Lketinga

Endlich kann ich aussteigen und habe freie Sicht. Etwa zwanzig Meter von mir entfernt erblicke ich Lketinga unter einer großen Schirmakazie. Lang und stolz steht er mit elegant gekreuzten Beinen in der typischen Massai-Haltung da.

Ich weiß, er wird sich keinen Schritt bewegen. Es gehört sich nicht, dass ein traditioneller Samburu einer Frau entgegenkommt. Also gehe ich unter den neugierigen Blicken der umherstehenden Menschen auf ihn zu. Mein Kopf ist leer. Ich kann nichts mehr denken, sondern höre nur das Pochen meines Herzschlags. Diese wenigen Meter kommen mir unendlich lang und weit vor.


Nach wie vor ist Lketinga sehr groß und schlank. Er stützt den linken Arm in die Hüfte, während er sich mit dem rechten elegant an einen langen Stock lehnt. Über einem roten Hüfttuch und einem gelben T-Shirt trägt er ein großes weißes Schultertuch mit blauen Punkten. Seine Füße stecken wie eh und je in Sandalen aus alten Autoreifen. Neben dem langen Stock hält er noch einen Rungu in der Hand. An der rechten Hüftseite lugt unter dem T-Shirt die rote Lederscheide seines Buschmessers hervor.

Das alles erfassen meine Augen, während ich mich auf ihn zu bewege. Gleichzeitig höre ich, wie er lachend mit seiner leicht rauen, sanften Stimme ruft: „Hey, you are looking big, very big, like an old Mama!“ Diese Begrüßung verscheucht meine Verlegenheit und ich entgegne scherzend: „Auch du siehst aus wie ein alter Mann.“

Bei ihm angekommen, schaue ich in seine Augen und dann geschieht alles irgendwie wie von selbst. Wir liegen uns in den Armen, begrüßen und drücken uns innig und herzlich. Es spielt keine Rolle, dass so etwas hier nicht üblich ist. Es war nicht geplant und gehört einfach wie selbstverständlich dazu. Nach einigen Sekunden löse ich mich von Lketinga und schaue in sein Gesicht. Mit den Augen tasten wir uns gegenseitig ab. Er sieht viel besser aus als noch vor sechs Jahren. Damals traf Albert ihn in Maralal, um das Buch zu überreichen. Die Fotos, die er von dieser Begegnung mitbrachte, haben mich ziemlich erschüttert. Heute hingegen erkenne ich in seinem Gesicht viel von seiner früheren Schönheit. Nach wie vor hat er ein wunderschönes Profil. Seine Gesichtszüge sind fein, die Nase ist nicht groß und die Lippen sind schön und voll. Wenn er lacht, sieht man seine weißen Zähne mit der Zahnlücke blitzen. Die Backenknochen stehen stärker hervor als früher, was die Wangen leicht eingefallen wirken lässt. Auf der hohen Stirn haben sich inzwischen einige Fältchen eingegraben, dagegen ist sein kurzes Kraushaar noch fast schwarz. In den großen, nach Samburu-Sitte gedehnten Löchern seiner Ohrläppchen hängen kleine silbrige Metallringe.

Während wir uns scherzend unterhalten, ergreift er meinen rechten Arm mit der silbernen Armspange, hält ihn hoch und fragt etwas verwundert: „What is this? Warum trägst du nicht mehr die Spange, die ich dir zur Hochzeit gegeben habe? Was ist das hier für ein Armreif und was bedeutet er?“ Etwas überrumpelt antworte ich leicht verlegen, aber lachend: „Du sagst ja selber, dass ich dicker geworden bin. Ich musste unseren Armreif entfernen lassen, denn er war an meinem Arm zu eng.“ Er schüttelt verständnislos den Kopf.

Diese ersten Sekunden haben mich sehr aufgewühlt und ich merke, wie sich langsam meine Augen mit Flüssigkeit füllen. Oh Gott, jetzt nur keine Tränen! Ich wende mich etwas von Lketinga ab, um meine Rührung zu verbergen. Doch Lketinga hat es bereits bemerkt und ergreift erneut meinen Arm:

„Don't cry! Warum weinst du? Das ist nicht gut.“ Ich atme tief durch, beiße mir auf die Lippen und versuche die Kontrolle zu behalten. Jetzt nur keine rollenden Tränen vor all diesen Blicken! Als erwachsene Frau weint man hier nicht. Zur Ablenkung frage ich nach Mama. Lketinga nickt und meint: „Okay, okay, später bringe ich dich zu Mama. Pole, pole — langsam, langsam.“

Erst jetzt bemerke ich etwas abseits Klaus, der alles gefilmt hat. An ihn habe ich gar nicht mehr gedacht!

Allmählich kommt nun auch Albert näher und wird von meinem ExMann mit Handschlag und Lachen freundlich begrüßt. Man sieht Lketinga an, wie stolz er auf seinen Besuch ist. Wie früher bewegt er sich ruhig, graziös und ohne jede Hektik. Die Einzige, die hektisch ist, bin wohl ich. Dennoch bin ich erstaunt, wie problemlos und natürlich, ja fast spielerisch ich mich mit Lketinga unterhalten kann. Es ist, als wären all die Jahre nicht dazwischen gewesen. Wir haben „unsere“ vertraute Sprache, das einfache Englisch durchsetzt mit Massai-Wörtern, sofort wieder aufnehmen können. Auch schwingt in unserer Unterhaltung von Anfang an etwas Neckisches mit und so fragt er mich nun: „Warum hast du deine Haare rot gefärbt wie ein Krieger? Du bist doch jetzt eine old Mama!“ Dabei schüttelt er lachend den Kopf.

Plötzlich werden seine Augen dunkel und zwischen seinen Augenbrauen taucht jene bedrohliche Falte auf, die mir früher immer etwas Unangenehmes ankündigte. Mit ernster Stimme fragt er: „Wo ist mein Kind? Warum ist mein Kind nicht hierher gekommen?“ Mein Herz setzt einen Moment aus, um dann doppelt so schnell weiterzuschlagen. Ich schaue ihm fest in die Augen und erkläre, dass Napirai zur Zeit viel für die Schule arbeiten muss. Bestimmt werde sie aber später einmal, wenn sie alles hinter sich habe, nach Barsaloi kommen. Sein Gesicht entspannt sich, während er mich prüfend ansieht und sagt: „Okay, it's okay. I wait for my child. I really hope that she will come.“

Ich schaue in die Richtung eines langen Gebäudes und erkenne dort Lketingas älteren Bruder, Papa Saguna. Er sitzt mit anderen Männern im Schatten und schaut zu uns herüber. Erfreut winke ich ihm zu, worauf er sich erhebt und auf uns zukommt. Wir begrüßen uns mit einem herzlichen, aber respektvollen Handschlag. Er ist sozusagen das Oberhaupt der Familie, da der Vater nicht mehr lebt und somit sein Wort als Ältester am meisten zählt. Er spricht nur Maa, was den Zugang zu ihm für mich erschwerte. Aber jetzt lächelt er, was mich sehr erleichtert. Früher wusste ich nie, ob er mich mochte oder nicht. In gewisser Weise erschien er mir immer als der Wildeste in der Familie. Wenn er mit seiner rauen Stimme spricht, hört es sich an, als ob er mit jemandem streiten würde. Er hatte uns als Trauzeuge auf unserer Hochzeitsreise nach Mombasa begleitet. Sein kindliches Staunen über das städtische Leben ist mir unvergesslich. In Mombasa erfüllten ihn die vielen halb nackten Touristen und das große Wasser mit Angst. Hier im Busch hingegen ist er sicher der Zäheste der Familie. Dass er hier ist, freut mich besonders. Später erzählt James, dass er trotz Fieber die vier Stunden von seinem Dorf hierher gelaufen ist, um bei meiner Ankunft anwesend zu sein.


Lketinga geht nun auf einen großen gepflegten Kral zu. Er geht uns voraus und ich bin aufs Neue fasziniert, wie dieser Mann sich bewegt. Wir nähern uns einem etwa zehn Meter langen, schmalen, grünen Holzhaus mit Wellblechdach. Es ist das Wohnhaus von James und seiner Familie, wie wir kurz darauf erfahren. Aus allen Richtungen höre ich immer wieder: „Supa, Mama Napirai. Serian a ge? Hallo, Mama Napirai, wie geht es dir?“

Wir durchschreiten das Dornengestrüpp, das unmittelbar neben dem Haus beginnt. Dieses etwa zwei Meter hohe Gestrüpp dient als Umzäunung und Schutz vor wilden Tieren und umgibt das Anwesen der gesamten Familie.

Tagsüber wird nur ein schmaler Eingang freigelegt, der am Abend nach der Rückkehr der Tiere sorgfältig verbarrikadiert wird.

Alle paar Meter schüttle ich Hände und schaue in die verschiedensten Gesichter. Die meisten sind Frauen. Alle strahlen mich an und fragen neben dem üblichen „Supa“, ob ich mich noch an sie erinnere. Einige erkenne ich auf Anhieb, bei anderen weiß ich im Moment wirklich nicht, wie ich sie einordnen soll. Eine sehr alte Frau mit zahlreichen Zahnlücken begrüßt mich strahlend und spuckt auf meine Hände, sozusagen als Segnung. Ihr altes, faltiges Gesicht erkenne ich deutlich. Sie ist die Mutter des Mädchens, das ich damals einige Stunden nach der Beschneidung in der Hütte besucht hatte. Es wohnte in unserer Nachbarschaft, wurde mit zwölf Jahren verheiratet und, wie bei den Samburu üblich, am frühen Morgen der Hochzeit diesem schrecklichen Ritual unterzogen. Gerne würde ich diese Frau nach ihrer Tochter fragen, denn ich kann mich sehr gut an sie erinnern.

Sie war ein sehr fröhliches Kind. Aber vor allem die älteren Menschen verstehen hier nur die Maa-Sprache, die ich, von ein paar Floskeln abgesehen, leider nicht beherrsche. Plötzlich fühle ich mich hilflos, da ich so viel sagen möchte und doch nur stumm dastehen kann. Mit Mama wird es mir ähnlich ergehen.

James schiebt mich weiter. Im Kral befinden sich noch drei größere Wohnmanyattas sowie zwei kleinere, in denen tagsüber die jungen Zicklein gehalten werden, während ihre Mütter unterwegs auf Grassuche sind. Die Neugeborenen hingegen werden sogar in die Wohnmanyatta mitgenommen. Die Wände einer Manyatta bestehen aus dünnen Holzpfählen, die dicht miteinander verbunden sind. An verschiedenen Stellen blättert getrockneter Kuhdung von den Wänden. Das Dach bilden Ziegenhäute, selbst geflochtene Sisalmatten, einige Säcke und Kartonteile. Alles ist irgendwie ineinander geschichtet, um vor Regen zu schützen. Vor der Hütte liegen meist ein zusammengerolltes Kuhfell, aufgeschichtetes Feuerholz und ovale Weidenholzgeflechte, die bei einem fälligen Umzug als Tragrahmen auf den Rücken von Eseln gebunden werden. Dazwischen muss das gesamte Hab und Gut Platz finden.

Rund um die Manyattas picken Hühner im rotbraunen Sandboden. Ich staune über die Hühnerschar, denn bei den Samburu ist es eigentlich absolut unüblich, Federvieh zu halten. Als ich mit dem ersten Huhn ankam, reagierten alle mit heller Aufregung. Niemand wusste, was ich mit diesem für sie unnützen Tier anfangen wollte.

Sie aßen damals weder Hühnerfleisch noch Eier, und Mama sah deshalb nur das Problem, wie sie es vor wilden Tieren schützen könne. Zusätzlich hatte sie die Sorge, dass das Huhn Raubvögel anziehen würde, was für die kleinen Zicklein gefährlich gewesen wäre. Und nun laufen hier mindestens zehn Hühner herum. Als ich James mein Erstaunen mitteile, meint er schmunzelnd: „Du hast uns doch gezeigt, was wir mit diesen Tieren anfangen können! Meine Frau kocht jetzt ab und zu mit Eiern. Was wir nicht essen, verkaufen wir in unserem kleinen Shop den Missionsschwestern.“ Schon wieder eine interessante Neuigkeit! Zu Pater Giulianis Zeit gab es keine Schwestern hier.

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