Liebe zu Lketinga nicht von Bestand sein konnte, weil Ehe und Sexualität bei den Samburu ganz anders gelebt werden als in Europa.

Nachdem auch er ausführlich den schlimmen Überfall der Turkana geschildert hat, berichtet er von einer neuerlichen Gefahr für dieses Gebiet, denn die Regierung möchte die Gegend zwischen Barsaloi und Sererit zu einem Wildreservat erklären lassen. Den Einheimischen würde versprochen, durch den Tourismus Arbeitsplätze für sie zu schaffen. Doch was sie verlieren würden, wäre wesentlich schwerwiegender: nämlich die Verfügungsgewalt über ihr Land. Sie könnten dann für ihre Herden nicht mehr genügend Weidegrund finden.

Hier können sie nur überleben, wenn sie das traditionelle Leben als Halbnomaden mit ihren Herden führen, davon ist Giuliani überzeugt.

Er redet sich richtig in Rage bei der Vorstellung, dass man diesen Menschen das Land wegnehmen könnte. Und hier in Sererit wäre das besonders schlimm, da das ganze Jahr über sauberes Trinkwasser von den Bergen fließt.

Anschaulich erklärt er uns alles anhand einer Landkarte.

Trotz der spannenden Erzählungen muss ich mich zwischendurch nach der Toilette erkundigen. Giuliani zeigt auf ein winziges Hüttchen, das aus Plastik und Strohgeflecht besteht. Schon beim Eintreten muss ich mir ein lautes Lachen verkneifen. Auch hier ist die Toilette nur ein Plumpsklo, aber was für eines! Über dem Loch ist eine Holzverkleidung angebracht, an der ein halbierter Baumast links und rechts, schön gebogen, die WC-Brille ersetzt. Natur pur! Daneben ist die Dusche installiert, die nach demselben System funktioniert wie am Filmset. Sogar einen separaten Wasserhahn gibt es, so dass man sich bei fließendem Wasser die Hände waschen kann! Voller Begeisterung verlasse ich diesen Ort, um meinen Begleitern davon vorzuschwärmen. Beim ersten Ton jedoch brechen sie in schallendes Gelächter aus. Als ich sie verwundert anblicke, erfahre ich, dass Giuliani ihnen schon prophezeit hat, dass ich begeistert zurückkommen würde, da er diesen Spezialsitz extra für mich gebaut hat.

Während die Herren vor Giulianis Häuschen weiterscherzen, höre ich Glockengebimmel und sehe hinter dem Gartenzaun einige schwarz-weiße Kühe, die langsam nach Hause traben. Hinter ihnen laufen zwei Krieger und ein Mädchen, die neugierig und stumm zu uns hochschauen. Sicher begegnen sie hier äußerst selten weißem Besuch. Ich möchte mich ein wenig bewegen und mache mich auf den Weg, das kleine Missionsareal zu erkunden. Während des Rundgangs erblicke ich überrascht im Garten einen traditionell gekleideten und geschmückten Krieger. Seinen nackten Oberkörper zieren farbige Perlenschnüre und über dem roten Hüfttuch trägt er ein Buschmesser. Recht seltsam und ungewohnt ist für mich allerdings, dass er in der rechten Hand eine grüne Gießkanne hält, mit der er sorgfältig den Garten wässert. Er schaut nicht auf, sondern konzentriert sich auf seine Arbeit.

Giuliani erklärt später, dass ihm bei der Arbeit häufig Samburu helfen und er sie dafür natürlich auch entlohnt.

Auf diese Weise lernen die Samburu Arbeiten zu verrichten, die sie früher nicht kannten oder deren Sinn sie nicht einsahen. Auch als er die einfache Mission, die Schule und die Straße baute, halfen ihm die Samburu. Er sei hier, um den Menschen in erster Linie das Leben zu erleichtern, sei es durch Aufklärung über Hygiene und Krankheiten oder durch Schulbildung und das Entwickeln von Möglichkeiten, etwas daraus zu machen. So ist er in dieser abgelegenen Region Arbeitgeber, Lehrer, Freund, Ratgeber und Helfer in einer Person.

Während meines kleinen Spaziergangs sehe ich ansonsten kaum einen Menschen und habe den Eindruck, dass hier nahezu niemand wohnt. Aber wie fast überall im Busch taucht plötzlich wie aus dem Nichts ein menschliches Wesen auf, wenn man sich gerade ganz sicher ist, weit und breit allein zu sein. Ich blicke noch eine Weile in die wildromantische Landschaft, bevor ich mich zu Giuliani in die Küche geselle, um ihm beim Anrichten des Abendessens zu helfen. Doch ich darf lediglich seine letzten Tomaten und Zwiebeln für den Salat zerkleinern, alles andere kocht er höchstpersönlich.


Auf einmal ertönt in die Stille hinein italienische Opernmusik. Völlig unvorbereitet trifft mich der klare Klang und ich bekomme trotz der Wärme eine leichte Gänsehaut. Die Musik ist so ungewöhnlich an diesem kargen, entlegenen Ort, dass sie fast überirdisch klingt. Giuliani bemerkt mein Staunen und singt laut und fröhlich mit.

Auch Klaus und Albert werden von den Klängen angelockt und schauen herein. Schnell ist geklärt, dass die Quelle für die verzaubernden Töne ein mit Solarenergie betriebener CD-Spieler ist.

Bald sitzen wir alle vor einem mit Knoblauchspaghetti gefüllten Teller. Dazu gibt es in einem Blechtopf gebratenes Ziegenfleisch, das wunderbar schmeckt. Während des Essens erzählt unser Gastgeber von seinen nächsten Vorhaben. Unter anderem will er, wenn er das nötige Geld beisammen hat, eine etwas größere Kirche bauen, da diese bald nicht mehr ausreicht, wie wir uns morgen bei der Messe überzeugen könnten. Später möchte er eine Piste anlegen, die von hier direkt nach Barsaloi führt, denn in der Regenzeit muss er einen beträchtlichen Umweg fahren, weil der Fluss nicht passierbar ist. Gerade bei Krankheiten oder Unfällen, wenn es gilt, keine Zeit zu verlieren, erweist sich dies als Problem.

Während er seine Pläne ausbreitet, fällt ihm immer wieder eine Geschichte aus meinem Leben mit Lketinga ein, die wir dann gemeinsam und uns gegenseitig ergänzend Albert und Klaus erzählen. Auch der ältere Pater hört aufmerksam zu.

Doch plötzlich steht er auf und vcrlässt die Küche. Er möchte auf keinen Fall seine italienischen Nachrichten verpassen. Wir schauen uns etwas verständnislos an, bis Giuliani erklärt, dass jeden Abend zur gleichen Zeit ein italienischer Sender zu empfangen sei.

Etwas später treten auch wir in die mittlerweile sternenklare Nacht und sehen den Pater auf einem Stuhl sitzen und ein kleines Radiogerät andächtig an sein Ohr drücken. Es ist ein anrührendes Bild. Wir setzen uns auf die freien Srühle und Giuliani zieht ein Eisenbettgestell in unsere Mitte. Ungeniert streckt er sich darauf aus und erklärt einige Sternbilder. Dies sei ihr allabendliches Ritual: Beide säßen hier, sein älterer Kollege höre die Nachrichten und danach würden sie diskutieren oder die Sterne beobachten. Nach acht Uhr gingen sie normalerweise zu Bett.

Während wir Giulianis Erzählungen lauschen, erkenne ich an den gegenüberliegenden Hügeln kleine, flackernde Feuerscheine, die wohl von den Kochstellen der Manyattas stammen. Ab und an dringen, vom Wind hergetragen, Menschenstimmen zu uns. Es ist absolut einsam und friedlich. Giuliani jedoch liegr kaum zehn Minuten ruhig, dann springt er auf, um etwas zu erledigen. Ich nutze die Gelegenheit und lege mich auf das Eisengestell, um die Sterne aus der Waagrechten zu betrachten. Der Mond ist voll und von einem hellen Hof umgeben. Die Sterne hängen so tief, dass man sie pflücken möchte. In diesem Moment fühle ich mich eins mit der Natur und mich ergreift ein richtiges Hochgefühl.

Giuliani kommt zurück und fragt lachend: „Corinne, gefällt dir dieses Bett? Ich habe es selbst gebaut. Wenn du willst, kannst du hier draußen schlafen, ich mache das manchmal auch."

So etwas muss man mir nicht zweimal anbieten — natürlich will ich! Ich hole meine dünne Matratze, den Schlafsack und zwei Decken und richte auf dem Gesrell ein kuscheliges Bett her. Meine Begleiter schauen etwas skeptisch und Klaus fragt:

„Ist das dein Ernst, willst du wirklich draußen schlafen? Du weißt doch nicht, was hier nachts so alles rumkrabbelt!“ „Kein Problem, Klaus, das muss jetzt sein. Eine Nacht hier im Busch unter freiem Himmel ersetzt mir die verpasste Nacht in Mamas Manyarta“, erwidere ich freudig.

Alle besuchen, mit einer Taschenlampe ausgerüstet, noch einmal das „Bad“, bevor jeder seinen Schlafplatz aufsucht. Die Fahrer klettern unter die Plane auf dem Laster und Albert und Klaus verschwinden in ihrer

„Konservendose“. Ich schlüpfe in den leichten Schlafsack, lege die Decken darüber und ziehe die Kapuze meines Trainingsanzugs über den Kopf, da es in der Nacht kalt werden wird. Es ist herrlich und ich könnte jauchzen vor Fteude! Ich habe den Eindruck, am Ende der Welt angekommen zu sein, und fühle mich frei und leicht und winzig Idein im Angesicht des Universums. Auch vermeintliche Probleme erscheinen auf einmal unbedeutend und unwichtig. Unentwegt schaue ich zum Himmel und erkenne immer wieder neue Sternbilder.

Weit oben hinter einem dunklen Hügel erscheint plötzlich ein blinkendes Licht. Bald ist mir klar, dass es sich um ein Flugzeug handelt, das in 10.000 Meter Höhe über mich hinwegfliegt, irgendwohin.

Giuliani hantiert ein letztes Mal in seiner Küche, bis auch dort das Licht ausgeht. Die Fahrer diskutieren noch leise in ihrer Sprache, dann ist es endgültig still. Meine Gedanken kehren nach Barsaloi zu meiner Familie zurück. Ich frage mich, wie wohl morgen das Fest verlaufen wird und wie viele Menschen vorbeikommen werden. Zugleich steht uns dann der Abschied bevor. Doch schnell verdränge ich diesen Gedanken, da er mein momentanes Glücksgefühl merklich dämpft.

Hie und da raschelt es, aber es kümmert mich nicht, denn ich liege einen Meter über dem Boden. Die Luft ist rein und klar. Als mich die Müdigkeit überfällt, bedanke ich mich in einem leisen Gebet für das bis jetzt gelungene Wiedersehen in Barsaloi und Sererit und schlafe ein. Mitten in der Nacht wache ich noch einmal auf.

Meine Nasenspitze ist kalt, die Decken sind vom Bettgestell gerutscht und eine kleine Katze schläft darauf. Erneut niste ich mich ein und das kleine Kätzchen liegt nun schnurrend neben mir. In der Ferne höre ich mehrmals das Brüllen einer Raubkatze.

Entweder ein Löwe oder ein Leopard, überlege ich kurz, bevor ich wieder einschlafe. Am nächsten Morgen erfahre ich von Giuliani, dass es sich um einen der hier noch relativ zahlreich lebenden Leoparden handelte.

Загрузка...